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2 Der Würger von Chelsea

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Es war mein letzter Tag. Mr Warwick, der Makler, traf pünktlich um neun ein. Ich übergab ihm die Schlüssel und verließ mein Elternhaus, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Meine Familie hatte über dreihundert Jahre lang im Grange gewohnt, und zweifellos würde es noch einmal so lange ohne uns dort stehen.

George Carpenter, der alte Wildpfleger, fuhr mich in einem klapprigen Karren zum Bahnhof. Sein uralter Esel Onion plagte sich den Parbold Hill hinauf und stakste dermaßen zögerlich auf der andere Seite hinab, dass ich den Zug zu verpassen fürchtete. Aber wir kamen rechtzeitig an, und George trug meine Reisetasche zum Bahnsteig.

»Das hat Mrs Carpenter für Sie gebacken.« Er reichte mir ein Päckchen aus braunem Wachspapier, das mit brauner Schnur umwickelt war. »Falls Sie Hunger kriegen.«

Ich bedankte mich, und er scharrte mit den Füßen.

»Wir haben den Colonel sehr geschätzt.«

Ich gab ihm fünf Schillinge in die Hand, und der Zug pfiff und zog mit einem Ruck an. Ich fragte mich, ob ich ihn je wiedersehen würde oder Ashurst Beacon oder den seichten, verseuchten Fluss Douglas, der sich als Safranfaden unter dem schnurgeraden Liverpool-Leeds-Kanal entlang schlängelt.

In Wigan Wallgate wechselte ich den Bahnhof und wartete mit gesenktem Kopf am Straßenrand, bis eine Prozession trauernder Familien hinter vier Särgen vorbeigezogen war. Vor drei Tagen erst hatte es eine Schlagwetterexplosion in der Zeche gegeben, und die ganze Stadt war noch von Wut erfüllt.

Im Bahnhof Wigan North Western erwarb ich ein Buch bei W.H. Smith & Son und saß bald wieder im Zug, in einem Nichtraucherabteil nur für Damen und ohne Verbindungsgang. Da alle anderen Plätze frei waren, konnte ich mir Mrs Carpenters ganze Wildpastete, drei Zigaretten und einen kleinen Becher Gin aus dem Flachmann meines Vaters gönnen, ehe der Zug kreischend in Rugby zum Stehen kam.

Nach einigem Geschrei und Türenschlagen ertönte der Pfiff des Schaffners. Ich glaubte schon, unbehelligt zu bleiben, als plötzlich die Tür aufflog und eine gut gekleidete Dame mittleren Alters das Abteil bestieg und sich mir gegenüber setzte. Sie machte einen etwas strengen und steifen Eindruck auf mich, und wir schwiegen eine Weile lang, bis sie die Nase rümpfte.

»Haben Sie etwa geraucht?«

»Nein.«

Sie streifte den linken Handschuh ab, legte ihn mitsamt ihrem Hut auf den Sitz neben sich und sah mich an.

»Was lesen Sie denn da?« Sie linste herüber. »Der erschütternde Fall des Giftmörders von Primrose Hill. Was für ein Stuss. Kaufen Sie den Würger von Chelsea. Ist schön grausig und viel amüsanter.« Sie rümpfte erneut die Nase. »Sie haben doch geraucht.«

»Könnte sein«, sagte ich, und die Dame lächelte. Sie hatte kleine, weiße Zähne und ein spitzes Kinn wie das eines Kindes.

»Dann wird’s Ihnen wohl nichts ausmachen, wenn ich es auch tue.« Sie zog ein silbernes Etui aus ihrer Handtasche. »Hätten Sie auch gern eine Türkische?« Sie entflammte ein rotes Streichholz, zündete beide Zigaretten an und sog den Rauch tief in ihre Brust. »Ah, tut das gut. Hab mich den ganzen Tag wie verrückt darauf gefreut. Charles missbilligt es. Deshalb behalte ich meinen rechten Handschuh an, damit sich meine Fingerspitzen nicht verfärben. Rauchen ist mein großes Geheimnis. Haben Sie irgendwelche großen Geheimnisse? Ganz sicher doch, und Sie müssen mir das allerschockierendste verraten, ehe wir aus diesem Waggon aussteigen.«

Vor langer Zeit brachte ich einen Mann um – auf ewig den edelsten – und werde doch nie dafür hängen.

»Charles meint, es hemmt das Wachstum«, sagte die Dame. »Als würde ich noch in irgendeine wünschenswerte Richtung wachsen in meinem Alter. Morgen werde ich zweiundvierzig. Nicht dass er sich dran erinnern wird. Dr. Grace’ Kricketresultate kennt er allesamt auswendig, aber mit den Namen seiner eigenen Kinder hat er Mühe. Er zwingt kleine Jungs, totes Griechisch zu lernen. Wie kann man so etwas Grausames tun.«

Die Dame holte Luft.

»Herzlichen Glückwunsch.« Ich bot ihr meinen Flachmann an, und sie stürzte einen Becher voll herunter.

