Читать книгу Mord in der Mangle Street - M.R.C. Kasasian - Страница 16
12 Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern
ОглавлениеDer Konstabler war schon auf den Beinen, als wir nach draußen traten.
»Hab ich dir nicht gesagt, dass du verschwinden sollst?«, rief er einem zerlumpten Streichholzmädchen zu, das sich augenblicklich davonmachte und dabei mit einem langen Stock vor sich über den Boden kratzte.
»Lassen Sie sie in Ruhe«, sagte Sidney Grice ruhig. »Sie könnte unsere erste Zeugin sein.«
Der Konstabler wieherte auf. »Schöne Zeugin, die. Blind wie ’ne Schnecke isse.«
»Ein Grund mehr, sie nicht zu drangsalieren«, sagte ich.
»Er ist Polizist. Es ist seine Aufgabe, Leute zu drangsalieren«, erklärte mein Vormund. »Verzeihung«, rief er, als das Mädchen um die tote Ratte herumging.
Sie blieb stehen und drehte sich um, die Augen mit Streifen aus altem Sackleinen verbunden, während wir zu ihr aufschlossen.
»Hab gar nix getan.« Ich sah, dass sie noch ein Kind war, elf oder zwölf Jahre alt, unbeschuht, mit krummen Beinen und Armen, die fast so dürr waren wie ihr Stock. Sie schien kaum kräftig genug, den eigenen Körper zu tragen, zu schweigen von dem hölzernen Bauchladen, der an einem Seil um ihren Hals hing.
»Wenig wahrscheinlich«, sagte Sidney Grice. »Aber wir wollen nur mit dir reden.«
»Wer is wir?«
»Das ist Mr Grice, und ich bin Miss Middleton. Wir tun dir nichts.«
Irgendwann einmal war ihr der linke Wangenknochen gebrochen worden, was eine schräge Delle in ihrem Gesicht hinterlassen hatte.
»Was wollnse dann?«
»Nur ein paar Fragen stellen«, sagte Sidney Grice. »Und für die Antworten werde ich dich bezahlen.«
»Wie viel?«
Sie hatte keine Schneidezähne mehr, und die Haut um ihren Mund war von Pusteln übersät.
»Kommt ganz drauf an, ob du die Wahrheit sagst.« Mit dem Knauf seines Gehstocks hob er ihr Kinn an. »Und du kannst sicher gehen, dass ich es merken werde.«
»Sinse Polente?«
»Ich bin ein Gentleman.«
Sie legte die Hände schützend über ihren Bauchladen. »Meine Schwester hat gesagt, denen soll ich ausm Weg gehen.«
»Mr Grice ist ein ehrenwerter Gentleman«, versicherte ich ihr.
Sie legte den Kopf schräg. »Genau die Sorte, vor derse mich gewarnt hat.«
Sidney Grice gluckste. »An dieser Stelle verkaufst du üblicherweise?«
»Schon möglich.«
»Und warst du Montag hier, also vorgestern?«
Das Streichholzmädchen fuhr zusammen. »Das könnter mir nicht anhängen.«
»Wir werfen dir nichts vor«, sagte ich.
»Noch nicht.« Mein Vormund beugte sich vor, um sie prüfend zu betrachten.
»Hab den ganzen Tach mein Revier besetzt. Könnter jeden fragen. Kommen haufenweise Typen vorbei. Einer war Polente. Hat mir ’n Apfel geschenkt.«
»Welche Farbe hatte der Apfel?«
Sie schaute ratlos drein.
»Das war nicht nett«, sagte ich.
»Und dein Revier ist draußen vor dem Eisenwarenladen?«, fragte Sidney Grice unbeeindruckt.
»Genau da, wo jetzt der Greifer sitzt, da auf meiner Kiste. Die hat Mr Hashby für mich rausgestellt. Is’ ’n feiner Herr, Mr Hashby. Lässt mich den ganzen Tag da sitzen, weil’s vorm Regen geschützt is’. Ich krieg Schläge, wenn die Ware nass wird. Er bringt mir manchmal Wasser und was zu essen raus. Hat mir gleich nach Schlag acht ’ne Tasse Milch gegeben, gleich morgens.«
»Wie war sein Auftreten?«
»So wie immer. So ein Stiller isser. Kein Schnösel. Kein vornehmes Getue. Das is’ ’n Guter, der Mr Hashby.«
»Und Mrs Ashby?«, fragte ich, und Sidney Grice schnalzte mit der Zunge.
Das Streichholzmädchen sog erst die eine, dann die andere Wange ein und sagte: »Die, die war ’ne Menge Sachen.«
»Was für Sachen?«
»Na, ’ne elende Mistkuh meistens. Hat mich verscheucht, wenner nich’ da war. Einmal hatterse erwischt, wiese mich innen Schnee schubst. Hatten dann mächtig Ärger deswegen, die beiden. Die hatten ganz oft mächtig Ärger, die beiden.«
»Weswegen?«
Mein Vormund stöhnte. »Das ist kein Damenkränzchen hier.«
Das Streichholzmädchen bohrte sich in der Nase und wischte den Finger an der Schulter ab.
»Wegen allem und nix. Kam mir so vor.«
Sidney Grice trat um sie herum.
»Und wie liefen die Geschäfte am Montag?«, fragte er hinterrücks.
