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Kritik von links

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Damit ist schon angedeutet, warum sich die im 19. Jahrhundert entstehende Linke vom bürgerlichen Denken distanzierte. Der Liberalismus propagiert Rechtsstaatlichkeit, individuelle Freiheiten und formale Gleichheit, verteidigt gleichzeitig jedoch Eigentums- und damit auch Machtverhältnisse, die die liberalen Versprechen Makulatur werden lassen. Denn Armut und ökonomische Ungleichheit sind die massivsten Freiheitsbeschränkungen, die man sich vorstellen kann. Die Tochter einer eingewanderten Fabrikarbeiterin hat die Wahl, ob sie Friseurin oder Kassiererin werden möchte, der Amazon-Paketbote die Freiheit, in der Kneipe seine Meinung zu äussern. Der Milliardärssohn hingegen kann seinen Vorlieben nachgehen, sich in allen Lebensbereichen verwirklichen und hat auch ganz andere Möglichkeiten, politisch mitzubestimmen. Er kann sich einen TV-Sender kaufen, einen Thinktank gründen oder ein Lobby-Unternehmen unter Vertrag nehmen, damit seine ökonomischen Interessen gewahrt bleiben. Dadurch, dass der Liberalismus nur die politische, nicht aber die ökonomische Despotie kritisiert, bleibt sein Demokratisierungsprojekt auf halbem Weg stehen. Es ist genau dieser Widerspruch, der regelmässig schwere Krisen des politischen Systems und der demokratischen Repräsentation provoziert. Die Menschen spüren nämlich, dass sie zwar wählen dürfen, aber nicht viel zu entscheiden haben, denn egal, welche Regierung ins Amt kommt, die Wirtschaftspolitik ist immer dieselbe. Und in genau diese Bresche ist der Rechtspopulismus gesprungen, der zwar nicht minder neoliberal wie die staatstragenden Parteien ist, aber doch zumindest die Verlogenheit des politischen Systems zur Sprache bringt und damit als Tabubrecher auftritt.

Die Unfähigkeit, jene Despotie zu erkennen, die sich aus den Eigentumsverhältnissen und der daraus folgenden Ungleichverteilung von Macht erklärt, die Ignoranz gegenüber der banalen Tatsache, dass man zur Wahrnehmung von Freiheiten auch die sozialen Voraussetzungen benötigt – das sind die zentralen Einwände der Linken gegen den Liberalismus. Dahinter steckt eine grundlegende Kritik der bürgerlichen Weltsicht, die Marx im 19. Jahrhundert als idealistisch charakterisierte. Die radikalsten Denker seiner Zeit konzentrierten sich darauf, die Religion zu hinterfragen und Meinungsfreiheit für diese Debatte zu fordern. Sie glaubten, die Gesellschaft verändern zu können, indem sie die bestehenden Ideen zertrümmerten. Marx betonte hingegen, dass die Herrschaftsverhältnisse nicht von der Religion oder einer falschen Moral herrühren, sondern vom «wirklichen Lebensprozess» der Menschen und den ökonomischen Beziehungen. Die Produktionsmittel als Privateigentum in den Händen einiger weniger spalte die Gesellschaft in soziale Klassen, mache die Ware zum Dreh- und Angelpunkt des gesellschaftlichen Lebens und stehe einer bewussten und demokratischen Kooperation im Weg. Wie Marx in einem mehrere Jahrzehnte andauernden Untersuchungsvorhaben herausarbeitete, zogen diese Eigentumsverhältnisse eine spezifische Weltsicht, die Verdinglichung sozialer Beziehungen und neue Formen der Herrschaft nach sich, die subtiler daherkamen als die Despotie der Fürsten und Könige.

Die Marx’sche Kritik richtete sich nie gegen das liberale Freiheitsversprechen; sie wies vielmehr darauf hin, dass dieses Versprechen in einer Gesellschaft der Warenbeziehungen und der Profitmaximierung, der sozialen Ungleichheit und allgemeiner Konkurrenz unerfüllt bleiben muss.

Zu diesem alten Argument kommt aber noch ein neueres hinzu, das mit den philosophischen Grundlagen der Aufklärung zu tun hat. Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, lässt sich kaum noch leugnen, dass die westliche Moderne auf einem völlig artifiziellen Menschenbild beruht. Sie geht von einem Subjekt aus, das von sozialen Bindungen und Verpflichtungen losgelöst scheint. Fast so, als ginge es darum, sich von sozialen Kontakten «zu emanzipieren». Der spanische Philosoph César Rendueles hat das als «Soziophobie», als Angst vor der Gesellschaft, parodiert. Und tatsächlich hat das «freie Individuum» – ob nun als Homo oeconomicus der Wirtschaftstheorie oder als «Lonely Wolf» der maskulinen Popkultur – wenig mit unserer realen Existenz zu tun. Wir Menschen sind nicht nur «Gattungswesen», also soziale Geschöpfe, wie schon Marx notierte, sondern grosse Teile unseres Lebens auch extrem pflege- und sorgebedürftig. Die Moderne hat diese Bedeutung von «Care», also «femininen» Tätigkeiten und Verhaltensweisen, immer ausgeblendet. Das erlangt zunehmend auch eine ökologische Dimension. Wir brauchen nicht nur die Gemeinschaft, sondern sind eingebettet in unsere Umwelt. Die Vorstellung eines Subjekts, das sein Schicksal mithilfe des freien Willens gestaltet, ignoriert die soziale und ökologische Verschränkung und richtet sich auf Dauer deshalb gegen das Sein des Menschen selbst. Der Klimawandel und das Artensterben verweisen darauf, wie dringend wir eine Weltsicht brauchen, die nicht von atomisierten Subjekten, sondern von den Abhängigkeiten zwischen Mensch und Natur beziehungsweise zwischen den Menschen ausgeht.

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