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Die praktische Ambivalenz der Freiheit

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Die Freiheit ist ein Glück und die Grundlage aller anderen Werte, aber sie ist in der Praxis eben ambivalent. Zwiespältigkeiten verlangen, dass man sie zur Kenntnis nimmt und sie nicht etwa im Nirwana eines maximal purifizierten ideologischen Paradigmas wegzudefinieren sucht. Zwiespältigkeiten verlangen, dass man sie zu überbrücken versucht. Es gilt der gute Umgang mit ihnen als eine Herausforderung an die politische Klugheit und die Fähigkeit zum Abwägen zu begreifen, im weiteren Sinne des berühmten Satzes von Karl Popper vom Wesen allen Lebens als Problemlösen. Wer jedoch von den Zumutungen, Erschwernissen und Spannungen nichts wissen will, die sich mit der Freiheit für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft verbinden können, der tut ihr einen Bärendienst.

Die grundlegende Ambivalenz der Freiheit findet ihren Widerschein schon darin, dass trotz aller Bekenntnisse zur Freiheit der Befund von James M. Buchanan unvermindert zutreffend anmutet: «Die Menschen fürchten die Freiheit.»13 Doch kann man etwas fürchten, das man auf keinen Fall missen möchte? Man kann. Aus nachvollziehbaren Gründen. Die Verheissung der Freiheit zum Beispiel, dass jeder sein Leben in die eigene Hand nehmen kann: Sie ist etwas für fähige, zupackende, optimistische Gemüter. Als Abwehrrecht gefasst, ist die Vorzugswürdigkeit der Freiheit unzweifelhaft: Wer wünschte sich nicht die Abwesenheit von Zwang, von Unterdrückung, von Bevormundung, die uns davon abhalten würden, «einen Lebensplan, der unseren eigenen Charakteranlagen entspricht, zu entwerfen und zu tun, was uns beliebt», 14 wie es Mill formulierte?

Diese negative Freiheit überwindet einen gleichsam feudalen Typus von Abhängigkeit. Sie entlässt den Einzelnen in variable Kooperationsnetze wie den Markt, aus denen manche Kritiker freilich wiederum eine – wenn auch vollkommen andere – Form von Abhängigkeit entstehen sehen. Diese Freiheit jedenfalls geht einher mit einem Auftrag zu Selbsterkenntnis, Selbstentfaltung und vor allem Selbstverantwortung; mit der oftmals nicht geringen Bürde, Entscheidungen unter Unsicherheit treffen und die Folgen der eigenen Fehler tragen zu müssen. Ist das ein Argument gegen die Freiheit? Sicherlich nicht. Das alles gehört zum Leben. Und doch gehört zum Leben neben dem Appetit auf Autonomie auch die Sehnsucht, in einer Form von organisierter Ordnung aufgehoben und halbwegs beschützt zu sein.

Eine Deklination hiervon ist die mit der Freiheit einhergehende Möglichkeit, sein Glück zu machen und womöglich sogar reich zu werden: Solange es um die Chancen geht, ist natürlich jeder gern dabei, aber wenn das Risiko zur Debatte steht, dass man scheitert und womöglich verarmt, lässt die Begeisterung nach. Doch ohne die Gefahr eines Scheiterns gibt es keine Gelegenheit zum Erfolg. Diese Spannung auszutarieren, damit sie nicht im Entweder-oder verharrt, ist die nicht geringe Anforderung an den modernen Sozialstaat: Er muss so gebaut sein, dass er zwar keine Hängematte bietet, aber Menschen im Notfall verlässlich auffängt, ohne dass sie sich im administrativen Dickicht verlieren.

Selbst die politische Freiheit ist für den einzelnen Menschen ambivalent. Natürlich steht sie nicht zur Disposition. Wer legte nicht Wert auf sein aktives und passives Wahlrecht? Wer wollte nicht gefragt werden, nicht seine Meinung äussern und mitbestimmen können? Das Problem ist nur, dass in den kollektiven Entscheidungsverfahren der Massengesellschaften der einzelne Bürger wenig Aussicht hat, der «pivotale» Wähler zu sein, dessen Votum den Ausschlag gibt. Die Mitbestimmung im grossen Kollektiv versendet sich – und das vermag durchaus erhebliche Frustration zu stiften. Auch das ist kein Argument gegen die Freiheit, denn ohne sie hätte der Bürger im Kollektiv erst recht nichts zu sagen und die Frustration müsste noch grösser sein. Der Filz, die Seilschaften, die in unfreien Staaten üblich sind: Sie sind gewiss nicht befriedigender. Aber dieser Spannung entspringt die Anforderung, das System der politischen Partizipation mit deutlich mehr diskursiven Rückkopplungen auszugestalten, sodass die Stimme des Wählers, der nicht der Mehrheit angehört, nicht ungehört verhallt und mithin verloren ist.

