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Kapitel 2

Um zum Birkenhain zu gelangen, verließ sie den Wald und umrandete auf einem schmalen Feldweg das nördliche Flußwalde. In der Ferne leuchtete im Nebel das orangefarbene Licht der Straßenlampen. Von hier wäre es ein Katzensprung bis nach Hause, wo ein gefüllter Kühlschrank und eine weiche Couch auf sie warteten. Seit Mittag nur trockenes Brötchen und etwas Kartoffelsalat, ihre Kraftreserven waren allmählich verbraucht.

Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und entsperrte das Display. 18:32 Uhr, kein entgangener Anruf, keine Nachricht. Zum wiederholten Mal wählte sie Ilyans Namen aus der Anrufhistorie und hielt sich den Hörer ans Ohr. Die Verbindung wurde hergestellt, das Freizeichen ertönte, nach etwa dreißig Sekunden wurde der Anrufbeantworter eingeschaltet. Keine Chance, sie wusste nicht einmal, ob er sein Handy überhaupt mitgenommen hatte. Sie steckte das Smartphone weg und folgte dem Weg bis hinunter zum Kiessee. Dort wandte sie sich in Richtung Westen, ging das Ufer entlang und betrat erneut den Wald über einen Trampelpfad.

Nach einiger Zeit erreichte sie die Lichtung. Als Kind war sie oft hier gewesen. Mit Ilyan und Rayl. Zusammen hatten sie auf der Holzbank gespielt. Piraten waren sie gewesen, Räuber oder Magier. Die Bank ein Schiff, ein Schloss oder eine Festung. Ihr Vater hatte ihr deshalb Predigten gehalten. »Du kannst nicht mit diesen Jungs spielen, Lois. Du bist ein Mädchen, du solltest ruhiger sein.« Ruhiger war sein Ausdruck für »gehorsam« und »demütig«. Ihm war nie aufgefallen, dass sie zu dritt das loyalste Gespann in Flußwalde gewesen waren. Lois und die beiden Kubiak Brüder. Ilyan das Nesthäkchen. Rayl der Denker. Lois die Entdeckerin. Wie die Zeiten sich änderten und Manches gleich blieb.

Hinter der Bank entdeckte sie den zugewachsenen Pfad. Sie zwängte sich durch das Geäst und beleuchtete den Boden. Zwischen Laub und Moos waren Fußspuren zu sehen, die tiefer in den Birkenhain führten. Füße von durchschnittlicher Größe und wenn sie es richtig sah, das Profil von Sportschuhen besaßen.

Sie würde darauf wetten, dass es Ilyans Spuren waren. Wer sonst würde sich hier rumtreiben? Jugendliche? Vielleicht, aber nicht um die Jahreszeit.

Nach einem Marsch von wenigen Minuten ertönte hinter ihr ein Scharren. Es klang dumpf und hektisch, wie ein Tier, das in der Erde wühlte. Lois hielt den Atem an und lief vorsichtiger, darauf bedacht, kein unnötiges Geräusch zu machen. Doch mit jedem Schritt wurde das Scharren lauter. Das ergab keinen Sinn, denn sie hätte sich davon entfernen müssen. Sie lief schneller, doch egal wie weit sie lief, es kam immer näher. Ein schweres Schnaufen gesellte sich dazu, das nur von einem Keiler stammen konnte. Vor ihrem geistigen Auge tauchten seine spitzen Hauer auf, die haarige Nase, der wilde Blick.

Verdammt, sie musste weg. Sie rannte an den Birken vorbei, Äste peitschten ihr ins Gesicht, sie stolperte, behielt gerade so das Gleichgewicht. Als das Scharren und Schnaufen so dicht bei ihr war, dass sie fest mit einem Angriff rechnete, erblickte sie zwischen zwei Birken den Umriss eines Menschen, und es wurde schlagartig still.

»Hallo?«, fragte Lois unsicher. Sie richtete das Taschenlampenlicht auf die Person. Dunkelgrüne Daunenjacke mit einem gelben Streifen an der Seite. Eine ausgeblichene Jeans. Auf dem Kopf eine Fließmütze, unter der rote Haarsträhnen hervorschauten. Zusammengekauert saß sie auf den Unterschenkeln da, hatte den Rücken zu einem Buckel geformt und die Hände geöffnet vor den Knien abgelegt. Es war eine Geste, die Lois an einen Betenden erinnerte.

