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Kapitel 5

Der Brand wütete im Osten von Flußwalde. Lois sah die Flammen hinter der grauen Nebelwand schon von weitem. Meterhoch züngelten sie in den Himmel hinauf und tauchten den Horizont in trübes, gelbrotes Licht. Blaue Sirenen leuchteten dazwischen und der beißende Geruch von verbranntem Holz und Gummi stieg ihr in die Nase. Je näher sie der Quelle kam, umso mehr Unruhe herrschte. Mehrere Löschfahrzeuge pumpten Wasser durch Schläuche, die ausgerollt bis zum Brandherd reichten.

Viele kamen herangeströmt und wollten helfen.

»Was ist passiert?«, hörte Lois, oder: »Wie kann das sein?« Verwirrung und Angst machten sich breit. Es geschah selten etwas Aufregendes in Flußwalde, doch wenn, dann war es ein Unglück, das Schlagzeilen machte. Kein Wunder also, dass gleich zwei Katastrophen fließend ineinander übergingen.

Eine junge Frau, die Lois ab und an beim Einkaufen traf und deren Name ihr immer wieder entfiel, sprach sie an und sagte in aufgelöstem Tonfall: »Ich bilde mir das nicht ein, oder? Es gab ein Erdbeben und da ist ein Großbrand?«

»Ja, das passiert gerade wirklich«, antwortete Lois. Die Frau schlang ihre Arme fest um den Oberkörper, krallte ihre Finger in den Anorak und begann, von ihrer Familie zu sprechen.

»Sie schlafen ein paar Häuser weiter, die Kinder meiner Schwester. Gerade so konnten wir die Kleinen nach dem Geschüttel beruhigen. Was für ein furchtbarer Zufall, dass ihr Mann ausgerechnet jetzt im Außendienst ist. Zum Glück wohne ich nebenan. Eine schlimme Zeit ist das, alles wird zerstört, Häuser, Existenzen, es ist wie im Krieg.«

Mit jedem Wort geriet sie mehr in Panik, ohne Lois Raum für eine Antwort zu lassen. Als die Frau dann auch noch eine Verschwörung ins Spiel brachte, die laut ihrer Aussage mit jener tragischen Sache vor ein paar Jahren zusammenhing, seilte sich Lois ab. Manche im Dorf steigerten sich da in etwas hinein. Lois war das leid. Keiner von denen musste sich wirklich fürchten, in ihren gepflegten Vorgärten mit teuren Holzzäunen und der penibel geschnittenen Hecke ging es ihnen gut. Trotzdem teilten sie ihre Angst mit jedem. Sie sammelten sich in Gruppen vor dem Tante Emmaladen, dem Bäcker oder auf dem Markt und redeten und redeten, bis sie so laut wurden, dass jeder um sie herum mithören konnte. Von einem Zeichen sprachen sie, von Unheil, das von denen aus der Stadt – den Zugezogenen – hierher gebracht worden war. Immer dann kam sich Lois wie in einer Blase vor. Als ob sie die Einzige war, die das nicht logisch nachvollziehbar fand, sondern schlicht als das betrachtete, was es war – Panikmache. Heute Abend würde ihnen noch mehr Anlass zum Tratschen geben.

Sie ging zu einer Polizistin, die gerade dabei war, eine Funkmeldung durchzugeben. Lois kannte sie noch aus der Schulzeit. Die Tochter der Bänkerfamilie aus dem Süden. Soweit sie sich erinnerte, plauderte sie gern und viel.

»Hi«, grüßte Lois als die Frau das Funkgerät weggesteckt hatte, »weißt du, woher das Feuer kommt?«

»Nein, keine Ahnung. Bisher gibt’s nur Spekulationen. Scheint durch das Beben ausgebrochen zu sein und war vielleicht ein offenes Feuer. Ein Holzscheit, der runtergefallen ist, das ist die Theorie.«

»Hm... Kann ich euch irgendwie helfen?«

»Gott bewahre«, entfuhr es ihr. »Helfer machen hier nur Probleme. Geh lieber nach Hause und überlass das uns. Die Feuerwehr hat so schon Schwierigkeiten, den Überblick zu behalten.«

Lois sah zum Feuer hin. Es war mindestens fünfzig Meter entfernt, die Straße war gesperrt. Überall sah sie Feuerwehrleute, die einander Anweisungen zuriefen. Sie stellte sich vor, wie heiß und stickig es dort sein musste.

