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Kapitel 6

Rayl kam sich vor wie ein seniler Wanderer auf der Suche nach einem Ort, den es nicht gab. Immer wieder dachte er an dieses Ding aus dem Wasser. Er wollte sichergehen, dass es nicht doch existierte und durchstreifte jeden Winkel von Flußwalde. Der Brand war sein erstes Ziel. Mehrfach umkreiste er den abgesperrten Teil, den Blick auf die Flammen gerichtet, die sich über die Häuser erhoben. Bis er einen unbeobachteten Moment erwischte und unbemerkt an einer Abzäunung vorbeischlüpfte. Er gelangte in die Nähe des Feuers und musste seinen Schal vor den Mund halten, da der Qualm unerträglich dicht vor ihm hing. Eine immense Hitze strahlte von den Flammen zu ihm, kitzelte seine Haut und wärmte seine kalten Finger. Es knackte, Funken stoben in die Luft, orange und blaue Flammen zuckten grell in der Nacht, und je länger er in das Feuer sah, umso mehr glaubte er, darin eine Gestalt zu sehen, die sich im Rhythmus der Flammen bewegte. Sie tanzte mit ihnen als nähre sie sich aus ihrer zerstörerischen Energie.

Eine Weile lauschte er dem Flüstern des Feuers, dann raffte er sich auf und zog weiter durch Flußwalde. Egal, wohin er ging, egal, wie lange er suchte, er fand das Wesen nicht. Nicht in den schmalen Spalten zwischen Einfamilienhäusern oder Gartenzäunen. Nicht in dunklen Ecken und auch nicht in den Kronen der Bäume. Es war vom Erdboden verschluckt.

An der Dorfkirche schlug ihm ein heißer Luftzug ins Gesicht und er zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen. Abrupt drehte er sich um die eigene Achse, zog das Cuttermesser aus der Jacke, das er extra eingesteckt hatte, und hielt es unbeholfen vor sich. Doch da war nichts, nur ein Lichtstreif, der genauso auch Einbildung hätte sein können.

Mit schwitzigen Händen steckte er das Messer wieder weg. Was war nur los mit ihm?

Da hörte er hastige Schritte auf sich zukommen. Sie echoten über den Platz und er wollte schon erneut das Messer ziehen, als er im Schein der Straßenlaterne die Details der Person erkannte. Sportliche Figur, dunkelgrüne Cargojacke, schwarze Jeans und Stiefel. Lois?

Sie rannte wie besessen in Richtung Kirche, drosselte dort ihre Geschwindigkeit und stoppte letztlich. Schwer atmend stand sie da und starrte in die Dunkelheit. Er war völlig perplex, wollte aus Intuition etwas sagen, doch genauso stark war sein Drang, sich einfach umzudrehen und zu verschwinden: Hasta la vista oder besser Feigling erster Güte. Darin war er ja ganz gut – im Abhauen.

»Lois«, rief er letztlich und übersprang mit einem beherzten Satz seine Furcht.

Augenblicklich schaute sie in seine Richtung, die Bewegung so schnell und präzise ausgeführt wie ein Dolch, der ihn erstach. Scheiße, war seine erste Assoziation zu ihr wirklich Mord?

Innerlich stellte er sich darauf ein, wie üblich ignoriert zu werden. Kostete die bittere Enttäuschung und fand sich damit ab. Doch sie überraschte ihn und fragte: »Hast du den Dieb gesehen?«

Das war eine so merkwürdige erste Frage nach Monaten des Schweigens, dass er wie von selbst reagierte: »W-was für ein Dieb?«

Sie wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab und rang nach Luft.

»Ich hab’ ihn verfolgt. Er ist aus einem Einfamilienhaus höhe Meisenweg geklettert und hat dabei ‘nen Blumentopf umgerissen, aber ich konnte ihn nicht erkennen. Wirkte nicht wie ein Jugendlicher, aber … keine Ahnung. Hast du ihn gesehen?«

»Nein, hier war keiner.«

»Verdammter Mist.« Sie richtete sich auf und streckte den Rücken durch. »Der war einfach zu schnell, hat wie ein Feldhase Haken geschlagen und wusste genau, wohin er läuft.«

»Dabei bist du in der Schule gut im Sprint gewesen.«

»Das ist Jahre her, ich bin aus der Übung.« Sie stemmte die Hände in die Seite und nahm einen tiefen Atemzug. Danach seufzte sie. »Das ist hier heute doch alles echt ein übler Scherz.«

Er horchte auf.

