Читать книгу Sommerende - M.P. Anderfeldt - Страница 9
3. Jakob
ОглавлениеEs waren Planeten. Und er war ein Raumfahrer, der von einem Planeten zum anderen unterwegs war. Wie in diesem Lied.
Er war noch im Orbit um den Heimatplaneten. Die Rakete musste Schwung nehmen und die Anziehungskraft überwinden. Das, wusste er, war am schwersten. Kräftig trat er in die Pedale, spürte den Schub des riesigen Triebwerks, das angesichts des mächtigen Strahls aus flüssigem Feuer erzitterte.
Er kniff die Augen zusammen. Weißer Staub wehte über die freie Fläche des Betonwerks.
Eine schmutzige Maschine produzierte gleichmäßig ratternd lange Reihen identisch aussehender Betonsteine. Sie hing an einem Kabel, niemand schien sie zu bedienen. Unbeirrbar zog sie ihre Bahn.
Er fuhr im dritten Gang. Er fuhr praktisch immer im dritten, mehr Gänge hatte das Fahrrad nicht. Torpedo 3-Gang-Schaltung. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass er in seinem Alter von einem Fahrrad mit Gangschaltung geträumt hatte. Aber das waren ganz andere Zeiten gewesen! Seine Freunde hatten Fahrräder mit Rennradlenker und sieben, zwölf oder 21 Gängen. Mit Ketten- statt Nabenschaltung, sodass man während der Fahrt auch mal rückwärts treten konnte. Das sah nicht nur cool aus, das machte auch ein super rasantes Geräusch, so ein hohes Surren.
Dafür war sein Fahrrad von der Stiftung Warentest als Jugendrad empfohlen worden. Und für seine Eltern war natürlich nur dieses in Frage gekommen. Undenkbar, dass sie ihn mal fragten, was er gerne hätte.
Jakob erreichte den Ortsausgang und passierte das gelbe Schild mit dem durchgestrichenen Ortsnamen.
Kurz dahinter streckte er den linken Arm heraus, sah sich um und bog in eine schmalere Straße ein.
Für ein paar Meter war der Straßenbelag tiefschwarz und glatt. Er hielt den Atem an und genoss das völlig geräuschlose Dahingleiten. Dann wurde der neue Belag wieder von hellgrauem, mit unzähligen Steinen durchsetztem Asphalt abgelöst.
Auf der rechten Seite kam ein Schild mit der Aufschrift Wasserschutzgebiet, dahinter befand sich ein kleiner, eingezäunter Hügel mit einem spitzen, silberfarbenen Deckel an der Spitze. Sven hatte sich einmal an den Zaun gestellt und reingepinkelt. ›Das kommt dann bei euch aus dem Wasserhahn‹, hatte er gesagt. Sein Haus, behauptete er, bekam das Wasser von woanders. Jakob hatte gelacht und geantwortet, dass er ihm das nicht glaubte, aber zur Sicherheit hatte er ein paar Tage zu Hause kein Leitungswasser getrunken.
Jetzt hatte er den Orbit verlassen. Jetzt kam die Weite. Es gab nur noch wenig, an dem sich das Auge festhalten konnte. Der langweilige Teil. Er hasste das. Das Knattern aus dem Betonwerk war kaum noch zu hören.
Jetzt gab es nur noch Maisfelder, Getreidefelder, Wiesen und leere Äcker.
Eine Lerche schwang sich in die Höhe und zwitscherte unverdrossen ihr einsames Lied. Die Sonne brannte ihm auf den Rücken, hellblau war der Himmel.
Hoch über ihm mussten die Sterne funkeln, je höher man käme, desto kälter würde es, bis es auch für Schnee zu kalt war. Irgendwann würden einem die Augen zu Eis werden. Wie sich das wohl anfühlte, wenn die Augen gefroren? Aber in der Kälte würde auch alles Blut gefrieren, oder? Sicher wäre man dann sowieso schon erfroren.
Die Sicht wäre im Weltraum so klar, dass man das Gefühl hätte, man müsste die Arme nur ausstrecken, um die Sterne und Galaxien zu berühren, obwohl sie hunderte von Lichtjahren entfernt waren. Und man müsste sie immerzu ansehen, weil man die gefrorenen Augen nicht mehr zumachen könnte. Vielleicht brannte sich das ein, was man als letztes gesehen hatte. Mit weit aufgerissenen Augen würde man in die Dunkelheit schweben.