Sie drehte halb den Kopf. »Hab nix verdient. Hab sogar schlimmer als nix verdient. So ’n Saukerl hat sich eine von meine Schachteln geklemmt, und dafür krieg ich dann eine gelangt und kein Abendbrot und musse bezahlen.«
»Wer hat deine Streichhölzer gestohlen?«, fragte ich.
»Ich …«
»Schon gut«, warf mein Vormund ein. »Den Fall werde ich wohl kaum verfolgen. Wie liefen Mr Ashbys Geschäfte?«
»Hat selber nix verdient. Keine Seele kam rein, nich’ am Tach und nich’ am Abend.«
»Da bist du sicher?«
»Sicher wie Katzenscheiße.«
Er stellte sich ihr wieder gegenüber. »Wann hast du Schluss gemacht?«
»So Mitternacht. Bisschen später vielleicht.«
»Aber warum arbeitest du so spät noch?«, fragte ich.
»Dann kommen die Kerle aus den Pubs an den beiden Ecken hier, und manche brauchen Feuer.«
»Und du hast nichts gehört?«
Das Streichholzmädchen zog die Überreste einer Wolljacke enger um ihre hühnerknochigen Schultern.
»Klar hab ich was gehört. Bin vielleicht blind, aber nich’ taub. Sehnse lieber mal zu, dasses sich lohnt für mich, Mister.« Sie senkte die Stimme. »Hab die Tür aufgemacht, um die leere Milchtasse wieder reinzustellen wie immer. Und da hör ich Mr Hashby schreien. ›O mein Gott, Sarah. Hilfe! Mord!‹«
»Und was dann?«, fragte Sidney Grice.
»Nix.« Das Streichholzmädchen spuckte einmal aus. »Hab mich verduftet, das war’s.«
Sidney Grice holte zwei Münzen aus seiner Hosentasche.
»Alsdann«, sagte er, »diese Münzen sollst du beide haben, wenn du mir sagen kannst, was für welche es sind.«
Das Streichholzmädchen zupfte sich etwas aus den Haaren und zerdrückte es zwischen Zeigefinger und schwarzem, schartigem Daumennagel.
»Wie soll ich ’n das anstellen?«
»Gebrauch deine Augen.«
»Wie grausam Sie sind«, sagte ich.
»Ganz wie du sie gebraucht hast, als du um die tote Ratte herumgegangen bist, ohne sie auch nur ein einziges Mal mit deinem Stock zu berühren.«
Das Streichholzmädchen schüttelte den Kopf. »Die war schon da, als ich die Straße hochkam.«
»Ich hatte sie einige Zoll weit mit meinem Gehstock verschoben.«
»Habse gerochen.«
Sidney Grice lachte, warf die Münzen in die Höhe, und das Streichholzmädchen fing sie behände auf.
»Nicht sie ist hier blind«, meinte er zu mir. »Sondern unser uniformierter Freund dort drüben. Ich denke, wir sind hier fertig, Miss Middleton.«
»Aber warum treiben Sie ein Spiel mit ihr?«, fragte ich, während wir die schmale Straße zurückgingen. »Wenn die Leute merken, dass sie nicht blind ist, wird sie ihre Arbeit verlieren, und sie ist so schon halb verhungert.«
»Ich wollte sehen, ob sie eine gute Lügnerin ist.« Sidney Grice stupste mit seinem Gehstock einen Stadtstreicher an, der am Straßenrand schlief. »Und sie erwies sich, ungewöhnlich für eine Angehörige des grausameren Geschlechts, als eine schlechte.«
Wir gingen am Duke of Marlborough vorbei, einem der Pubs, die das Mädchen erwähnt hatte. Die Dünste von Bier und Gin waren betörend.
»Und nun?«, fragte ich, während er einen zerbrochenen Krug aus dem Weg trat.
»Nun, March. Wie wäre es mit einer flüssigen Erfrischung? Ich denke, nach diesem Tag haben wir uns einen kräftigen Schluck besten Tees verdient.«
Könnte ich doch sagen, es war Liebe auf den ersten Blick. Du kamst zu uns mit einer blutenden Wunde am Kopf, weil du einer Wette wegen versucht hattest, eine Sektflasche darauf zu zertrümmern. Es war drei Uhr morgens, und ich war dir böse. Nicht nur hattest du mich gestört, sondern meinen Vater um den Schlaf gebracht, der einen langen Tag hinter sich und einen frühen Aufbruch vor sich hatte. Er musste deine Kopfhaut nähen. Ich hielt die Petroleumlampe in einer Hand und versuchte mit der anderen, dich ruhig zu halten, und schimpfte mit dir, weil du ein solches Gewese machtest, und dann erbrachst du dich über deine Ausgehuniform, und ich schalt dich wieder aus.
Am nächsten Morgen kamst du dich entschuldigen, warst sehr blass und sehr wehleidig, eher ein reuiger Bengel als ein Krieger für das Empire. Ich konnte nicht einmal so tun, als wäre ich dir gram, als du mir eine welke weiße Rose reichtest, rückwärts tratst, über eine Kiste Verbandsmaterial stolpertest und deine Wunde wieder aufplatzte. Es war der Beginn einer Liebe auf den zweiten Blick, und Liebe auf den zweiten Blick ist ewige Liebe. Das hast du mir einmal gesagt – also muss es stimmen.