»Ilyan, was machst du hier?«, fragte sie und packte die Taschenlampe so auf den Boden, dass die Umgebung gut beleuchtet war. Dann ging sie zu ihm, hockte sich hin, umfasste seine Schultern und sah ihm ins Gesicht. Seine Wangen waren aschgrau und es klebte getrocknetes Blut daran. Eine Platzwunde bedeckte die Schläfe und seine Augen blinzelten fortwährend. War er in Trance?

»Hörst du mich?«, fragte Lois und seine Lippen begannen, sich kaum merklich zu bewegen. Sie beugte sich vor, um etwas zu verstehen, doch es drangen nur schwache Atemstöße aus seinem Mund.

»Ilyan, wach auf!«, wiederholte sie und krallte sich in seine Schultern.

Plötzlich brach hinter ihnen etwas entzwei. Ein kehliges Fauchen erklang und erstarb kurz darauf in der Dunkelheit. Mit einem Mal sackte Ilyans Körper in sich zusammen und fiel in Lois’ Arme.

»Lois?«, murmelte er kaum hörbar.

»Ja, ich bin’s, Lois.«

Sie strich über seinen Rücken und drückte ihn fest an sich. Wie gut es sich anfühlte, ihn bei sich zu haben. Wenn er doch nur ein wenig mehr auf sich achten würde. Seine Stirn lag auf ihrem Brustkorb. Er atmete schwerfällig und schüttelte sich jedes Mal, wenn er die Luft aus seiner Lunge presste.

»Es ist alles gut«, flüsterte sie ihm zu und umarmte ihn fester, damit er ihre Nähe spürte.

»Entschuldige«, flüsterte er.

»Ist schon okay. Ich bin froh, dass es dir gut geht. Zu Hause trinkst du einen Tee, isst etwas und legst dich hin. Dann ist es gleich besser.«

Doch anstatt sich an sie zu kuscheln, wie sie es erwartete, löste er sich aus ihrer Umarmung und drückte sich von ihr weg. Unverwandt musterte er sie, so als ob ihm etwas eingefallen war.

»Zu Hause«, sagte er, »da, wo die Finsternis wartet.«

Lois fixierte ihn. Er war verwirrt, stand unter Schock, was er sagte, konnte sie nicht ernst nehmen. Oder wenn sie es tat, dann musste sie es als Rätsel verstehen. Er dachte immer in Rätseln. Deshalb stand sie auf, griff ihm unter die Arme und zog ihn nach oben. Ohne Gegenwehr ließ er es geschehen und sie führte ihn den Pfad zurück durch den Wald. Sie war müde und erschöpft, spürte ihre Zehen nicht mehr und wünschte sich, bereits zu Hause zu sein.

Am Kiessee blieb Ilyan stehen. Der See lag im Dunkeln, doch sie hörten, wie die Wellen im Rhythmus des Windes ans Ufer schlugen.

Unweit entfernt stahl sich ein Licht in die Dunkelheit. Es glich dem schwachen Leuchten eines hinter Zirruswolken verborgenen Mondes. War dort wirklich jemand auf dem See oder bildete sie sich das Licht ein?

»Ich wollte ihn nicht verletzen«, sagte Ilyan und bevor sie fragen konnte, wen er meinte, fügte er hinzu: »Menschen sind wie Kristallglas. Sie gehen kaputt, wenn die Zeit gekommen ist.«

Ein Rucken fuhr von Lois’ Füßen hinauf in die Spitzen ihres Körpers. Es schüttelte sie so heftig, dass sie sich auf den Boden setzen musste. Zuerst dachte sie, es war sie selbst, dann jedoch verstand sie, dass die Erde bebte. Immer stärker vibrierte es, Ilyan sank mit ihr nach unten. Die Bäume schüttelten ihre Kronen. Ein lautes Krachen ertönte. Tiere liefen hastig an ihnen vorbei. Es dauerte eine Ewigkeit. Ilyan lag in Lois’ Armen, seine struppigen Haare kitzelten sie an der Wange. Sie hielten sich aneinander fest, so wie sie es seit Jahren taten.

Goldrote Finsternis

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