Читать книгу Sommerende - M.P. Anderfeldt - Страница 20
12. Jakob
ОглавлениеEr hätte nicht sagen können, warum er wieder in den Wald ging. Es gab keinen Grund. Na gut, es hatte nie einen Grund gegeben, auch früher nicht, als er mit Paula spielte.
Wenn es ihnen im Garten langweilig wurde, sie keine Lust hatten, Boccia, Federball oder etwas anderes zu spielen, gingen sie eben in den Wald.
Sie sahen sich um und dort war der Wald, herausfordernd stand er auf der anderen Seite des Zauns und versprach Aufregung und den Hauch des Verbotenen, da ihre Eltern es nicht gern sahen, wenn sie in den Wald gingen. Vor Jahren hatten sie es ihnen sogar untersagt, das war allerdings eine Regel, die nicht weiter forciert wurde. Die Eltern nahmen wohl an, dass Jakob und Paula ohnehin kein Interesse mehr an dem Wald hätten. Oder ihnen dort keine Gefahr drohte.
Jakob wollte vorsichtiger sein als beim letzten Mal und er hatte seinen Talisman dabei. In der rechten Hand trug er eine grüne Plastiktüte der Buchhandlung Palmer, mit dem toten Igel in einer noch kleineren Tüte darin. Er wollte sehen, ob er die Lichtung noch einmal fand.
Wie immer schien am Anfang alles bekannt. Ein Trick des Waldes. Jeder Baum war vertraut; ein Baumstumpf, daneben ein Ameisenhaufen. All das kannte er.
Er ging weiter. Eine junge Eiche versuchte, sich zwischen all den Kiefern zu behaupten, die sie weit überragten. Es ging leicht bergauf.
Zwei zusammengewachsene Bäume, auch sie kamen ihm bekannt vor. Oder verwechselte er sie mit anderen Bäumen? Wie sollte man sich schon einen Baum merken?
Ein Schmetterling torkelte vorbei, irgendein heller, ein Zitronenfalter oder ein Kohlweißling. Sicher hatte er sich verirrt, im Wald gab es ja nichts für ihn zu fressen. Im Schatten war der Schmetterling kaum zu sehen, doch wenn ein Sonnenstrahl ihn traf, strahlte er, leuchtete, verspielt und doch in einem exakten Rhythmus wie der Blinker eines Autos.
Irgendwo klopfte ein Specht, aber Jakob hätte nicht zu sagen vermocht, ob der Laut von vorne oder von hinten kam.
Er hörte etwas Anderes und blieb so abrupt stehen, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Unter den normalen Geräuschen des Waldes hatte er etwas anderes vernommen, etwas Dumpfes, Unheimliches. Das war kein Geräusch, das hierher gehörte.
Jetzt war nichts mehr zu hören. Aber es war da gewesen, dessen war sich Jakob ganz sicher. Was auch immer es verursacht hatte, war vermutlich noch in der Nähe.
Er atmete flach und lauschte. Da waren noch immer die Töne des Waldes, doch jetzt kamen sie ihm gedämpfter vor, als seien sie weiter entfernt. Als würde der Wald sich ausbreiten, endlos in alle Richtungen dehnen. Egal, wohin er lief, der Wald würde sich einfach ausstrecken und ihn nicht hinauslassen.
Aber das war Unsinn, er schüttelte den Kopf und schnaubte belustigt. Oder zwang er sich dazu?
Sein Gedankengang wurde jäh unterbrochen, denn jetzt spürte er das Geräusch. »Hören« wäre der falsche Ausdruck, denn er fühlte es tief in seinem Innern, in seinem Magen, seinen Innereien. Ein Knurren? Ein Grollen?
Er wagte kaum, den Kopf zu drehen, aus Angst, dass das »Etwas« auf ihn aufmerksam würde. Dann sah er es. War es die ganze Zeit schon da gewesen? Etwa hundert Meter vor ihm schob sich etwas über den Weg. Es war, als hätten sich die dunklen Räume zwischen den Bäumen selbstständig gemacht und zu einem Wesen vereint. Doch war es kein bloßer Schatten, Jakob spürte eine ungeheure Schwere. Dennoch war er sich sicher, dass sich das Wesen sehr schnell fortzubewegen vermochte. Durch die Stämme hindurch konnte er die Form nicht richtig erkennen. Aber es war groß. Es musste die Baumkronen überragen.
Er stellte es sich wie eines der Monster vor, die er in einem alten Buch gefunden hatte, auf einem Kupferstich, vielleicht in »Reise zum Mittelpunkt der Erde«.
Glitt sein Blick in diesem Moment über die Wipfel? Nahm es Jakobs blaue Jeans wahr? Leuchtete sein weißes T-Shirt aus dem Dunkel des Waldes zu ihm empor? Oder verließ es sich ohnehin auf seinen Geruchssinn? Vielleicht bemerkte es ihn nicht, wenn er sich nicht bewegte.
Aus weiter Ferne klang das Zwitschern von Vögeln zu ihm, wie der Gruß aus einer anderen Welt.
Auf Jakobs Stirn standen Schweißperlen. Krampfhaft umklammerte er die Tüte mit seinem Talisman und versuchte, das Wesen zu erfassen. Doch es gelang ihm nicht, die Form sprengte seine Vorstellungskraft.
Der Wald hielt den Atem an. Augenblicke wurden zu Ewigkeiten.
Endlich bewegte sich das Ding. Es schien in eine andere Form zu fließen, nach unten und weg von Jakob. Nach ein paar Minuten war es verschwunden.
Zur Sicherheit wartete Jakob noch ein paar Minuten, erst dann wagte er, sich zu bewegen.
Er ging in die Hocke und legte den Kopf auf die Knie. Was war das gewesen? War da überhaupt etwas gewesen, oder hatte er sich alles nur eingebildet?
Natürlich eingebildet, beschloss er. Pfarrerssohn in kleinem Waldstück von riesigem Monster getötet, das passte nicht. Es gab keine Monster. Und wenn es welche gab, dann würden sie ganz sicher nicht in diesem winzigen Wald hausen. Nicht in Maunzdorf.
Er schüttelte den Kopf, als er aber weitergehen wollte, spürte er, dass seine Knie zitterten. Er biss sich auf die Lippen, dann wandte er sich um und ging wieder zurück.