Die Ochsenmühle gehörte offiziell noch zu Maunzdorf. Sie hatte nicht einmal ein gelbes Ortsschild, ein grünes Schild wies Autofahrer darauf hin, dass die paar Häuser, an denen sie gerade vorbeisausten, einen Namen hatten. Dort hatten mal Aussiedler gewohnt. Russlanddeutsche. Sehr deutsch waren sie Jakob aber nicht vorgekommen, sie hatten Namen wie Waldemar und Johann gehabt und Papa hatte gesagt, dass sie eigentlich Wladimir oder Iwan hießen. Er war mal beim Metzger, als eine der »Russen-Frauen« dort einkaufte. Sie sprach fast nichts, sondern zeigte immer nur auf das, was sie wollte. Sie trug ein buntes Kopftuch, wie eine Türkin, aber anders, und das einzige, was sie sagte, war Danke, auch wenn das überhaupt nicht passte. Und selbst dieses Wort klang falsch, eher so wie »danka«.
Seine Eltern deuteten an, dass er sich von der Ochsenmühle lieber fernhalten sollte. Manchmal stand einer der Russen-Männer mit einer Flasche in der Hand davor. Wodka, hatte Christian ihm verraten und eine vielsagende Geste gemacht. Die saufen alle.
Aber die Aussiedler waren schon wieder weg.
Ein Aufkleber pappte auf dem Ortsschild, »Ein Herz für Kinder«. Er kannte diesen Aufkleber schon lange. Früher war er leuchtend rot gewesen, inzwischen war ein Eck abgerissen und das Herz war eher braun als rot.
Jemand stand an der Bushaltestelle. Jakobs Fuß rutschte beinahe vom Pedal, als er das sah. Dort stand nie jemand. Fuhr dort überhaupt ein Bus? Nicht einmal die Russen hatten da gestanden. Die waren zu Fuß ins Dorf gegangen. Jakob hatte auch mal einen am Ortsschild stehen sehen. Er hatte den Daumen herausgestreckt. Er war mit Mama zum Zahnarzt nach Neustadt gefahren. Mama hatte ihn auch gesehen, aber sie nahmen ihn natürlich nicht mit. Wahrscheinlich wäre das zu gefährlich für eine Frau oder vielleicht stank er auch von all dem Wodka. Es war Jakob ganz recht, dass sie ihn nicht mitnahmen, weil Mama sonst nur mit dem Mann reden würde. Eines dieser langweiligen Erwachsenengespräche.
Jakobs Augen tränten beinahe, weil er unbedingt sehen wollte, wer da an der Bushaltestelle stand. Ein Mädchen, so viel sah er schon jetzt. Sie trug eine schwarze Jacke und eine helle Hose. Dunkle Haare, wie lang, das konnte er nicht erkennen, weil die Jacke auch dunkel war.
Ganz still stand sie da, den Blick geradeaus nach vorne gerichtet. Dort gab es nichts zu sehen, außer dem Straßenrand mit ein paar vertrockneten Grasbüscheln. Sie musste Jakob längst gesehen haben.
Jakob spitzte den Mund und begann zu pfeifen, aber nur eine oder zwei Noten, dann kam er sich blöd vor. Am Ende denkt sie, dass ich ihr nachpfeife. Wie die Bauarbeiter, die letztes Jahr das Dach der Grundschule neu gemacht haben. Die haben einmal sogar Mama nachgepfiffen.
Sollte er sie einmal kurz und desinteressiert mustern? Ganz beiläufig? Nein. Auf einmal wusste er nicht, wohin er schauen sollte. Auf jeden Fall nicht zu dem Mädchen.
Ohne sie anzusehen, fuhr er an ihr vorbei. Dabei versuchte er aber, irgendetwas im Augenwinkel zu erkennen. Wie alt sie wohl war? Wie sah sie aus?
Sie dagegen konnte ihn natürlich ganz gemütlich ansehen. Im letzten Augenblick, gerade als er an ihr vorbeifuhr, wandte er plötzlich den Kopf nach links, als hätte er dort gerade etwas entdeckt, das er unbedingt anschauen musste.