»Ist wer gestorben?«, fragte Lois.

Die Polizistin stemmte die Hände in die Seite, sah kurz zu Boden und schnalzte mit der Zunge. »Es ist nur von Erlens Mietshaus betroffen. Er war im Haus, als der Brand sich ausgebreitet hat und liegt mit Verbrennungen im Krankenhaus. Die anderen Mieter sind schnell geflüchtet. Sonst wird niemand vermisst, aber es ist auch die Scheune dabei. Manchmal gehen die Jugendlichen nachts da rein, um zu trinken. Keine Ahnung, ob wir noch eine Überraschung erleben.«

Von Erlen. Lois steckte ihre Hände in die Hosentaschen und dachte an das Gesicht von Flußwaldes Bürgermeister. Dieser Kerl verströmte zu jeder Zeit eine Aura von übertriebener Selbstkontrolle. Immer ein Lächeln auf den Lippen, immer ordentlich und mit Anzug gekleidet. Als wäre Flußwalde eine Firma, die er der größtmöglichen Wirtschaftskraft entgegenlenken musste. Großgrundbesitzer, Immobilienhai und Kapitalist. Damals, als Hanne noch Bürgermeisterin gewesen war, hatte sich Flußwalde menschlicher angefühlt. Die burschikose Frau mit den weisen Augen hatte sich für die kleinen Leute stark gemacht und sie durch jede Krise geführt. Ohne Hektik und mit einer angeborenen Erhabenheit, die einen verstummen ließ. Sie und von Erlen kamen aus gutem Grund nicht miteinander aus. Er hatte sie verdrängt und nicht nur das, er hatte vor allem anderen Ilyan Unrecht getan.

»Alles okay, Lois?«, fragte Rita, als ob sie ahnte, was ihr durch den Kopf ging.

»Klar, bei mir immer«, entgegnete sie, doch Rita runzelte besorgt die Stirn.

»Ok, ich dachte nur, das hier erinnert dich vielleicht an damals. Dieser Vorfall am See, als du …«

»Mir geht’s bestens«, warf Lois ein und hörte selbst wie spitz das klang. Kein Wunder, dass Rita sie danach nur noch intensiver scannte.

»Dann ist gut. Ich habe nur gefragt, Lois, das war kein Angriff.«

»Ich weiß.«

Die Luft zwischen ihnen fühlte sich mit einem Mal dicker und schwerer an. Es war wirklich zum Schreien, wie sehr sich die Menschen auf diese eine Sache konzentrierten, sobald sie Lois oder Ilyan sahen. Als ob sie ein Schild mit sich herumtrugen, auf dem geschrieben stand: Wir haben versagt.

»Ich ziehe dann mal weiter«, meinte Lois, um sie beide von der Sprachlosigkeit zu befreien und wandte sich ab. Rasch überquerte sie die Straße und beschleunigte ihren Schritt. Ein saurer Geschmack stieg von ihrem Magen in die Kehle. Derlei Gespräche hinterließen bei ihr immer eine dumpfe Übelkeit.

In einer Seitenstraße fand sie im Schatten der Nacht die Einsamkeit, die sie jetzt brauchte. Was für ein Abend. Wie sollte sie diese Ereignisse in einen größeren Zusammenhang bringen? Oder besser gefragt, gab es den überhaupt? Handelte es sich nicht nur um eine willkürliche Aneinanderreihung von Ereignissen ohne tieferen Sinn wie es beim Chaos der Fall war? Aber auch dann, selbst das Chaos war nicht wirklich strukturlos, denn es folgte einem dynamischen Muster von Wiederholung und Überschneidung. Wer die Anfangsbedingungen fand, konnte eine Ordnung sehen. Das galt auch für Flußwalde.

Lois fuhr sich durch die Haare. Über ihr hing das gleiche, elende Grau wie im Wald. Es hatte sich etwas gelichtet und würde zum Morgen hin vollständig abziehen und trotzdem war es da. Als ob es ein Sinnbild für jenen Schleier darstellte, der in Lois’ Kopf vorherrschte. Wieso zum Teufel musste das Wetter die eigene Stimmung derart unterstreichen? Heute hätte genauso gut eine sternenklare Nacht sein können, aber nein, es gab Nebel.

