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Kapitel 11

Im Supermarkt streifte er gedankenverloren durch die Gänge. Zuerst ging er zu den Konserven, dann zur Süßwarenabteilung, weiter in die Getränkeabteilung und wieder zurück. Er betrachtete die Waren, packte Hannes Wünsche in den Korb, legte sich selbst noch eine Packung Studentenfutter und Limonade dazu und schlenderte von hier nach dort. Von dort nach hier, die Zeit fühlte sich endlos an.

An der Kasse grüßte er die Kassiererin und sie schenkte ihm sogar ein zaghaftes Lächeln. Dabei hatte sie vor ein paar Tagen verschreckt die Straßenseite gewechselt, als er auf dem Fußweg vor einem toten Vogel Halt gemacht, sich gebückt und das Tier um seinen Tod bedauert hatte. Seitdem fragte er sich, was ihr durch den Kopf gegangen war: »Was für ein Creep, glotzt ein totes Tier an« oder »Hat er den Vogel umgebracht?«

Er verstaute den Einkauf im Rucksack, behielt die Limonade jedoch in der Hand und verließ den Supermarkt. Draußen öffnete er die Dose, nahm einen Schluck und genoss das prickelnde Gefühl auf der Zunge. Lang lebe der Konsum, ihm verdankte er die besten Glücksmomente. Bei anhaltender Traurigkeit einfach kaufen, kaufen, kaufen, das stopfte jede Leere aus. Garantiert und zuverlässig, ohne Maulen, Meckern oder Ratschläge. Was für ein Traum.

Als er über den Parkplatz hinweg zur Auffahrt sah, krampfte sich sein Magen erneut zusammen. Nicht schon wieder. Sie stand lässig da, hatte ihre Arme vor der Brust verschränkt und musterte ihn skeptisch.

»Hi Rayl«, sagte sie.

»Hi Lois«, antwortete er. Seit wann zur Hölle redete sie mit ihm?

»Hast du einen Moment?«

Nein, wollte er sagen. Selbstbewusst und durchdringend, damit sie begriff, wie sehr er auf ein Gespräch verzichten konnte, stattdessen brachte er nur ein schüchternes »Klar« heraus.

Sie nickte und nahm die Arme herunter.

»Okay, dann schlage ich vor, wir gehen ein Stück, damit wir ungestört sind.«

»Ungestört?«

»Ja, ungestört, ist das ein Problem?«

»Äh … nein. Es ist nur … Ich bin etwas verwundert.«

Sie seufzte.

»Du wirst es schon verstehen. Ich will es nur nicht hier ausbreiten.«

Scheiße, wie zum Teufel machte sie das? So selbstsicher reagieren, dass ihm keine andere Wahl blieb, als klein beizugeben? Er wollte das auch.

Gemeinsam passierten sie den Parkplatz, er entsorgte seine Dose im Mülleimer und sie bogen in die Habermanngasse ein. Dort blieben sie im Schatten eines Einfamilienhauses stehen. Lois begann zögerlich: »Ich habe verstanden, was du gestern gesagt hast. Deshalb fällt mir das hier nicht leicht.«

Ihre Lippen wirkten schmaler als sonst und ihre Mimik seltsam steif. Also war auch sie ein bisschen nervös. Er überlegte wieder, was er sagen konnte, damit sie gelöster miteinander umgehen konnten, doch ihm fiel nichts Sinnvolles ein, weshalb er einfach ins Blaue schoss.

»Wenn es um den Dieb geht, Lois. Ich habe ihn wirklich nicht gesehen. Wer weiß, was das für einer war. Irgendein Spinner, der Langeweile hatte. Zeig es an und überlass das der Polizei.«

»Vergiss den Dieb«, entgegnete sie, »der hatte es auf die Wusters abgesehen.«

Er runzelte die Stirn. »Auf die Wusters? Wer sollte denn bei denen was stehlen wollen? Die haben doch schon genug durchgemacht?« Lois antwortete nicht darauf, sondern fixierte ihn schweigend. »Okay, ich hab’s verstanden. Es geht um Ilyan und nicht um den Dieb, richtig?«

»Richtig«, antwortete sie. »Ich weiß, du willst mit ihm nichts zu tun haben, dich raushalten und …«

»Das habe ich nicht gesagt«, warf er sofort ein. »Ich sagte, ich kann das nicht.«

»Und das heißt wörtlich übersetzt ›Ich will nicht‹, oder täusche ich mich da?«

Er steckte die Hände in seine Jackentasche und verzog das Gesicht. »Es ist ein feiner Unterschied, Lois, der für dich vermutlich keine Rolle spielt, aber es ist ein Unterschied.«

