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7. Jakob

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Es gab Leberkäse, wie jeden Freitagabend. Eigentlich komisch, dachte Jakob, dass wir das ausgerechnet freitags essen. Er hatte neulich einen alten ›Don Camillo und Peppone‹-Film gesehen. Don Camillo war auf der Flucht in das Haus einer Familie eingedrungen, die gerade beim Abendessen saß und hatte so getan, als überprüfte er, ob auch kein Fleisch auf dem Tisch stand. Leberkäse am Freitag würde Don Camillo nicht gefallen. Naja, immerhin gab es bei ihnen an diesem Tag mittags meist Fisch.

Während der Schulzeit war Freitag der schönste Tag der Woche, zumindest nach der Schule, in den Ferien war der Tag aber total nutzlos. Nichts als eine lästige Erinnerung, dass wieder eine Woche vorbei war und der Zeitpunkt des Schulbeginns unaufhaltsam näher rückte.

Als Jakob Platz nahm, saßen Mutter und Paula bereits am Tisch. Vater war nicht da, er war eben oft unterwegs. Wenn er Leute besuchte, musste er das tun, wenn die zu Hause waren, also abends. Sie würden ohne ihn mit Essen anfangen, wie meistens.

»Verschwunden?«, fragte Paula aufgeregt.

»Naja,« beschwichtigte die Mutter. »Sie wissen nicht, wo sie ist. So gesehen: ja.«

»Entführt?« Paula strahlte. Ihre Wangen glühten, als sie sich das Szenario ausmalte. »Vielleicht liegt ihre geschändete, blutbesudelte Leiche in diesem Moment in einem Straßengraben.« Mit leuchtenden Augen tunkte sie einen Bissen Leberkäse in den Ketchupklecks auf ihrem Teller und schmierte damit herum.

»Geschändet«, murmelte Jakob, weil er das Wort nicht kannte.

»Hoppla. Der kleine Jakob hat wieder ein Wort gelernt. Soll ich dir erklären, was–«

»Paula!«, wies Mutter sie zurecht. »Hör auf mit solchen Geschichten.«

Jakob starrte auf das Massaker auf Paulas Teller und malte sich aus, was er tun würde, wenn er eine blutige Leiche im Straßengraben fände.

»Man wird ja noch träumen dürfen«, maulte das Mädchen.

»Das ist doch nichts Schönes. Stell dir die Eltern von dem Kind vor …«

»Krank! Du bist krank!«, rief Jakob.

»Hmmm …« Paula kniff die Augen zusammen. »Vielleicht liegt sie ja im Wald?« Prüfend sah sie ihren Bruder an. »Würde mich nicht wundern.«

Jakob zuckte zusammen. Er erinnerte sich an die Gestalt auf der Lichtung.

Paula bemerkte seine Reaktion. Sie zeigte mit der Gabel auf ihn. »Aha! Ich glaube, wir haben den Täter gefunden.«

»Hört jetzt auf, alle beide! Ihr seid unmöglich.« Karin schüttelte den Kopf. »Zumindest von dir hätte ich etwas mehr Reife erwartet, Paula.«

Paula verdrehte die Augen. »Das Mädchen kommt schon wieder. Es wäre ja zu schön, wenn in diesem Kaff mal etwas passiert.«

»Um wen geht es überhaupt?«, fragte Jakob.

Mutter klärte ihn auf. »Svenja. Svenja Menter.«

Paula nahm seinen verständnislosen Blick wahr. »Mann, Jakob! In welcher Welt lebst du eigentlich?« Sie holte mit der flachen Hand aus, um sie ihm auf den Hinterkopf zu klatschen, aber Jakob duckte sich weg.

Er zuckte die Schultern. Der Name sagte ihm nichts. Svenja, wie eigenartig.

»Die fährt doch in unserem Bus mit. So ’ne dünne, mit braunen Locken.« Mit den Händen auf der Schulter zeigte sie die Länge der Locken. »Aus der Realschule. Die ist auch im Orchester bei Klötzchen. Geht in die Achte und trägt immer so Markenklamotten.« Kalt sah sie ihn an. »Aber mit wem rede ich. Vor ein paar Wochen hast du mich gefragt, warum so viele Leute T-Shirts haben, auf denen Sprit steht.«

»Esprit! Ich weiß, dass es so heißt.« Na gut, bis vor Kurzem hatte er es nicht gewusst. Warum war das auch so schwer zu lesen? Beim »E« fehlte ja die Hälfte.

»Paula! Musst du wieder so giftig sein? Dein Bruder interessiert sich eben nicht für Mode.«

Paula schnaubte. »Er interessiert sich nicht für die Realität.«

»Paula!«

»Ist doch wahr …«, maulte sie leise und wandte sich wieder dem Stück Fleisch auf ihrem Teller zu.