Dann war er vorbei. Warum hatte er im letzten Moment auch noch weg gesehen? Das war dämlich gewesen.
Was ihn aber noch mehr beschäftigte: Warum war sie überhaupt da?
Er fuhr noch etwa zehn Meter weiter, dann hielt er an. Einen Fuß auf dem Pedal, eines auf dem Asphalt, sah er sich zu ihr um. Sie stand immer noch genau so da wie vorher.
»Wartest du auf den Bus?«, rief er. Seine Stimme schien überhaupt nicht zu tragen, der Wind ergriff sie, zerstäubte sie und verteilte sie über die Felder und Wiesen. Sie wandte ihren Kopf. Ihr Gesicht sah sehr weiß aus, aber vielleicht wirkte es auch nur so, weil die Haare so schwarz waren. Schwarze Augen, darüber gerade schwarze Augenbrauen. Eine komische kleine Nase, die nur aus Nasenlöchern zu bestehen schien, darunter ein schmaler Mund, genauso gerade wie die Augenbrauen. Punkt, Punkt, Strich, Strich, Punkt, Punkt, Strich.
Hatte sie ihn nicht verstanden? Sollte er noch einmal lauter rufen? Er hatte Angst, dass sich seine Stimme überschlug oder kieksig wurde, wie das manchmal geschah, wenn er aufgeregt war.
Jakob wendete sein Rad und versuchte, nicht im Pedal hängen zu bleiben. Er schob es neben sich her.
Er fragte sich, wie seine Haare aussahen. Er hatte sie am Vortag gewaschen und wenn sie frisch gewaschen waren, hatte er immer eine so dichte Wolle auf dem Kopf, dass er damit aussah wie ein kleiner Junge. Wenn er sie nass machte, war es etwas besser, zumindest für eine Weile.
Er hielt etwa zwei Meter vor ihr an. Die Sonne fing sich im Rahmen seines Fahrrads und ließ den Lack schimmern wie Perlmutt.
»Verstehst du mich?«
Das Mädchen nickte. Sie zeigte keinerlei Mimik, ihr Gesicht war ausdruckslos wie das einer Puppe.
»Wartest du hier auf den Bus?«
»Ja.«
»Ich glaube, der fährt nicht.«
Fragend sah sie ihn an. Jakob klappte den Ständer heraus und stellte sein Fahrrad am Straßenrand ab.
Warum trug sie bei der Hitze eine Jacke? Es war nur eine dünne Jacke, aber bei 30° war es doch verrückt, mehr als ein T-Shirt zu tragen. Dennoch schien sie nicht zu schwitzen. Vielleicht kann sie nicht schwitzen, dachte er. Sie kam ihm eher wie ein Roboter vor, als wie ein Mensch. Ihre Haut und ihre Haare, alles wirkte glatt und unnatürlich.
Er ging zum Busfahrplan. Er musste sich ein wenig bücken, um die eng geschriebene Tabelle zu entziffern.
»13 Uhr 24«, sagte sie und deutete auf einen Eintrag. Noch nie hatte Jakob so dünne Finger gesehen. Das musste sein, was seine Mutter »Pianistenhände« nannte. Die abgekauten Fingernägel wollten allerdings nicht so recht dazu passen.
Ihr Kopf war direkt neben seinem, doch Jakob sah nur ihre schwarzen Haare; wie einer dieser Perlenvorhänge, die manche Leute vor der Terrassentür hatten. Nur viel dichter.
Sie richtete sich auf und sah ihn an.
Er überlegte, wie er es ihr sagen sollte, ohne dass er klang wie ein Klugscheißer. »Der Plan ist alt. Schau mal hier« Er zeigte auf eine Stelle ganz unten und ihm wurde bewusst, wie hässlich sein Zeigefinger war. Viel zu kurz und zu dick und unter dem Fingernagel war schwarzer Dreck. »Gültig bis 31. Juli«
Sie sagte nichts. Schien nicht einmal zu atmen. Roboter eben.
»Kein Bus.«
Er zuckte die Schultern. »In den Ferien fährt er, glaube ich, nur einmal früh und einmal abends.«
Sie hatte schmale Augen und gar keine Augenlider. Zumindest, so weit er das erkennen konnte.