»Was meinst du?«

»Ging an mich der letzte Satz«, sagte sie ruhiger als zuvor. Er dachte an die Hitze, die ihn gestreift hatte und überlegte, ob er Lois davon erzählen sollte. Aber als er die möglichen Sätze dazu ausformulierte: »Da war ein merkwürdiges Licht, hatte der Dieb was damit zu tun?« oder »Ich glaube, mich hat da ein warmer Luftzug gestreift, könnte das mit dem Dieb zusammenhängen« verwarf er die Idee. Sie würde ihn für völlig irre halten. Eine normale Alltagskonversation wäre der bessere Einstieg.

»Wie geht’s Ilyan?«, fragte er und noch bevor er die letzte Silbe ausgesprochen hatte, bereute er es. Warum zum Teufel fragte er ausgerechnet das?

Lois’ Haltung änderte sich schlagartig. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, spannte die Gesichtsmuskeln an und verengte die Augen.

»Interessiert dich das wirklich?«, konterte sie und er brachte als Antwort nur ein trockenes »Klar, er ist mein Bruder« heraus.

»Dann frag’ ihn selbst. Komm zu uns nach Hause, klingle und los geht’s.«

Wie einfach das klang, wenn sie das sagte. Er lächelte verlegen: »Ich denke, das ist keine gute Idee.«

»Wieso?«

»Weil er mein Gesicht bestimmt nicht sehen will.«

»Er will überhaupt niemandes Gesicht sehen, Rayl. Wenn’s danach geht, müsste ich auch ausziehen.«

Darauf fiel ihm keine passende Antwort ein. Da war nur ein Gewirr aus sinnlosen Entschuldigungen, Ermutigungen und Ausreden.

»Ich wollte den Tag vorbeischauen, weißt du«, brachte er hervor. »Ich stand sogar vor deinem Haus und habe genau geplant, was ich sagen werde. Ich stand da, glaube ich, mehrere Minuten und habe die Worte im Kopf gedreht …« Er machte eine Pause.

»Aha«, sagte sie und darin lag der stille Vorwurf »Du warst trotzdem nicht da«. In seine Gedanken drängte sich plötzlich Ilyans Stimme. »Ich hasse dich, Rayl«, sagte er und mit ihr kam die alte Wut. Bleischwer zog sie an seiner Brust. Sein Bruder brauchte ihn nicht, er brauchte nur sich selbst und seine Fantasie. Das war schon immer so gewesen.

»Tut mir leid«, sagte er letztlich, »ich kann einfach nicht.«

»Das weiß ich«, antwortete Lois, »seit sechs Jahren.«

Er fühlte sich winzig klein. Wie eine Mücke, die vorsichtig auf der Haut landete, zum Stich ansetzte und deshalb getötet werden musste. Er war ein Blutsauger, ein Energieräuber, ein Insekt.

»Es geht ihm beschissen, Rayl«, sagte sie dann. »Ich glaube, er würde seinen großen Bruder wirklich gern sehen. Aber es ist deine Entscheidung, keiner kann dich zwingen.«

Mit diesen Worten ließ sie ihn zurück. Er selbst schaffte es nicht, zu reagieren. Er war paralysiert, zu Stein erstarrt, wenn man so wollte. Die Zeit raste an ihm vorbei, drehte sich unaufhörlich und immer schneller. Seine Orientierung versagte. Die Umgebung verlor Form und Farbe.

Als er sich Seiner wieder bewusst wurde, saß er allein auf der Bank vor der Kirche und fühlte sich schuldig. Es war nicht sie, die den Kontakt mied. Er war es. Verdammt noch mal, er war es selbst und er konnte nicht anders. Er konnte einfach nicht.

Goldrote Finsternis

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