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Grundlagen des Liberalismus

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Es lohnt sich deshalb, alles noch einmal auseinanderzudividieren und ein paar grundlegende Fragen zu stellen: Was zeichnet diesen Liberalismus, der heute in aller Munde ist, eigentlich aus? Welche Errungenschaften gehen auf sein Konto? Und warum grenzte sich die Linke einst von ihm ab?

In diesem Zusammenhang muss man zunächst der Annahme widersprechen, Rechtsgleichheit und die – relativ – demokratische Verfasstheit des Staates1 gingen auf das Konto des Liberalismus. Tatsächlich hatten die liberalen Vordenker, ebenso wie das Bürgertum im Allgemeinen, ein erstaunlich flexibles Verhältnis zu Sklaverei, gewaltsamer Kolonialisierung und Menschenschinderei. George Washington, Benjamin Franklin und Thomas Jefferson, die Gründer der modernen liberalen Staatlichkeit in den USA, fühlten sich nicht nur der Idee der Gewaltenteilung und den Idealen der Aufklärung verpflichtet, sondern waren auch Sklavenhalter und hielten das offenbar für keinen grösseren Widerspruch zu ihren Freiheitsidealen. Auch die Tatsache, dass der Staat Arbeiter, Frauen und Nichtweisse in den darauffolgenden Jahrhunderten nach und nach als Bürgerinnen und Bürger mit gleichem Wahlrecht akzeptierte, war keineswegs eine Errungenschaft des politischen Liberalismus, sondern eine Reaktion auf gesellschaftliche Kämpfe. In Grossbritannien und Preussen herrschte noch bis ins Jahr 1918 ein Drei-Klassen-Wahlrecht, das den Vermögenden die politische Macht sicherte. So entsandten die reichsten vier Prozent der männlichen Bevölkerung in Preussen ebenso viele Abgeordnete ins Parlament wie die vierzig Prozent männlicher Arbeiter. Fünfzig weitere Prozent der Bevölkerung, nämlich die Frauen aller Klassen, hatten überhaupt nichts zu melden. Sprich: Zwei Prozent der Bevölkerung hatten ein Drittel der politischen Macht. Erst mit der Bewegung der Suffragetten (die sich im Übrigen militant Gehör verschafften und dafür teilweise im Gefängnis landeten) und mit den Arbeiter- und Soldatenrevolutionen setzte sich 1918 in den meisten europäischen Ländern das allgemeine und freie Wahlrecht durch. (Die Schweiz war hier insofern ein Sonderfall, als demokratische Bewegungen schon im 19. Jahrhundert wichtige Erfolge errungen hatten. Doch dafür blieben und bleiben Frauen und Eingewanderte hier besonders lange aussen vor.)

Man muss sich das vergegenwärtigen: Auf der einen Seite ist der moderne Staat ein ganz anderes politisches Gebilde als jener bürgerliche Staat, den die Linken des 19. Jahrhunderts von Marx bis Bakunin attackierten. Andererseits sind allgemeines Wahlrecht, soziale Sicherungssysteme und die rechtliche Emanzipation von Frauen, Arbeitern und Schwarzen – also die zentralen Errungenschaften moderner Staatlichkeit – nicht an bürgerlichen Schreibtischen ersonnen, sondern in den sozialen Kämpfen von Unterdrückten und Ausgeschlossenen geboren worden. Die Widersprüche des liberaldemokratischen Staates sind genau hierin begründet: Seine Gesetze und Institutionen sind Kompromisse, mit denen man auf soziale Forderungen reagierte, ohne die Herrschaftsbeziehungen als solche zu gefährden. Und so erklärt sich denn eben auch, warum der Staat eine formale Gleichheit formuliert, die von den ökonomischen Verhältnissen im realen Leben zur Farce gemacht wird.