Sie seufzte und zog ihr Portemonnaie aus der Jackentasche, um im Schein der naheliegenden Straßenlaterne die Geldscheine darin zu prüfen. Die Tankstelle am Dorfrand hatte geöffnet, sie sollte sich zur Abwechslung etwas gönnen, einen Drink oder kleinen Snack. Das machte zwar nichts einfacher, aber sie konnte zumindest etwas Zeit für sich gewinnen, sich ablenken, ihre Gedanken ordnen. Es sollte einmal nur um sie gehen, nicht um Ilyan oder das Dorf oder was auch immer. Eine tröstliche Vorstellung.

Gerade als sie ihr Portemonnaie wieder wegstecken wollte, nahm sie auf der anderen Straßenseite eine Bewegung wahr. Erst dachte sie, es sei eine streunende Katze, doch es bewegte sich ungeschickter.

Lois kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Es war deutlich größer als ein Tier und trotzdem nicht mehr als ein Schatten oder eine vage Silhouette, die ihr Vorstellungsvermögen zu einem Menschen zusammensetzte.

Sie stieß sich von der Mauer ab und ging vorsichtig näher heran. Als sie nah genug war, erkannte sie, dass die Person vom Fensterbrett kletterte wie ein Dieb. Dabei riss sie einen Blumentopf herunter, der auf dem Bordsteinweg zerschellte.

»Hey!«, rief Lois, doch die Person blieb unbeeindruckt, landete auf dem Boden und rannte los.

»Stehen bleiben!«, rief sie, aber natürlich reagierte die Person nicht. Das musste ein Einbrecher sein. Warum sonst sollte jemand mitten in der Nacht aus einem Fenster steigen, kurz nach einer Naturkatastrophe und während eines Brands? Es war glasklar, dass die Person die Gunst der Stunde nutzte, um an Wertsachen zu kommen. Gewissenlose Idioten gab’s überall.

Ohne weiter nachzudenken, verstaute Lois ihr Portemonnaie wieder im Rucksack und nahm die Verfolgung auf.

Es war schwierig, die schwarze Gestalt zwischen Grau, Dunkelheit und Straßenlichtern nicht aus den Augen zu verlieren. Sie war schnell, lief in Zickzack-Bewegungen. Erst ging es ums Eck, dann quer durch das alte Dorf. Vorbei am Fischteich, über den Kinderspielplatz, wo die Gestalt durch Sand lief, ohne einmal den Halt zu verlieren, während Lois beinahe stolperte.

Lois’ Atem ging rasant schnell, ihre Füße kribbelten, das Adrenalin peitschte sie vorwärts. Auf dem Parkplatz vor dem Einkaufsladen beschleunigte sie mit aller Kraft und holte deutlich auf. Nur noch ein wenig schneller, dann konnte sie die Person einholen, greifen und zur Rede stellen. Lois versuchte, sich so viele Details wie möglich einzuprägen, doch egal wie nah sie kam, sie konnte weder sagen, welchen Geschlechts die Person war, noch erkannte sie irgendein anderes auffälliges Merkmal.

An der nächsten Abbiegung schlug der Dieb einen gekonnten Haken, sprang über eine Straßenabzäunung und huschte wendig in die Dunkelheit einer Gasse. Scheiße, war der flink. Lois’ Körper bettelte um eine Pause. Ihre Lunge streikte, die Beine brannten. Trotzdem rannte sie weiter. Die Umgebung flog an ihr vorbei, verlor immer mehr die Konturen und manchmal glaubte sie, hinter der Person schimmere etwas golden, wie Staubkörner, die das wenige Licht der Nacht reflektierten.

Bei der Kirche jedoch verlor Lois endgültig den Sichtkontakt. Völlig erschöpft blieb sie stehen, stützte sich auf den Oberschenkeln ab und schniefte.

Der Dieb musste irgendwo hinter der Kirche verschwunden sein, aber es gab hier zu viele Abzweigungen, er hätte überall sein können. So ein verdammter Mist, all das Rennen umsonst.

»Lois«, rief jemand von der Seite und sie wandte sich abrupt um. Rote, lockige Haare, schüchternes Auftreten, schicke Stoffhose und Sportjacke. Zurückhaltender Blick, vorsichtig-abwägendes Verhalten. Oh Mann, der hatte ihr gerade noch in der Sammlung von Seltsamkeiten gefehlt.

Goldrote Finsternis

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