Sie sah zurück zu dem roten Backsteinhaus und presste die Lippen ein wenig zusammen. Nur ganz leicht und ganz kurz, aber Jakob sah es trotzdem.
»Möchtest du nach Neustadt?« Blöde Frage, warum sollte sie sonst an der Bushaltestelle stehen?
Sie verschränkte die Arme, wie jemand, dem kalt ist. Und das bei 30 Grad, vermutlich war sie wirklich nicht menschlich.
»Ich kann dich mitnehmen.« Er wusste selbst nicht, warum er das gesagt hatte, es war ihm irgendwie herausgerutscht. Er hätte sich umdrehen und weiterfahren sollen. Sie hatte doch sicher selbst ein Fahrrad. Jeder hat ein Fahrrad.
Sie sah zu seinem Rad, dann zu Jakob.
»Okay«, sagte sie mit ruhiger Stimme. Sie wandte noch einmal den Kopf zu dem Backsteinhaus und Jakob fragte sich, ob dort ihre Eltern waren und sie ihnen Bescheid geben wollte. Sie tat aber nichts dergleichen, sondern stellte sich einfach neben das Rad.
Seine Schwester Paula hatte ihn früher manchmal mit dem Fahrrad mitgenommen. Er hatte sich auf den Gepäckträger gesetzt und an ihrer Hüfte festgehalten. Aber da war er noch viel kleiner gewesen.
Er schwang sich auf sein Fahrrad und sah über die Schulter. Das Mädchen nahm auf dem Gepäckträger Platz. Jakob wurde knallrot, vielleicht, weil er sich fragte, ob sie sich an ihm festhalten würde.
Sie hielt sich nicht an ihm fest.
Er trat ins Pedal und mühsam setzte das Fahrrad sich in Bewegung. Die ersten Meter musste er stehen, dann konnte er sich hinsetzen. Er hatte nicht erwartet, dass das Treten so viel schwerer war, aber er würde sich seine Anstrengung nicht anmerken lassen.
Nach einer Weile ging es besser, er konnte in den zweiten und schließlich in den dritten Gang schalten. Zum Glück war die Strecke ziemlich flach, einen Berg hätte er wohl nicht geschafft.
Er hätte gern gesehen, was das Mädchen tat. Ob sie lächelte oder eine Grimasse machte. Nein, sie hatte kein Recht, genervt zu schauen, oder? Während er sich hier abstrampelte. Vermutlich starrte sie wieder irgendwo hin.
Er konnte nur ihre Füße sehen, ihre in schwarzen Turnschuhen steckenden Füße. Wie zwei Pilotfische einen Hai begleiteten sie das Fahrrad, einer links und einer rechts schwebten sie über dem Boden und schwankten leicht hin und her.
Bald erreichten sie die Bundesstraße. Der Asphalt war hier tiefschwarz und glatt und es gab eine weiße Fahrbahnmarkierung, die mit so dicker Farbe gemalt war, dass man es spürte, wenn man darüber fuhr.
Ein Baulaster überholte sie. Der Lärm war ohrenbetäubend und der Fahrtwind drückte die braunen Grashalme am Straßenrand nieder und ließ Jakobs T-Shirt flattern.
»Alles okay?« Er warf einen kurzen Blick über seine Schulter, sah aber nur ein schwarzes Auge unter ihrem Pony.
»Hm.«
Die Sonne knallte mit aller Kraft auf Jakobs Rücken. Er stellte sich vor, dass er von Sonnenenergie angetrieben wurde und immer schneller fuhr, je mehr Energie er bekam.
Ein entgegenkommender PKW betätigte die Lichthupe. Warum tat er das? Natürlich war es verboten, jemanden auf dem Gepäckträger mitzunehmen, er hatte das auch für seine Fahrradprüfung gelernt. Aber wen interessierte das hier? Auf dem Land gibt’s kein Gesetz, sagte Paula immer. Er konnte nur hoffen, dass der Fahrer des Autos ihn nicht kannte. Er senkte den Kopf und sah zur Seite, als das Auto vorbeifuhr.