»Harriet Fitzpatrick«, sagte sie. »Harriet für Sie.«

»March Middleton. March.«

»Fahren Sie nach London, March?«

»Ja. Zum ersten Mal.«

»Die besten Läden und die schlechtesten Menschen der Welt.« Sie drückte ihre Zigarette auf dem Fensterbrett aus. »Da mögen Sie die elegantesten Kleider finden, müssen aber über ein verhungerndes Kind steigen, um das Geschäft zu betreten. Sind Sie auf Verwandtschaftsbesuch?«

»Ich habe keine Verwandten«, sagte ich. »Meiner armen Mama versagte vor Anstrengung das Herz, als ich vor einundzwanzig Jahren zur Welt kam, und mein teurer Papa fand vergangenes Jahr den Tod, als er in der Schweiz in einen Wasserfall stürzte. Die folgenden drei Monate habe ich damit zugebracht, sein Leben aufzuzeichnen. Das Buch ist kurz vor Weihnachten erschienen. Colonel Geoffrey Middleton – Sein Leben und Wirken. Vielleicht haben Sie es gelesen.«

Harriet schüttelte den Kopf. »Aber wo werden Sie unterkommen?«

»Bei meinem Patenonkel, der sich freundlicherweise als gesetzlicher Vormund zur Verfügung gestellt hat.«

»Oh, Sie Ärmste.«

Sie hatte ein beneidenswert zierliches Näschen.

»Vermutlich ist es so am besten.« Ich ließ meine Zigarette zu Boden fallen und trat sie aus. »Papa hat letztes Jahr an der Börse viel Geld verloren und musste eine hohe Hypothek auf das Haus aufnehmen. So bescheidene Mittel hinterließ er mir, die ich zum größten Teil erst mit fünfundzwanzig angreifen darf, und ein dermaßen geringes Einkommen aus Rücklagen, dass ich unser Haus nicht hätte halten können. Und da die Blüte meiner Jugend rasch verwelkt, werde ich schwerlich einen Gatten einfangen, ehe ich dafür zu alt bin.«

Harriet lachte auf. »Verzeihung. Bitte fahren Sie fort.«

»Wäre mein Patenonkel nicht aufgetaucht, ich hätte nicht gewusst, was tun. Für ein Handwerk bin ich ungeeignet und für eine Anstellung als Dienstmädchen zu stolz. Daher war ich höchst erleichtert, als er mir sein Beileid aussprach und weiter schrieb, dass mein Vater ihm einmal einen großen Gefallen getan habe und er bestrebt sei, die Schuld zu begleichen.«

Harriet betrachtete mich nachdenklich. »Darf ich fragen, wann Sie diesen herzensguten Gentleman zuletzt gesehen haben?«

»Oh, aber ich bin ihm nie begegnet. Tatsächlich erinnere ich mich nicht einmal, dass mein Vater je von ihm gesprochen hätte.«

Harriet goss sich einen weiteren Schluck aus meinem Flachmann ein, ehe sie ihn mir zurückgab.

»Sind Sie sicher, dass Ihre Erbschaft klein ist?« Sie sah mich an, als wäre ich ein verletzter Streuner. »Es wäre mir nicht lieb, würde irgendein skrupelloser Schurke Sie um Ihr Vermögen betrügen.«

»Sie ist wirklich sehr klein«, sagte ich, »und ich habe diese Möglichkeit erwogen. Ehe ich den Vorschlag meines Patenonkels annahm, trug ich dem Advokaten meines Vaters auf, Erkundigungen einzuholen. Allem Vernehmen nach stammt Mr Sidney Grice aus guter Familie und genießt einen ausgezeichneten Ruf.«

Harriet hustete.

»Sidney Grice, der Privatdetektiv?«

»Sie haben von ihm gehört?«

»Das will ich meinen«, sagte Harriet. »Man kann ja kaum eine Zeitung aufschlagen, ohne von seinen Heldentaten zu erfahren. Erst letzte Woche hat er doch beinahe die Entführung des Erzherzogs von Thüringen im Hyde Park vereitelt, und es wird gemunkelt, er habe den Prinzen von Wales wiederholt vor einem Skandal bewahrt. Oh, Sie Glückspilz. Hätte ich bloß einen so feschen, heldenhaften und gescheiten Mann an meiner Seite.«

Wir feierten mein Glück mit zwei Zigaretten und leerten den Gin, dann verfiel Harriet in Schweigen, und ich schaute aus dem Fenster. Die Hügel wurden flacher, das Grün verwandelte sich in Rot, und die Ziegelsteine stiegen immer höher und höher. Es schien kaum Zeit vergangen zu sein, als wir schließlich in den Bahnhof Euston einfuhren.

»Sie kommen auch zurecht?«, fragte Harriet, und ich bejahte.

»Ich nehme jeden ersten Dienstag im Monat den gleichen Zug hierher. Sollten Sie mal eine Freundin brauchen.«

»Bestimmt werde ich in London viele neue Freunde finden.«

Harriet sah mich an.

»Es kann hier sehr einsam sein.«

Sie erhob sich und beugte sich vor, um ihren Hut im kleinen Spiegel über meinem Kopf zu richten. Ich stand ebenfalls auf, schaute mich an – die Haut unmodisch gebräunt von zu vielen langen Spaziergängen ohne Sonnenschirm, das Haar ein stumpfes Graubraun – und dachte zum hundertsten Mal an diesem Tag an Edward.

»Nehmen Sie sich vor Taschendieben in Acht«, trug sie mir auf, »und vor Ausländern. Noch Gin übrig?«

»Ich fürchte, nein.«

Ein Gepäckträger kam herbei, und Harriet zog das Rollo runter.

»Bist du schon mal geküsst worden?«, fragte sie.

»Nein«, sagte ich, als sie sich mir zuneigte.

Ich schloss die Augen, sie duftete nach Lavendel.

»Jetzt bist du’s«, sagte sie, und das Rollo schnappte hoch. Der Gepäckträger öffnete die Tür, wir stiegen aus, sie zwinkerte mir zu und flüsterte noch: »Mach’s gut.« Dann war sie in der Menge verschwunden.

Mord in der Mangle Street

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