In gesellschaftlicher Betrachtung gehen die Ambivalenzen der Freiheit weit über solche psychologischen Momente hinaus. Hier bekommen wir es mit den komplexen Auswirkungen des individuellen Tuns auf soziale Abläufe und Strukturen zu tun. So erzieht die Freiheit, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen, im guten Fall zu Selbstverantwortung und zur Sorge für alles, was man beeinflussen kann, im schlechten jedoch zu Egoismus und Vereinzelung. Darunter leidet das soziale Kapital: das Vertrauen, die Kooperation, der Zusammenhalt in der Gesellschaft. Und erst die individuelle Freiheit, reich zu werden, erschliesst der Gesamtwirtschaft eine wirtschaftliche Dynamik, von der im Idealfall die Masse profitiert. Doch sie vermag auch Gier und Geiz zu schüren, zur Unterbindung des Wettbewerbs zu verlocken und die materielle Ungleichheit derart zu vergrössern, dass eine allgemeine moralische Korruption zum Spaltpilz der Gesellschaft wird: Dies fürchtete schon der oft als Hohepriester des Egoismus gründlich missverstandene Adam Smith.15

Diese Sorge ist in unseren Tagen nicht minder wohlbegründet, zumal etliche Erlebnisse mit exzessivem Verhalten sie fördern, besonders augenfällig unter anderem im Zusammenhang mit der globalen Finanzkrise 2007/08. Nur ist auch das noch kein Argument gegen die Freiheit: Wie alle Erfahrung mit illiberalen Staaten lehrt, ist in einem Gemeinwesen, in dem die Freiheit des Einzelnen wenig gilt, die moralische Korruption bei Weitem noch ärger. Die Herausforderung für die «offene Gesellschaft», wie Popper das nicht kollektivistische, die Individuen schätzende und schützende Gemeinwesen nannte, besteht deshalb vor allem darin, eine Ordnung zu schaffen, die auf intelligente Weise aufeinander ausrichtet, was nicht von selbst immer schon harmonisch ist. Den Prüfstein für alle politischen Massnahmen, die diesem Zweck dienen, bietet wie gesagt die individuelle Freiheit selbst: Wird sie erweitert und besser abgesichert, oder wird sie am Ende unabsichtlich beschnitten?

Die individuelle Freiheit von staatlichem Zwang schliesslich, das Grundprinzip der negativen Freiheit, steht an der Wurzel der Freisetzung aller Fortschrittskräfte in der abstrakten Grossgesellschaft der Moderne. «Weil jeder einzelne so wenig weiss, und insbesondere, weil wir selten wissen, wer von uns etwas am besten weiss, vertrauen wir darauf, dass die unabhängigen und wettbewerblichen Bemühungen Vieler die Dinge hervorbringen, die wir wünschen werden, wenn wir sie sehen», 16 schrieb Hayek. Aus dieser Einsicht folgt allerdings die Empfehlung, es mit der politischen staatlichen Steuerung, die mitunter einer «Anmassung von Wissen» entspringt, nicht zu übertreiben. Ist das nicht ein Angriff auf die Demokratie? Keineswegs. Je mehr bewusst geplant wird, desto weniger Türen stehen noch für andere, unvorhergesehene, spontane Entwicklungen offen.

Dieser Zwiespalt hat sogar etwas Gutes. Denn die Spannung zwischen politischer Steuerung im Staat und spontaner Koordination in der Zivilgesellschaft einschliesslich Märkten kann dazu beitragen, dass das Eine das Andere in Schach hält und vor Exzessen bewahrt. Und deshalb schrieb Karl Popper: «Wir brauchen die Freiheit, um den Missbrauch der Staatsgewalt zu verhindern, und wir brauchen den Staat, um den Missbrauch der Freiheit zu verhindern.»17 Mit anderen Worten: Wir brauchen die Selbstbeschränkung des Staats und eine Neuausrichtung auf seine vor allem protektiven Aufgaben.18

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