Eine Weile schwiegen sie, nur das Klappern des Bestecks auf den Tellern war zu hören.

»Wo ist eigentlich Papa?«, fragte Paula, augenscheinlich um Ablenkung bemüht.

»Der wollte zur Ochsenmühle, da wohnt wieder jemand Neues.«

Jakob errötete und blickte krampfhaft auf seinen Teller, damit es niemand bemerkte.

»Ach ja, wer ist es denn diesmal?«

»Ich glaube, Chinesen.«

»Chinesen. So, so.« Sie steckte sich ein Stück Fleisch in den Mund. Dann zog sie mit beiden Händen die Augen auseinander, sodass sie zu schmalen Schlitzen wurden. »Tsching, tschang, tschung, Chinese ist nicht dumm,–« Sie verstummte, als sie den eisigen Blick der Mutter bemerkte. Nicht einmal Jakob schien heute auf ihre Scherze zu reagieren. Sie machte eine Grimasse und aß weiter.

»Ich möchte, dass ihr ein bisschen vorsichtig seid.«

»Was? Wegen der Chinesen? Ich glaube, die essen keine Kinder, nur Hunde.« Diesmal musste sogar Jakob lachen, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, dass das Mädchen, das er auf dem Fahrrad mitgenommen hatte, Hund aß.

»So lange sie keine Katzen essen.«

»Oder waren es Katzen?« Paula hob grinsend die Schultern, froh, dass Jakob endlich auf ihre Scherze einging. »Dabei fällt mir ein, dass ich Mohrle den ganzen Tag noch nicht gesehen habe.«

Karin seufzte. »Könnt ihr nicht einmal ernst sein? Ihr sollt vorsichtig sein, weil ein Mädchen verschwunden ist.« Sie sah Paula an. »Ein Mädchen in deinem Alter ist weg. Ich meine,« fuhr sie in betont lockerem Tonfall fort, »ich meine, bestimmt taucht sie wieder auf, vielleicht ist sie mit ihrem Freund durchgebrannt oder so. Aber trotzdem.« Sie hob den Zeigefinger und sah Paula an.

Jakob stellte sich bildlich vor, wie zwei Leute »durchbrannten«. Wie zwei Glühbirnen, die man einschaltete, die dann pling! pling! kurz ganz hell wurden und verglühten. Was Mutter aber auch immer für seltsame Wörter benutzte.

»Seid trotzdem vorsichtig. Das gilt auch für dich, Jakob. Auch Jungen kann etwas passieren.«

»Mach ihm lieber keine falschen Hoffnungen«, ätzte Paula und machte ihrem Bruder einen Kussmund. »Sonst kommt er gar nicht mehr nach Hause.«

Karins Augenbrauen zuckten nach oben, aber sie reagierte nicht auf Paulas neuerliche Stichelei und schüttelte nur ganz leicht den Kopf. Es war ein langer Tag gewesen. Im Landratsamt war nicht viel los gewesen, natürlich, in den Ferien, aber die Hitze im Büro machte jede Bewegung zur Tortur.

Sie hörten, wie die Haustür geöffnet wurde. Vaters charakteristische Geräusche, die Jakob in- und auswendig kannte; das Geräusch, wenn er seinen Schlüsselbund an das Brett hängt. Das Ächzen des Stuhls, auf den er sich setzt, um seine Schuhe auszuziehen. Der Griff zum Schuhlöffel. Der metallische Klang, wenn er ihn wieder an den Haken hängt. Eins, zwei, drei, vier Schritte zur Küchentür. Er streckte seinen Kopf herein, das Kollar leuchtete aus dem schwarzen Anzug. »Hallo, ihr drei. Gut, dass ihr schon mit Essen angefangen habt.« Er nickte seiner Frau zu. »Ich komme gleich.« Damit verschwand er im Badezimmer.

Paula hatte ihr Besteck zusammengelegt, sie war mit Essen bereits fertig, aber sie wartete noch.

Vater kam wieder, jetzt trug er einen karierten Pullover und eine ausgeblichene Jeans. Er ging um den Tisch, küsste seine Frau und Paula auf den Kopf und strich Jakob durch die Haare, bevor er sich setzte. Er sprach im Stillen ein Gebet, dann begann er zu essen. Jakob fragte sich jedes Mal, was er betete, wenn er allein und still betete. Sicher nicht so etwas Kindisches wie »Komm, Herr Jesus, sei unser Gast«. Etwas Ernsteres. Ein Profi-Gebet.