Es ging leicht bergab, als sie durch Burgkunzheim fuhren. Jakob wagte einen Blick nach hinten. Das Mädchen sah nach oben und betrachtete offensichtlich den Turm der Kirche, an der sie gerade vorbeifuhren. Das Dach war eine Barockhaube, selten in dieser Gegend, wie Papa nicht müde wurde zu erklären, wenn sie hier vorbeifuhren.
Zum Beispiel, wenn sie die Fleischmanns besuchten, die Familie des Nachbarpfarrers. Sofort hatte Jakob das Bild des Mannes vor Augen. Die wilden, etwas ungepflegt wirkenden Locken, die kleine, runde Brille und seine Angewohnheit, eigenartig auf- und ab zu hüpfen, wenn er etwas lustig fand oder wenn er aufgeregt war. Die Fleischmanns hatten vier Kinder, allesamt Jungen. Vermutlich behandelten sie darum seine Schwester Paula immer wie einen kleinen Star, wenn sie sich trafen. Paula bekam von allen Kindern zuerst einen Kuchen und die Fleischmann-Jungs wurden zurechtgewiesen, wenn sie sich, nach Meinung ihrer Mutter, »in Gegenwart einer jungen Dame« nicht ordentlich benahmen. Und Paula spielte bei all dem auch noch mit, lächelte zuckersüß und sagte brav »danke« und »bitte«.
Zu Hause war sie nie so, die Jungs hatten echt keine Ahnung. Vor Jakob hatten sie allerdings keinen Respekt. Er wurde sofort von den Buben vereinnahmt, in das Zimmer des einen oder anderen geschleppt und nach wenigen Minuten begannen sie unweigerlich, sich zu raufen. Meistens zwei gegen zwei, in wechselnden Konstellationen. So gnadenlos rau ging es bei Fleischmanns zu, dass er sich nach wenigen Minuten unwohl fühlte. So wäre die Welt, wenn es keine Frauen gäbe, dachte er einmal. Ein schauderlicher Gedanke – das Leben wäre ein ständiger Kampf um Raum, Essen und Aufmerksamkeit. Ohne jede Aussicht auf Wärme oder auch nur eine Verschnaufpause.
Ob das Mädchen auf dem Gepäckträger auch Geschwister hatte? Ausländer haben ja oft viele Kinder. Aber das konnte er sie nicht fragen.
Das Pfarrhaus, in dem die Fleischmanns wohnten, lag direkt an der Straße, ein schönes, altes Haus. Eine breite Treppe führte zur Eingangstür. Leuchtend rote Geranien zierten die Blumenkästen vor den Sprossenfenstern.
Jakob zog den Kopf ein, obwohl die Gefahr gering war, dass einer der Buben gerade jetzt aus dem Fenster sah. Wenn sie nicht auf dem Fußballplatz waren, spielten sie meistens mit ihrem Atari oder sie prügelten sich, wer einen Joystick haben durfte, es gab nämlich nur zwei. Wahrscheinlich würden sie sich aber auch prügeln, wenn sie nur zu zweit waren. Dann darum, wer auf den Sessel durfte und wer auf das Sofa musste, das bei ihnen aus irgendwelchen Gründen weniger beliebt war.
Es ging vorbei an einem kleinen Lebensmittelgeschäft mit Lotto-Annahmestelle, einem Kriegerdenkmal in Form eines knieenden Soldaten, das ganz anders aussah als das abstrakte Standbild in Maunzdorf, und einem Gasthaus mit dem Namen Schwarzer Adler. Auf der einen Seite der Tür hingen zwei Kaugummiautomaten, einer mit Süßigkeiten, einer mit Kugeln, die mit kleinen Spielzeugen gefüllt waren, auf der anderen ein Zigarettenautomat, aus dem sich ein dicker Mann gerade ein Päckchen zog. Danach ein großer Bauernhof, vor dem ein Schäferhund an einer Kette wachte und sie nicht aus den Augen ließ.
Dann hatten sie auch diesen Planeten verlassen, den letzten Außenposten der Zivilisation.
»Neustadt 5 km« stand auf dem Schild.
Der Schwung, den er von dem leichten Gefälle hatte, war aufgebraucht und er musste wieder treten. Wenn kein Wind von der Seite kam, spürte er die Hitze, die vom Asphalt abstrahlte. Das breite, schwarze Band zog sich mit nur wenigen kleinen Knicken durch hohe, grüne Maisfelder und gelbe Weizenfelder bis zur Stadt.
