Читать книгу Sommerende - M.P. Anderfeldt - Страница 18
10. Jakob
ОглавлениеVermutlich hätte er es auch tagsüber tun können, aber er wollte nichts riskieren.
Jakob schlich nach unten. Seine Mutter war gleich nach dem Heute Journal ins Bett, sein Vater war um etwa 11 Uhr nach oben gegangen. Seitdem hatte er nichts mehr gehört. Paula hatte das Telefon in ihr Zimmer mitgenommen und noch mit einer Freundin telefoniert, bis Mutter an die Tür klopfte. Dann hatte seine Schwester das Telefon nach unten gebracht und schnell in die Ladeschale gestellt. Sicher wollte sie nicht, dass jemand nachsah, mit welcher Nummer und wie lange sie gesprochen hatte.
Als er gut 10 Minuten lang kein Geräusch im Haus gehört hatte, öffnete Jakob seine Tür. Der Teppichboden in Innern seines Zimmers war nicht ordentlich geklebt und warf kleine Wellen, sodass die Tür über die dicken, orangefarbenen Schlaufen schleifte. Öffnete man sie zu langsam, verhakten sich manchmal winzige Schlingen im rauen Holz der Tür und knallten regelrecht. Vorsichtig drückte er die Klinke und zog die Tür in der perfekten Geschwindigkeit zu sich. Zu hören war kaum mehr als eine Art verhaltenes Fegen. In der gleichen Geschwindigkeit schloss Jakob die Tür wieder. Bis jetzt war alles gut gegangen. Aber wenn Paula nun die Tür öffnete, hätte er Schwierigkeiten zu erklären, warum er im Dunkeln aufs Klo durch den Flur wandelte. Die Ausrede, die er sich zurechtgelegt hatte, dass er auf die Toilette wollte und das Licht nicht einschaltete, um niemanden zu wecken, würde sie ihm keine Sekunde lang glauben. Mama wahrscheinlich auch nicht, aber sie würde es bei einem Schulterzucken bewenden lassen.
Paulas Zimmer lag neben seinem. Sie hatte das Schlüsselloch in der Tür mit Papier zugestopft, sodass es immer schwarz war, aber auch durch auch den Spalt unter ihrer Tür drang kein Licht, es musste drinnen also ganz dunkel sein.
Unbehelligt erreichte er die Treppe. Er umfasste das Geländer und machte sich an den Abstieg. Jakob vermied die vorletzte Stufe, die laut knarrte, wenn man sie betrat. Er war im unteren Flur. Mondlicht fiel durch das große, vergitterte Fenster und malte ein helles Rechteck auf den grauen Steinboden. Jakob holte seine Straßenschuhe und nahm sie in die Hand. Dann ging er zur Wohnzimmertür. Hier musste man besonders vorsichtig sein, aber Jakob wusste, wann er drücken, wann sacht hochheben und wann ziehen musste, um sie völlig geräuschlos zu öffnen.
Dagegen stellte die Terrassentür überhaupt kein Problem dar, seitdem sie letzten Sommer eine neue bekommen hatten, war es schier unmöglich geworden, sie laut zu öffnen. Er trat hinaus in den Garten.
Es war immer noch warm, aber kein Vergleich zur Hitze des Tages. Der Mond stand voll am Himmel und strahlte so hell, dass man die dunklen Krater auf seiner Oberfläche beinahe nicht erkennen konnte. Er wirkte fast ein wenig künstlich, wie ein kleiner Scheinwerfer, der über dem Garten aufgehängt war.
Jakob brauchte etwas Zeit, um sich zu orientieren. Er kannte den Garten wie seine Westentasche, doch mutete er bei Nacht völlig anders an. Die Schatten unter den niedrigen Büschen und Hecken waren undurchdringlich und die Stämme der schönen, schlanken Birken leuchteten fahl und bedrohlich. Gab es nicht irgendeine Geschichte mit Birken und Hexen?
Beim Gedanken an den Wald schauderte er. Ein Blick an das Ende des Gartens enthüllte eine finstere Armee aus Riesen, die im Begriff war, den schützenden Zaun zu überrennen.
