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6 Die grüne Flagge

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Sidney Grice lächelte dünn, als Mrs Dillinger das Zimmer verließ.

»Ihr kleines Erbe wird sich rasch in Luft auflösen, wenn Sie sich jedes Streuners erbarmen, der an meiner Türe kratzt.«

Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben. »Haben Sie denn gar kein Herz? Der Frau sind Gatte und Tochter grausam genommen worden, ihrem Schwiegersohn droht der Galgen, und ihr bleibt nichts als die Erwartung eines Kindes, das sie wahrscheinlich nicht wird ernähren können.«

»Falls sie Wohltaten erwartet, sollte sie besser ins Arbeitshaus gehen.« Er warf sein Notizbuch auf den Tisch. »Oder in die vorgeblich christliche Kirche, die sie besucht. Woher wissen Sie im Übrigen, dass er unschuldig ist?«

Ich setzte mich meinem Vormund gegenüber und sann der Frage nach, konnte sie aber nicht beantworten.

»Es gibt mehrere Vorläufer dieses Verbrechens«, teilte er mir mit, »zuletzt den Fall von Jonathan Carvil, dem Stecher von Sidmouth, wie ihn die Massenblätter so schillernd bezeichneten. Es gibt erstaunliche Parallelen, zumindest auf den ersten Blick. Auch er behauptete, im Nebenraum geschlafen zu haben, während seine Ehefrau abgeschlachtet wurde – was durchaus wörtlich zu verstehen ist. Ihr Körper wurde fachgerecht zerlegt und hergerichtet wie für den Bratspieß, und ihre Hände wurden nie gefunden. Es stellte sich heraus, dass er an eben jenem Tag eine Botschaft seiner Frau an ihren Liebhaber abgefangen hatte. Ich hoffe, Sie sind nicht allzu leicht aus der Fassung zu bringen, Miss Middleton.«

»Ich glaube nicht«, sagte ich, »und nennen Sie mich doch bitte March.«

»Also gut, March. Eingedenk Ihrer Stellung als mein Mündel halte ich es jedoch für unangebracht, wenn Sie mich mit meinem Taufnamen ansprechen.«

»Darauf käme ich nicht im Traum.« Ich goss uns zwei Tassen aus der Teekanne mit Weidenmuster ein.

»Halt«, rief mein Vormund aus, als ich den Milchkrug anhob.

»Was ist denn?«

»Ich trinke doch nicht das Euterexkret von Rindern«, sagte er. »Schon der Geruch ist abscheulich.«

»Sie lassen es ekelhaft klingen.«

»Es klingt genauso ekelhaft, wie es ist. Ausdrücklich sei daran erinnert, dass die Kuh nur deshalb Milch übrig hat, weil ihr das Kalb entrissen wurde, um ihm die Kehle durchzuschneiden. Wäre ich kein so ausgezeichneter Gastgeber, hätte ich gar keine Milch im Haus. Schon das Wort gerinnt mir auf der Zunge.«

Ich stellte den Krug wieder hin und fragte: »Was ist mit Jonathan Carvil passiert?«

»Auch er gab an, von einer sich schließenden Tür geweckt worden zu sein. Die Geschworenen glaubten ihm nicht.«

»Hatten Sie mit dem Fall zu tun?«

Mir fiel auf, dass es weder Bilder an der Wand gab noch Fotografien auf dem Schreibtisch.

»Carvil zog mich hinzu.« Er roch misstrauisch an seinem Tee. »Und ich riet ihm, außer Landes zu fliehen, doch er ignorierte meinen Rat und handelte sich dafür den Strick ein. Ich verliere nur ungern einen Klienten, aber dieser Fall lehrte mich etwas sehr Wichtiges – nämlich stets auf Vorauszahlung zu bestehen.« Er zog mit scharfem Ruck an der Klingelschnur. An ihrem Ende hing ein Totenkopf aus Elfenbein, der sich im Kreis drehte, als er losließ. »Der Tee ist kalt und hat zu lange gezogen.«

»Und Sie denken, der Fall Ashby wird ebenso ausgehen?«

»Mit großer Sicherheit.« Sidney Grice warf mir den Brief zu. »Schauen Sie sich das mal an.«

Auf dem Umschlag stand mit Bleistift in ungelenken Großbuchstaben geschrieben:

DEDEKTIV MR GRISE

Der Bogen war ähnlich beschriftet, die Zeilen fielen nach rechts hin ab:

LIEBER MR GRISE

BITTE HELFEN SIE MIR ICH BIN UNSCHULDICH

IHR EHRGEBENER

WILLIAM ASHBY

Molly kam herein. »Füll meine Flasche auf, Molly. Wenn es an der Tür läutet, kümmere ich mich selbst darum.«

»Jawohl, Sir.« Molly ging, und Sidney Grice fragte: »Was halten Sie also davon?«

»Die Hand ist ungeübt.«

»Offensichtlich. Aber warum wurden diese Zeilen geschrieben?«

»Um Sie um Hilfe zu bitten«, antwortete ich, und Sidney Grice schnaubte.

»Das glaube ich kaum. Weshalb dieses dürftige Geschreibsel durch eine so wortgewandte und attraktive Frau überbringen, um sein Anliegen zu vertreten?«

»Sie scheinen sich eine sehr gute Meinung von ihr gebildet zu haben«, sagte ich, und Sidney Grice zupfte an seinem Ohr.

»Eine der intelligentesten Frauen, denen ich je begegnet bin«, erwiderte er.

Ich leerte meine Tasse und fragte: »Aber welchen Grund könnte er sonst haben, das zu schreiben?«

Sidney Grice legte die rechte Hand an sein Auge.

»Darauf weiß ich noch keine Antwort.« Er schob das Auge zur Nase hin. »Ich werde jedoch das Gefühl nicht los, dass der Schlüssel zum Ganzen in diesem Brief liegen könnte.« Er stand auf. »Aber wir haben schon genug Zeit vertan. Ich muss die Flagge hissen.«

Wir traten in die Diele, wo sich ein kleines Messingrad an der Wand befand, das er nun in ein rundes halbes Dutzend Umdrehungen gegen den Uhrzeigersinn versetzte.

»So hisse ich draußen die grüne Flagge«, erläuterte er. »Die Kutscher im Umkreis halten Ausschau danach. Wissen sie doch, dass ich stets ein gutes Trinkgeld gebe.«

Molly eilte mit einer braunen Flasche herbei, die er in einen verschrammten Lederranzen schob, um dann einen Ulster von der Garderobe abzuhängen.

»Wohin gehen wir?«, fragte ich.

Sidney Grice hielt inne, einen Arm im Ärmel. »Wir?«

»Haben Sie meine Bedingung vergessen?«

»Ich vergesse nie etwas.« Er legte sich den Mantel um. »Und am wenigsten Bedingungen. Ich werde Sie zu allen Treffen mitnehmen, die während dieser Ermittlung anberaumt werden mögen. Jetzt aber fahre ich zur Leichenhalle. Schwerlich ein geeigneter Ort, um eine junge Dame zu unterhalten.«

»Ich habe nicht um Unterhaltung gebeten, und wenn Sie mich nicht mitnehmen, muss ich Ihnen sagen, dass damit unsere Vereinbarung erlischt.«

Er zog einen Elfenbeinstock mit Silberknauf aus einem alten Eichenständer. »Sie würden Mrs Dillinger so grausam im Stich lassen, weil Sie Ihren Willen nicht bekommen?« Er setzte sich einen breitkrempigen weichen Filzhut auf.

»Nicht ich breche unsere Vereinbarung.«

Die Türglocke schellte.

»Jetzt ist kein Platz für weibliche Empfindlichkeiten.«

Er drehte das Rad im Uhrzeigersinn und hängte sich den Ranzen über die Schulter.

»Ich mag ja weiblich sein«, sagte ich, »aber empfindlich hat mich noch niemand gescholten. Sie lassen mir keine andere Wahl. Ich ziehe mein Angebot zurück.«

Sidney Grice machte eine finstere Miene und öffnete die Tür, vor der ein Droschkenkutscher stand.

»Ich bin gleich draußen.« Er wandte sich mir wieder zu. »Ich lasse mir nichts vorschreiben, schon gar nicht von einem Mädchen.« Er griff sich ein Paar Lederhandschuhe. »Überdies ist es sehr kalt in der Leichenhalle. Sie werden Ihren Mantel brauchen.«

Mord in der Mangle Street

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