Wenn der Liberalismus aber, anders als gemeinhin angenommen, weder das allgemeine Wahlrecht noch die Bürgerrechte für Schwarze, Arbeiter und Frauen zu verantworten hat, womit haben sich die Denker des Liberalismus dann eigentlich beschäftigt? Als Meilenstein des liberalen Denkens gilt unbestrittenermassen John Lockes 1689 veröffentlichte Schrift «Über die Regierung». Wer sie liest, wird möglicherweise einigermassen überrascht sein, denn der Text ist eine Rechtfertigungsschrift der Staatsmacht. Er kreist um die Frage, wie politische Gemeinschaften entstehen und welche Macht an diese übertragen werden soll. Mit dem Aufbau des Staates, der bei Locke noch gar nicht so heisst, sondern «Commonwealth» genannt wird, wird eine äussere Macht etabliert, die als Souverän über den Individuen thront. Locke befürwortet diese Konzentration politischer Macht in den Händen des Staates. Zwar verzichte der Einzelne «auf die Gleichheit, Freiheit und Exekutivgewalt des Naturzustands» und lege seine Rechte «in die Hände der Gesellschaft», doch dafür sorge der Souverän dafür, «seine Freiheit und sein Eigentum besser zu erhalten». Zentrale Bedeutung misst Locke dabei – hier ist er ganz Kind seiner ökonomischen Verhältnisse – dem Schutz des Eigentums bei. Man ist gegenüber diesem Anliegen vielleicht auch als Linker etwas weniger streng, wenn man berücksichtigt, wie Unbewaffnete in den vorbürgerlichen Gesellschaften von Raubrittern, Söldnern und Adeligen terrorisiert wurden. Trotzdem wurden hier vor allem die Interessen solcher Menschen formuliert, die zwar bereits ökonomische, aber noch keine politische Macht besassen. Unberücksichtigt blieben hingegen diejenigen, die weder das eine noch das andere hatten.

Lockes zweites grosses Thema, das dann auch den Verfassungsprozess in den USA beeinflussen sollte, war die daran anschliessende Frage, wie die neue politische Macht begrenzt werden könne. Hier entwickelte der englische Aufklärer eine Theorie der Gewaltenteilung zwischen legislativer, exekutiver und föderativer Macht. Man könnte also sagen: Locke war ein Apologet der Staatsmacht, der sich gleichzeitig aber auch mit der Frage beschäftigte, wie die Macht des Souveräns durch Verrechtlichung und Gewaltenteilung begrenzt werden könne. Gegenüber der Willkür feudaler Macht oder – noch schlimmer – des Kriegszustands war das ein Fortschritt, aber es war eben keineswegs eine Theorie von Demokratie und allgemeiner Rechtsgleichheit. Von sozialer Gleichheit ganz zu schweigen.

John Stuart Mills fast 200 Jahre später, nämlich 1859 veröffentlichte Schrift «Über die Freiheit» ist ein weiterer zentraler Text des Liberalismus, und auch hier geht es um eine Form der Herrschaftsbeschränkung. Für Mill, der auch entschieden für Frauenrechte eintrat und immer wieder die Überwindbarkeit von Naturzuständen betonte, in dieser Hinsicht also bereits von allgemeineren Emanzipationsgedanken beeinflusst war, geht es um das Recht auf Individualität. Wenn Mill den Mut des Exzentrikers rühmt, sich nicht einfach den herrschenden Moralvorstellungen zu unterwerfen, eigene Werte zu entwickeln und der Autorität Grenzen zu setzen, dann klingt er fast wie ein früher Achtundsechziger. Und tatsächlich leistet der Liberalismus an diesem Punkt einen wichtigen Beitrag. Er weist darauf hin, dass Minderheiten und Individuen unveräusserliche Rechte haben, die von der Mehrheit nicht angetastet werden dürfen. Die marxistische Linke, die das Recht auf Differenz und Selbstbestimmung im 20. Jahrhundert mehr als einmal mit Füssen getreten hat, täte gut daran, sich dieses Argument zu eigen zu machen. Doch andererseits darf man sich nichts vormachen: Auch Mill versteht Freiheitsrechte selektiv und garantiert sie am Ende vor allem den ökonomisch Privilegierten. So ist er zwar der Ansicht, dass man die Meinung, wonach «Getreidehändler die Armen aushungern oder Eigentum Diebstahl» ist, äussern können muss. Doch diese Meinungsäusserung sollte bestraft werden, wenn jemand ein entsprechendes Flugblatt beispielsweise vor dem Haus eines Getreidehändlers verteilt. Das bürgerliche Recht auf Reichtum steht auch bei Mill im Ernstfall vor der Meinungsfreiheit und dem Recht auf Essen.

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