Das Mädchen war völlig still. Wie konnte sie nur so lange nichts sagen? Seine Mutter hätte längst etwas gesagt. Zumindest geseufzt oder gegähnt oder sich geräuspert oder so. Wahrscheinlich aber eine Bemerkung über das Wetter gemacht. Oder erzählt, was irgendwelche Leute gemacht oder gesagt hatten. Leute, die er nicht kannte. Wenn er dann fragte, wer das war, hätte sie ihm so etwas erklärt wie ›Das ist doch der Bruder von Sofies Mutter. Die dir in der zweiten Klasse ein Matchbox-Auto geschenkt hat.‹ Warum es sie kümmerte, was irgendwelche Leute taten oder sagten, begriff er nicht. Vielleicht waren Frauen so, die Mädchen in seiner Klasse quatschten auch den ganzen Tag … aber die würden sowieso nicht auf seinem Fahrrad mitfahren.
Jungs raufen und Mädchen reden. Er tat weder das eine noch das andere. Was war er?
Und was war sie? Dieses Mädchen sagte gar nichts. Am Ende konnte sie nicht gut Deutsch? Er dachte nach. Was hatte sie denn bisher überhaupt schon gesagt? ›Kein Bus‹ und ›Okay‹? Ihm war zwar kein Akzent aufgefallen, aber womöglich hatte sie einfach noch nicht genug gesagt, um das festzustellen.
Wie sollte er reagieren, wenn er in Neustadt jemanden aus seiner Klasse traf? Das könnte ja ohne Weiteres passieren. Wenn es ein Mädchen wäre, war die Antwort einfach: Er würde gar nichts sagen. Angeblich standen Mädchen ja darauf, wenn ein Typ noch andere Mädchen hatte. Das machte ihn erst interessant. Neulich hatte Claudia am Ende der Englischstunde gefragt, was Jungs und Klos gemeinsam hätten. ›Entweder besetzt oder beschissen‹ war die Antwort. Die Mädchen hatten laut gelacht, Jakob hatte so getan, als hätte er es nicht gehört. Besetzt war er jedenfalls nicht.
Und wenn er einen seiner Freunde träfe? Spätestens, wenn die Schule wieder anging, würden sie dann fragen, mit wem er da unterwegs gewesen war. Oder sogar anrufen. Wenn er dann irgendwas Cooles sagte? ›Halt so ’ne Tuss‹ oder so? Ach nein, das würden sie ihm ja doch nie abnehmen. Es war auch nicht wirklich cool, kilometerweit ein Mädchen auf dem Gepäckträger durch die Gegend zu fahren.
Die lange Kurve markierte erst die Hälfte der Strecke. Aber daran durfte man nicht denken. Es galt, den Blick nach vorne zu richten. Man konnte bereits die Türme der beiden Kirchen sehen und die Spitze des Torhauses. Oben am Hügel lag seine Schule, daneben die Realschule. Beide waren gleich hässliche Betonbauten. Von hier war sogar schon der hohe, schmale Schornstein sichtbar, auf den vor zwei Jahren mal einer aus der Siebten geklettert war. Deswegen war damals sogar die Feuerwehr angerückt.
Jakob fuhr mit seinem schweigsamen Gast am Ortsschild vorbei. Reihenhäuser, Wohnblocks, ein Zebrastreifen, links die Praxis von Jakobs altem Kinderarzt, an den er sich nicht mehr erinnern konnte, von dem seine Mutter aber jedes Mal erzählte. Dann das Zentrum.
»Wo willst du eigentlich hin?«, fragte Jakob, als er an einer roten Ampel stand. Er drehte sich um, aber er musste aufpassen, dass das Fahrrad nicht umfiel und außerdem wurde es gerade wieder grün.
Er hielt am Marktplatz. In der Mitte des Platzes, am Brunnen, saßen ein paar Mädchen, die ihm bekannt vorkamen. Vielleicht aus der Klasse unter ihm.
Das Mädchen stieg von seinem Fahrrad ab und wartete, bis er es abgeschlossen hatte.
»Danke«, sagte sie.