»Wie war’s in China?«

»Paula!«, schimpfte die Mutter. Paula runzelte voll verwirrter Unschuld die Stirn.

»Ich war in der Ochsenmühle, ja«, antwortete Vater. »Das sind ganz normale Leute.« Sein Blick irrte suchend auf dem Tisch umher, bis er fand, was er wollte. Er griff zum Senfglas und klatschte sich eine ordentliche Menge auf den Teller.

Jakob beobachtete Mutter. Sie mochte es nicht, wenn ihr Mann alles so stark würzte. Doch diesmal sagte sie nichts, spitzte nur ein klein wenig die Lippen.

»Sie haben eine zwölfjährige Tochter«, sagte er kauend und sah erst Paula, dann Jakob an.

Paula hob die Augenbrauen. »Und? Sollen wir uns um sie kümmern oder so?« Sie machte eine Pause, um dem Blick der Mutter zu begegnen. »Was?«, fragte sie harmlos. Mit einem Seitenblick auf Jakob fuhr sie fort: »Wie du vielleicht weißt, ist dein Sohn kein besonders sozialer Mensch und ich habe etwas anderes zu tun.«

»Ich dachte, vielleicht will sie ja in die Jungschar oder so.«

»Und? Was habe ich damit zu tun?«

»Paula!«

Sie hob die Schultern. »Ist doch wahr.« Dann fiel ihr etwas ein. »Ich bin sowieso über dieses Alter hinaus. Jakob andererseits …«

Jakob stockte der Atem. Die Jungschar! Als ob es nicht schlimm genug wäre, Sohn des Pfarrers zu sein. Als Sohn des Pfarrers zur Jungschar gehen zu müssen, war so ziemlich das Schrecklichste, was er sich vorstellen konnte. Die Leiterinnen erwarteten dann, dass er bei allem ein Vorbild war und alles wusste, während ihn die anderen Kinder für eine Art Spitzel des Feindes hielten.

»Ich – ich muss noch lernen! Und am Dienstag wollte ich … etwas … da geht es nicht.« Mist! So auf die Schnelle fiel ihm keine Ausrede ein. In den Ferien war das auch echt schwierig.

»In den Ferien ist doch sowieso keine Jungschar«, beschwichtigte Karin.

Damit war die Sache erst einmal vom Tisch. Paula lachte und Jakob fiel ein Stein vom Herzen. Da hatte er sich ganz umsonst zum Idioten gemacht.

Paula lächelte. »Schön, dass du dich ans Lernen erinnerst. Da soll noch mal jemand sagen, dass du dich immer drücken willst. Jakob ist ein ganz pflichtbewusster Bub geworden, scheint mir.« Sie streckte den Arm aus, um ihn in die Backe zu kneifen, aber er wischte ihre Hand weg.

Er kochte innerlich. Wenn Paula das nicht erwähnt hätte, hätte Mutter es sicher längst vergessen. Und das wusste dieses Miststück ganz genau. Schade, dass er sie damit nicht treffen konnte – was die Schule anging, war sie praktisch unangreifbar.

»Wie war es denn bei den Chinesen?«, fragte Jakob und holte sich mit großer Konzentration eine Scheibe Brot aus dem Korb. Er beobachtete Paula im Augenwinkel. Keine Reaktion, sie hielt die Frage vermutlich für ein Ablenkungsmanöver.

»Ich weiß nicht – sie sind noch nicht ganz eingezogen, denke ich. Ich habe nur die Mutter und eine Tochter gesehen. Keine Ahnung, wo der Vater ist.« Er schnitt ein Stück von seinem Leberkäse ab und steckte es in den Mund. »Falls es einen Vater gibt«, fügte er kauend hinzu.

»Uuuuuh…« Paula riss die Augen auf und hielt in gespieltem Entsetzen ihre Hand vor den Mund. »Und das in unserem Maunzdorf. Wenn ich katholisch wäre, würde ich mich gleich bekreuzigen.« Sie begann, sich mit beiden Händen hektisch Luft zuzufächeln.

»So ist das nicht gemeint und du weißt das«, wies Mutter sie zurecht.

»Sodom und Gomorrha.« Paula zog entrüstet eine Augenbraue hoch und schüttelte sachte den Kopf. »Es würde mich nicht wundern, wenn dieser sündige Marktflecken alsbald vom Antlitz der Erde getilgt würde.«

»Ich sehe dich schon als Salzsäule, Paula«, sagte der Vater.

Karin seufzte erschöpft.

»Amen«, sagte Jakob. Paula schmunzelte und er freute sich, dass sie endlich wieder auf seiner Seite zu sein schien. Das war gut, denn seine Schwester war ein zu mächtiger Gegner.

Sommerende

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