Im Haus von Herrn Hemborg brannte noch Licht, vielleicht ließ es der alte Mann einfach brennen. Der alte Stall neben seinem Haus lag im Dunkeln. Vor ein paar Jahren hatten Paula und er sich einmal dorthin geschlichen. Das war sehr aufregend, weil sie immer damit rechnen mussten, erwischt zu werden, und dann würde Herr Hemborg seine Bienen auf sie hetzen.
Der Stall selbst war aber sehr enttäuschend gewesen. Das Gebäude war ziemlich baufällig und das einzige, was sie darin fanden, waren leere Kisten und Gerümpel. Außerdem hatte es darin so penetrant gestunken, dass sie es nicht lange ausgehalten hatten. Paula meinte, dass bestimmt irgendwo tote Mäuse oder Ratten lagen und langsam verwesten. Jakob sah unbehaglich auf seine in den Sandalen bloßen Füße, ob er nicht gerade in einem toten Nager stand und Paula lachte schallend. Bis heute wusste er nicht, ob sie das mit den toten Tieren nur erzählt hatte, um ihn zu veräppeln, oder ob sie es wirklich glaubte. Es wäre plausibel, oder? Aber so, wie sie dann gelacht hatte, das klang nach Verarsche … Warum nur gelang es ihr immer, ihn auf den Arm zu nehmen? Wie schaffte sie das nur?
In der Dunkelheit fielen die roten Blätter der Zierkirsche gar nicht mehr auf. Die Nacht hatte den Baum den anderen gleichgemacht. Jakob tastete um den Stamm herum und fand den schmalen Schlitz auf der Rückseite. Seine Hände glitten hinein und ertasteten, was er suchte. Als er sie nach vorne holte, hielt er in seiner rechten ein altes Messer. Er hielt die Klinge schräg nach oben, aber sie schimmerte nicht im Mondlicht. Das Metall war völlig matt. Es war kein Jagdmesser, nicht mal ein Schnitz- oder Taschenmesser, nur ein Messer, das mal jemand zum Essen benutzt hatte. Ein Besteckteil, Edelstahl rostfrei. Trotzdem hatte es Rostflecken. Noch dazu war die Klinge stumpf.
Er schob einen Haufen Zweige und Reisig zur Seite. Aus der Gesäßtasche seiner Jeans zog er eine kleine Plastiktüte und legte sie neben sich auf den Boden. Dann kniete er sich hin und begann mit dem Messer zu graben.
Trotz der langen Trockenheit war die Erde hier unter den Bäumen noch relativ locker und er musste nicht richtig graben; er wühlte eher mit dem Messer durch die Erde.
Er hatte befürchtet, dass nicht mehr viel übrig sein würde, oder beim Ausgraben alles auseinanderfiele, aber das war nicht der Fall. Noch immer war der Körper in einem Stück. Vorsichtig hob er ihn mit dem Messer hoch. Leicht war er und trocken. Wie eine Mumie. Die Stacheln hingen zusammen, ragten jetzt aber in alle Richtungen. Wahrscheinlich war das Fell auch noch dran, aber es war zu dunkel, um das zu erkennen.
Im Frühling, als er den toten Igel gefunden hatte, hatte der ganze Körper vor Maden und Würmern gewimmelt und angeekelt hatte Jakob ihn mit Erde und Blättern bedeckt. Jetzt hatten die Maden alles gefressen, was zu fressen war. Die Knochen und die Stacheln gehörten anscheinend nicht dazu.
Ohne den Kadaver zu berühren, bugsierte er ihn in die Plastiktüte und verschloss sie fest, indem er sie verknotete.
Er strich behutsam mit den Fingerspitzen über die Oberfläche. Die Stacheln konnten nicht mehr pieksen, aber er spürte, wo sie waren. Es fühlte sich warm an. Strahlte das tote Tier immer noch Wärme ab? Oder entstand sie bei der Verwesung?
Er fragte sich, wie genau der Kadaver aussah. Hatte er noch Augen? Krallen? Zähne? Er wusste, dass diese Tiere messerscharfe Zähne hatten.
Für einen Moment hatte er eine Vision des Igels, der sich aus der Tüte befreite, mit spitzen, gelben Zähnen das Plastik aufriss, eine vertrocknete, zerdrückte Schnauze durch das Loch steckte –
Aber das Tier war tot. Er warf die Tüte ein wenig in die Höhe und fing sie auf. Wenn man es nicht wusste, konnte man sich glauben, dass darin ein Ast oder ein Stück vertrocknete Baumrinde war.