»Bitte«, sagte Jakob, dann wusste er nicht, was er noch sagen sollte. Vermutlich würde sie sowieso nicht reagieren, egal was er sagte. »Du verstehst aber schon Deutsch, oder?«, versuchte er es.
Sie nickte. »Ja.« Ernst sah sie ihn an, keine Spur eines Lächelns in ihrem Gesicht. War sie sauer, dass er sie gefragt hatte? Zumindest musste er nicht Englisch sprechen. In der Schule hatte er zwar ganz gute Noten in Englisch, es zu sprechen, kostete ihn aber viel Überwindung. Zumal die Englischlehrerin auch noch ziemlich hübsch war.
Vielleicht wollte das Mädchen einfach nicht mehr sprechen.
Was würden Erwachsene in so einer Situation sagen? Wahrscheinlich gerieten die nicht in solche Situationen. »Tja …«, murmelte Jakob und nickte ganz leicht. Dann ging er weiter, die Hauptstraße hoch, Richtung Bastei.
Nach ein paar Schritten wandte er sich um. Das Mädchen stand immer noch genau so da. Egal, dachte er, ich war heute schon nett genug.
Wie immer besah er sich erst die Auslage, bevor der den Laden betrat. Dort waren zwar selten wirklich wertvolle Stücke, aber Bernd stellte dort oft besonders schöne oder historisch interessante Briefmarken aus.
»Hey, Jakob!« Bernd freute sich sichtlich, dass jemand in seinen Laden kam. In den Sommerferien kam oft stundenlang kein Mensch, hatte er einmal erzählt. Wie immer hatte Jakob zu wenig Geld, um sich die Marken zu kaufen, die er wirklich haben wollte und wie immer überließ ihm Bernd ein paar »interessante Stücke«, wie er es nannte, für sehr wenig Geld. Auf jeden Fall viel weniger als das, was im Michel als Wert stand.
Als er gerade bezahlte, bemerkte er das Mädchen. Sie stand vor dem Schaufenster und betrachtete konzentriert die Briefmarken und Münzen.
Bernd bemerkte Jakobs Reaktion. »Gehört die zu dir?«
Jakob schüttelte den Kopf und wurde rot.
»Ist hübsch«, sagte Bernd und überreichte ihm seine Neuerwerbungen in einem kleinen Papiertütchen. Sorgfältig steckte Jakob sie in seinen Brustbeutel. »Doch, wirklich ganz hübsch.« Jakob spürte eine Art unsichere Aufregung bei Bernd, wie wenn der ihm eine wirklich seltene Marke in einem Prospekt zeigte, eine, die nicht im Michel war.
Er verließ den Laden und wollte sich schnell an dem Mädchen vorbeischleichen. Er sah in die andere Richtung, als hätte er sie nicht bemerkt.
»Hey«, sagte sie, nicht laut, aber immerhin so laut, dass er nicht so tun konnte, als hätte er es überhört.
»Ah.« Er lächelte flüchtig, nickte und ging an ihr vorbei.
»Wir essen ein Eis.« Was heißt wir? Und wie kann sie das einfach so feststellen? Er blieb stehen. Was wollte sie überhaupt von ihm?
»Komm.« Sie ging vor und er folgte ihr wieder auf den Marktplatz. Das Mädchen zeigte auf das Dolomiti. Als wäre es eine tolle Leistung, dass sie es gerade entdeckt hätte und er es nicht schon ewig kennen würde.
»Ich habe das Geld für den Bus.« Jetzt hätte sie eigentlich lächeln sollen, aber sie tat es nicht. »Genug für zwei Eis.«
Kurz darauf saßen sie auf dem Rand des Brunnens, jeder mit einer Tüte Eis in der Hand. »Danke für das Eis.«
Inzwischen rechnete Jakob gar nicht mehr damit, dass das Mädchen antwortete.
»Neustadt«, sagte sie und knabberte an ihrer Waffel. War sie zum ersten Mal hier? Sollte er Fremdenführer spielen? Aber was wusste er schon von der Stadt? Es war ein kleines, langweiliges Provinznest. Nicht ganz so klein und nicht ganz so langweilig wie Maunzdorf, aber auch nicht viel besser. Naja, eigentlich schon viel besser, aber auch noch keine richtige Stadt, wie Nürnberg, oder gar Hamburg, wo eine Oma von ihm wohnte, die sie jedes Jahr in den Herbstferien besuchten.