»Es macht keinen Unterschied, weil es in der Summe auf das Gleiche hinausläuft.«

»Die Motivation ist doch aber eine andere. Ich habe keine Wahl.«

Ihr entfuhr ein Seufzen und sie beendete die Diskussion. »Worauf ich hinaus will, es geht ihm extrem schlecht. Er hat sein gesamtes Zimmer schwarz gestrichen, stand heute früh lächelnd an der Spüle und hat von der Frau im goldroten Mantel geredet. Noch dazu war er kurz bevor das Erdbeben losging im Wald. Ich weiß nicht, was dort passiert ist, aber er hockte da im Nebel und hat vor sich hin gebrabbelt. Ich glaube, er ist wieder in seiner Welt so wie damals und ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich ihn da raus bekomme.«

»Gar nicht«, sagte Rayl prompt. »Das passiert irgendwann von selbst. Niemand hat da Einfluss drauf.«

Sie nahm ihren Rucksack von den Schultern, holte einen Stoffbeutel heraus, griff hinein und ein Schmuckkästchen kam zum Vorschein.

»Kennst du das?«, fragte sie ihn.

Und ob er es kannte. Es war quadratisch, aus Kristallglas gefertigt und an den Rändern mit Gold eingefasst. Er bekam eine Gänsehaut und eine federschwarze Erinnerung tauchte vor seinem inneren Auge auf.

Er sah, wie seine Mutter eine Kette aus dem Kästchen nahm und Rayl zeigte, der Ilyan auf dem Arm hielt. »Dieses Schmuckstück ist sehr kostbar und einfach unsagbar schön«, sagte sie, als ob er den wahren Wert dieses Gegenstands nie begreifen würde. Dann legte sie sich die Kette um den Hals und bewunderte sich minutenlang im Spiegel. Immer wieder fragte er, wann sie etwas essen würden und ob sie denn Windeln gekauft hatte, solange bis sie ihm wütend eine Antwort entgegenschleuderte: »Koch selbst, wenn du Hunger hast, Nervzwerg. Das kann ja nicht so schwer sein.« Es war tatsächlich nicht so schwer, obwohl er die Eier anbrennen ließ und es dazu nur Ketchup gab.

»Das gehörte meiner Mutter«, sagte Rayl als er die Erinnerung abgeworfen hatte und korrigierte sich: »Unserer Mutter.«

»Mach es auf«, sagte Lois und er öffnete vorsichtig den Deckel. Im Kästchen lag ein rotes Stofftuch, das an einigen Stellen mit goldenen Linien bestickt war.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte er und Lois zuckte mit den Schultern.

»Es stand gestern auf dem Küchentisch, daneben lag ein kleiner Hinweiszettel, wenn man das denn so nennen kann. Deshalb habe ich Ilyan überhaupt im Wald gefunden.« Sie machte eine Pause und deutete auf die goldenen Linien. »Das sind Muster oder Symbole, aber ich werde nicht schlau aus ihnen. Ilyan will mir damit irgendetwas sagen, Rayl, aber ich komme nicht dahinter. All dieses Wirrwarr, dafür muss es einen Grund geben. Es war mit ihm ja noch nie leicht, aber von jetzt auf gleich solch eine Veränderung. Das ist auch für ihn seltsam und es gibt sicher eine Lösung.«

Rayl verstand Lois. Er verstand sie sogar sehr gut. Sie wollte eine Erklärung für Ilyans Verhalten, weil sie glaubte, dass sie der Schlüssel zu seinem Verstand war. Genau danach hatte er selbst jahrelang gesucht. Ilyan hier, Ilyan da. Was muss ich tun, damit es ihm besser geht? Er konnte ihr sagen, dass Ilyans Fantastereien keinen Sinn ergaben, dass sie nie einen Sinn ergeben würden und dass sie umsonst nach einem Schlüssel suchte. Aber er wusste auch, dass ihr das nicht half. Sie war nicht hier, weil sie Rat suchte, sondern weil sie Hilfe brauchte.

»Ich möchte dich darum bitten, dir alles genau anzusehen … vielleicht weißt du mehr als ich«, sagte sie und ihre Worte klangen gepresst.

»Ich kann’s versuchen«, antwortete er und sie wirkte erleichtert.

»Lass uns zur Picknickbank hinterm Siedlungseck gehen, wir können da am Tisch besser reden.«

»Okay.«

Er lächelte, doch sie erwiderte es nicht, legte das Kästchen nur rasch zurück in den Beutel und machte sich zum Gehen auf. Zumindest gab es keine Vorwürfe oder Moralpredigten. Das war doch ein Erfolg auf ganzer Linie. Sie würden unverfänglich zusammensitzen und gemeinsam nachdenken. Völlig egal, ob es dabei um Ilyan ging, sie redeten miteinander, es glich einem Wunder.

Goldrote Finsternis

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