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Zwischenruf Dina Pomeranz

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Fast nichts hilft einem so sehr, die Wirkung von langsamen, graduellen Veränderungen wahrzunehmen, als wenn man längere Zeit weg ist. Als ich 2016, nach 18 Jahren in der Westschweiz und in den USA, wieder zurück nach Zürich kam, fielen mir sehr viele positive Veränderungen auf, die sich in der Zwischenzeit entwickelt hatten. Im Gegensatz zu meinen alten Freundinnen und Freunden, die diese Veränderungen graduell miterlebt hatten, und sie deshalb für selbstverständlich hielten, erschienen mir die neuen Realitäten als überraschend und beeindruckend. An jeder Ecke begegneten mir Erinnerungen aus meiner Kinder- und Jugendzeit, und der Kontrast zu heute sprang deshalb ins Auge.

Vieles hat sich verändert, aber wenn ich meinen Eindruck in einem Satz zusammenfassen müsste, würde ich sagen: «Mehr Freiheit, sich selbst zu sein.» Zum einen zeigt sich das für mich in der stark gewachsenen Diversität unserer Gesellschaft. Im Vergleich war in der Schweiz meiner Kindheit viel klarer definiert, was ein «normaler» Lebensstil sei und wie man sich zu verhalten habe. Wenn man in diesen Stil gut hineinpasste, mochte das sehr angenehm sein. Für viele Menschen bedeutete es jedoch eine ständige Anpassungsleistung und ein Gefühl, so wie man war, irgendwie nicht ganz dazuzugehören. «Wow, Du bist ja laut für eine Frau!», «Was, Ihr feiert keine Weihnachten zu Hause?», «Peinlich, hast Du gehört, er soll schwul sein.» Solche Sätze fielen oft und schienen normal. Selbstverständlich hören wir auch heute noch solche Stimmen in der Schweiz. Aber die Bandbreite der sichtbar gelebten Lebensformen ist viel grösser geworden. Wir sehen in unserem Alltag Hausfrauen und Firmenchefinnen; verheiratete, unverheiratete und vermehrt auch homosexuelle Eltern; Menschen mit christlicher, jüdischer, muslimischer, buddhistischer oder keiner Religion; Eingewanderte, Urschweizerinnen, Doppel- und Tripelbürger; Politikerinnen und Politiker, von strohblond bis dunkelhäutig. Ich stelle mir vor, dass es heutzutage für junge Menschen ein viel breiteres Spektrum an Vorbildern gibt. Dadurch entsteht eine grössere Freiheit der denkbaren und erträumbaren Zukunft. Mehr Freiheit, uns selbst akzeptiert und zugehörig zu fühlen, so wie wir sind, mit all unseren vielfältigen Facetten.

Den gesellschaftlichen Unterschied zwischen heute und der Zeit, als ich hier aufgewachsen bin, sehe ich in vielen Bereichen. Als Kind war ich als jüdisches Mädchen in der Schule eines von ganz wenigen Kindern einer nicht christlichen religiösen Minderheit. Heute leben in der Stadt Zürich 36 Prozent religionslose, 6 Prozent muslimische und 1 Prozent jüdische Menschen sowie 9 Prozent Menschen anderen Glaubens. Auch in der Geschlechterfrage hat sich vieles getan: Als ich zehn Jahre alt war betrug der Anteil Frauen im Nationalrat nur gerade 11 Prozent. Heute ist diese Zahl auf 31 Prozent gestiegen (obwohl sie im Ständerat wieder auf 13% gesunken ist). Die Diversität und die Freiheit der Lebensgestaltung haben in vielen Dimensionen zugenommen. In meinem Wohnhaus leben Menschen mit mindestens zehn verschiedenen Nationalitäten und in ganz verschiedenen Lebensformen: Familien, Wohngemeinschaften, Singles, Konkubinatspaare. Dieser letztere Begriff ist ja inzwischen fast ausgestorben. Es ist heute schwer vorstellbar, dass das unverheiratete Zusammenwohnen in Zürich noch bis 1972 von Gesetzes wegen verboten war.

Die Schweiz hat in den letzten Jahrzehnten eine enorme Entwicklung durchgemacht. Ein gesellschaftlich relativ starres, homogenes und hierarchisches Land hat sich gewandelt zu einer viel diverseren, freiheitlicheren, kreativeren und weltoffeneren Gemeinschaft. Darauf dürfen wir stolz sein! Wir haben Institutionen entwickelt, die es der neu zugewanderten Bevölkerung erlauben, sich hier relativ schnell und erfolgreich zu integrieren und konstruktiv zum Erfolg der Schweiz beizutragen. Wir tragen gesellschaftliche und politische Konflikte durch unsere direkte Demokratie offen und häufig aus und vermeiden dadurch langsam schwelende Frustrationen und eine Resignation grosser Bevölkerungsteile. Wir verbinden die alten Traditionen der Schweiz – den Föderalismus, die Integration von regionalen und sprachlichen Minderheiten, die direkte Demokratie – produktiv mit den neuen Herausforderungen unserer Zeit.

Diese neue, alte Schweiz, mit ihren tollen alten Institutionen und ihrer neuen Offenheit für verschiedene Identitäten und Lebenswege, war ein wichtiger Grund dafür, dass ich mich nach Jahren in den USA wieder zur Rückkehr in meine alte Heimat entschieden habe. Denn fast nichts hilft einem mehr, sich zu Hause zu fühlen, als die Freiheit, sich selbst sein zu dürfen.

Freiheit

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