»Ich gehe hier zur Schule.« Er zeigte in eine Richtung. »Da ist das Gymnasium.«
Sie folgte mit den Augen seinem Finger, aber natürlich sah man vom Marktplatz aus die Schule nicht.
»Wo gehst du in die Schule?«
Sie zuckte leicht mit den Schultern. Er sah sie an, aber sie zeigte keine weitere Reaktion. Sie schien es nicht für nötig zu halten, diese Frage zu beantworten. Vielleicht war es ihr egal. Oder wusste sie es nicht? Ging sie gar nicht zur Schule? Aber sie musste doch auch in die Schule gehen, oder? Auch wenn sie keine Deutsche war. Oder?
Ihre Hose hatte ein paar Löcher, wie es aussah, mit der Schere hineingeschnitten. Ein kleines Loch war im Stoff, mitten auf ihrem Oberschenkel. Man konnte ihre Haut hindurch sehen, wenn sie saß. Wenn sie stand, war da nur ein dunkles Loch. Aber wenn sie saß …
Dieses Loch zog immer wieder magisch seine Blicke auf sich – er konnte nichts dagegen tun. Er war sich sicher, dass sie das bemerkte, darum sah er immer rasch weg.
Falls sie es registrierte, sagte sie zumindest nichts dazu. Na gut, alles andere wäre ja auch ein Wunder gewesen.
Er knusperte am unteren Rand der Waffel und steckte sie in den Mund. Er war eigentlich fertig. Manchmal ging er noch in das winzige Kaufhaus, aber mit dem Mädchen ferngesteuerte Autos und Homecomputer anzusehen, wäre ihm peinlich gewesen. Das waren sowieso keine Mädchensachen. Paula interessierte sich auch nicht für solche Dinge. Natürlich gab es im Kaufhaus auch Barbie und sowas, aber dafür war sie zu alt, oder?
Ich muss ihr irgendetwas zeigen, dachte er. »Kennst du den Stadtpark?«
Sie sah ihn an. Natürlich kannte sie ihn nicht. Woher auch?
Gemeinsam gingen sie in den Stadtpark und spazierten um den kleinen See mit dem Schwan und den vielen Enten.
Etwas abseits stand ein runder, weißer Pavillon. Jakob ging hinein, wo sollten sie sonst auch hingehen. Er ging einmal im Kreis, sah auf die Trauerweiden, auf den kleinen See und im Schatten der Mauer den kleinen Spielplatz, wo er früher manchmal mit Paula gespielt hatte. Ob die Schaukel inzwischen repariert war?
An der Säule direkt neben ihm war das Wort SEX ins Holz geritzt.
Erschrocken ging Jakob weiter. Warum war er ausgerechnet hier so lange stehen geblieben? Er kratzte sich am Kopf und ging die Stufen zum Weg zurück.
Das Mädchen folgte ihm. »Wo ist die Bahnhofstraße?«, fragte sie unvermittelt.
»Die Bahnhofstraße? Die kenne ich.« Er ging voran, sie lag sowieso auf dem Weg. »Hier fängt sie an und dann geht es bis zum Bahnhof.«
Sie war stehen geblieben und starrte auf das Schild mit dem Straßennamen.
»Wo willst du denn hin? Suchst du etwas?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nichts.«
Er sah sie an, aber sie wandte sich einfach um und ging zurück zum Marktplatz.
Als sie bei seinem Fahrrad waren, wartete sie ganz selbstverständlich neben dem Gepäckträger, dass er aufstieg.
Und irgendwie war das auch richtig so.
Nach einer anstrengenden Fahrt setzte er sie wieder an der Bushaltestelle vor der Ochsenmühle ab, wo er sie zuerst gesehen hatte. Er hatte lange überlegt, ob er etwas sagen sollte, wie ›nächste Haltestelle: Ochsenmühle‹ und ob das witzig wäre. Am Ende hatte er es aber sein lassen.
»Ciao«, sagte er und sie antwortete: »Ciao.«
Ohne sich umzudrehen, fuhr er nach Hause. Als er sein Fahrrad den kleinen Weg neben dem Haus hochschob, fiel ihm ein, dass er nicht einmal wusste, wie sie hieß.