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Kapitel 3

Rayl lag rücklings im Fischerkahn und schaute hinauf in den nebelverhangenen Himmel. Auf seinen Wangen trockneten Tränen, der Wind streichelte seine Haut. Hier, in der Einsamkeit des Sees, vergaß er seine Verpflichtungen und konzentrierte sich nur auf sich. Er durfte alles sein, denn niemand verurteilte ihn dafür, bezeichnete ihn als schwach oder zu weich.

Grau war der Nebel, grau war der Herbst, grau war die Farbe von Flußwalde. So hatte es Lois einmal gesagt, als sie beide mit Alkohol im Blut am Sandstrand gesessen und die Sonne hinter den Wäldern hatten untergehen sehen. Ungewöhnlich, wie sein Gedächtnis funktionierte. An manchen Tagen wusste er nicht einmal mehr, wann er aufgestanden oder sich für die Arbeit fertig gemacht hatte, verlegte den Hausschlüssel und wichtige Unterlagen, aber Lois blieb immer da. Jedes Wort, jeder Augenblick. Als ob sie in einem separaten Teil seines Kopfes gespeichert war.

Wenn er ihr im Dorf begegnete, grüßte er jedes Mal. Sie grüßte nicht. Manchmal war Ilyan dabei, aber meistens war sie allein. Es hieß, mit einer Frau befreundet zu sein, wäre unmöglich. Letztlich lief es immer auf ein und dasselbe hinaus. Weil die Biologie das so vorgab.

Er schloss die Augen. Langsam atmete er ein, dann wieder aus. Mit jedem Atemzug wurde er ruhiger und seine Glieder entspannten sich. Der Boden unter ihm fühlte sich an wie Watte. Er spürte Wärme an seiner Wange. Lois sah ihn direkt an, gewinnend und selbstsicher, ihr Mund formte Worte, die er nicht verstand. Seine Finger strichen über ihre Arme, über ihre Schultern, wanderten unter den Stoff ihrer Fleecejacke. Es war so leicht, sich bei ihr fallen zu lassen. Automatisch öffnete er seine Hose. Seine Lippen zitterten, so real kam ihm das vor. Er wollte sie spüren, mit ihr eins werden und sie für einen kurzen Augenblick besitzen. Nur ein einziges, verdammtes Mal. Lois und er zusammen, alles auf null gesetzt. Sie berührte mit ihren Lippen seine Wange und hauchte ihm ins Ohr, wie sehr sie ihn genoss. Was für ein Traum, er würde alles dafür geben, seinen Verstand, seine Gesundheit, einfach alles. Diese Frau machte ihn wahnsinnig, sie hatte zu viel Macht über ihn. Zu viel Macht. Er bebte, hörte seinen Puls heftig gegen die Schläfe pochen.

Doch dann, aus dem Nichts, klatschte etwas auf die Wasseroberfläche. Eine hohe Welle erfasste den Kahn und Rayl wurde unsanft zur Seite geworfen. Sein Kopf prallte gegen die Kante. Ein blitzartiger Schmerz zuckte durch seine Glieder und es summte in seinen Ohren.

Der Kahn schwankte wie auf offener See. Welle um Welle schlug gegen das Metall. Wassertropfen stoben in die Luft, prasselten gegen Rayls Kleidung und peitschten in sein Gesicht. Wenn er nicht aufpasste, würde er kentern. Mit ganzer Kraft klammerte er sich fest und drückte sich dicht auf den Boden. Der Kahn wurde nach oben gerissen, glitt nach unten, wieder nach oben und strauchelte minutenlang über den See. Bis sich das Wasser beruhigte und wieder in Reglosigkeit erstarrte.

Über ihm war es still und grau. Rayls Körper jedoch schlotterte erbärmlich. Er hätte ins Wasser fallen und ertrinken können. Mitten auf dem See wäre niemandem sein Schreien aufgefallen. Nicht, dass irgendjemand seinen Tod bedauern würde, aber er war noch nicht bereit.

Mit einer raschen Bewegung zog Rayl die Hose hoch und schloss seinen Reißverschluss. Er hob das Ruder auf, setzte sich hin und begann, den Kahn in Richtung Steg zu lenken, wo er beim Aufbruch eine Laterne stehen gelassen hatte. Gerade als er sich in die Richtung drehte und die ersten Ruderstöße tat, entdeckte er etwas Ungewöhnliches auf dem Wasser. Die LED Leuchte, die an seiner Jacke festgemacht war, bestrahlte es schwach. Ein Stück Holz? Nein, es bewegte sich geschmeidig leicht auf der Wasseroberfläche und war einige Meter lang. Es sah mehr aus wie ein Schlangenkörper mit spitzem Kopf und Hörnern. Rayl kniff die Augen zusammen, um mehr zu erkennen. Was da vor ihm schwamm, hatte eine raue, schuppige Haut. Sie ähnelte Flechten, die auf Stein wuchsen und an denen Wasser abperlte. An einigen Stellen leuchtete sie wie unter Schwarzlicht und darüber flogen winzige Partikel. Lautlos strebte es in Richtung Flußwalde.

»Scheiße«, flüsterte Rayl, blinzelte und schüttelte sich. Als er erneut aufs Wasser sah, waren da nur noch er und der Nebel. Eine Ewigkeit starrte er auf die Wasseroberfläche, während sein Verstand eine Erklärung suchte. Einbildung war das gewesen, eine optische Täuschung, ausgelöst durch Panik. In Wirklichkeit hatte er einen großen Fisch gesehen. Nur einen großen und leuchtenden Fisch?

Rayl zog das Ruder in den Kahn, legte es auf seinem Schoß ab und betrachtete es wortlos.

Vielleicht wurde er auch verrückt. Genauso wie sein Bruder Ilyan. Der glaubte seit Jahren, Dinge in Flußwalde zu sehen, die nicht existierten. Manchmal zeichnete er sie oder redete so detailliert darüber, als ob er sie wirklich getroffen hätte. Entfernte Bekannte aus Ilyans ureigener Welt.

Am Ufer sah Rayl ein zweites, sehr helles Leuchten wie von einer Taschenlampe. Es bewegte sich rasch auf und ab. Er stellte sich vor, dass dort am Waldrand jemand hastig ins Dorf lief. Er rührte sich nicht, bis auch dieses Licht völlig vom Nebel verschluckt worden war. Dann erst steuerte er zum Steg, verließ mit weichen Knien den Kahn und zurrte ihn fest. Als er seinen Rucksack aus dem Kahn holte, ertönte hinter ihm das Heulen einer Sirene. Feueralarm. Was für eine Nacht.

Goldrote Finsternis

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