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7 Der Hansom

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In der Droschke erklärte mir Sidney Grice einige Dinge.

»Beweismittel sind vergänglich«, sagte er, »doch sie verfallen mit durchaus unterschiedlicher Geschwindigkeit. Die ägyptischen Pyramiden, zum Beispiel, legen selbst nach einigen tausend Jahren noch Zeugnis über ihre menschlichen Erbauer ab; würde sich indes ein Schmetterling auf diesem Sims hier niederlassen, wäre jeglicher Beweis seiner Anwesenheit verschwunden, sobald ihn eine Brise forttrüge.«

»Außer, es gelänge, ihn zu fotografieren«, sagte ich. Mein Vormund blickte spöttisch.

Die Mietdroschke, ein Hansom, schlingerte um einen Holzstoß herum, und Sidney Grice sagte: »In diesem Fall teilt sich die Beweislage in drei Aspekte. Der erste ist das Opfer, besser gesagt dessen Leiche, und um sie müssen wir uns als Erstes kümmern, denn menschliche Körper und die Hinweise, die sie uns geben können, zerfallen äußerst schnell. Der zweite ist der Tatort. Je länger man Beweismaterial liegen lässt, desto wahrscheinlicher ist es, dass es absichtlich oder unabsichtlich vernichtet oder entwendet wird. Der dritte ist der Verdächtige selbst. Ihm können wir uns getrost zum Schluss widmen, schließlich wissen wir ja, dass er uns nicht davonläuft. So hat er zwar die Möglichkeit, etwas länger an seiner Geschichte zu feilen, meiner Erfahrung nach steigt mit jedem Tag in Polizeigewahrsam jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass er die Nerven verliert, sich in Widersprüche verwickelt oder gar gesteht. Haben wir erst einmal diese drei Elemente untersucht – Opfer, Tatort und Mörder –, müssen wir sie nur noch sinnvoll verknüpfen, und dann können wir alle nach Hause gehen und uns bei einer schönen Tasse Tee auf eine vorzügliche Hinrichtung freuen.«

Sidney Grice fischte die Flasche aus seinem Lederranzen, entkorkte sie und nahm einen kräftigen Schluck.

»Grice’ Original Wärmespeichernde Teeflasche«, erklärte er. »Nach meinen persönlichen Anweisungen in einer Glasbläserei auf der Insel Murano gefertigt.«

Wir holperten über ein Schlagloch; mein Kopf schlug hart gegen das Fenster.

»Was ist so besonders daran?«

»Nun, sie hält meinen Tee so lange warm, dass ich ihn selbst nach drei Stunden noch mit Genuss trinken kann.« Er nahm einen weiteren Schluck. »Sie besteht aus einer kleineren Flasche innerhalb dieser größeren, wobei der Zwischenraum mit Lammwolle gefüllt ist, die, wie Sie wissen, hervorragend Wärme speichert. Weshalb wir ja auch Decken und Kleidung daraus herstellen.« Er nahm abermals einen großen Schluck, setzte den Korken wieder auf die Flasche und klopfte ihn mit dem Handballen fest. »Eines Tages werde ich meine Erfindung im großen Stile produzieren lassen und mich dann auf meinem Landsitz in Dorset zur Ruhe setzen, um meine Memoiren zu verfassen, nach Öl zu bohren und Bienen zu züchten.«

Das Pferd stolperte, und die Kutsche schwankte hin und her.

»Darf ich Ihnen eine Verbesserung vorschlagen?« Ich griff nach der Halteschlaufe. »Ergänzen Sie Ihre Flasche doch um einen Becher, den man über den Hals stülpen oder weiter unten festklemmen kann.«

»Und welchen Nutzen sollte das bitteschön haben?«

»Nun, dann könnten Sie Ihrem Begleiter – oder Ihrer Begleiterin – auch etwas Tee anbieten«, sagte ich.

Sidney Grice schien kurz darüber nachzudenken, um dann den Kopf zu schütteln. »Das würde die sowieso schon horrenden Produktionskosten nur unnötig in die Höhe treiben, und davon abgesehen reise ich niemals mit Menschen, denen ich etwas von meinem Tee würde anbieten wollen. So bliebe weniger für mich übrig, wieso sollte ich das also tun?«

»Aus Güte«, antwortete ich, und mein Vormund rollte die Augen.

»Wie ich höre, gehen die Armen gütig miteinander um – jedoch nur, weil sie nichts zu verlieren haben«, sagte er. »Die Reichen können sich das einfach nicht leisten. Welchen Eindruck hatten Sie von Mrs Dillinger?«

Er steckte die Flasche weg.

»Eine reizende Person.«

»Aber was ist Ihnen an ihr aufgefallen?«

»Sie war einmal recht wohlhabend und macht nun eine schwere Zeit durch, wenn auch keine völlig elende.«

»Und wie sind Sie zu diesem Schluss gelangt?«

Ein Mann auf einem Apfelschimmel ritt an uns vorüber und warf mir eine Kusshand zu.

»Ihr Kleid war von guter Qualität, aber sie konnte es sich nicht leisten, neue Trauerkleidung zu kaufen, weshalb sie es eingefärbt hat. An ein paar Stellen war es ausgebessert. Zudem trug sie einen Rubinring, der teuer gewesen sein muss, war aber bisher noch nicht gezwungen, ihn zu verkaufen. Was ist denn Ihnen aufgefallen?«

»Eben diese Dinge«, sagte er, »und die bezauberndsten grünen Augen, die ich je gesehen habe. Es würde mich nicht wundern, wenn auch in ihren Adern adliges Blut flösse.«

»Wie in wessen Adern?«

»Wie in meinen«, sagte er. »Charles Le Grice focht in Hastings an der Seite des ›Eroberers‹ und wäre Herrscher von ganz Northumbria geworden, wenn er sich nicht mit William darüber entzweit hätte, wer von ihnen einen Hirsch in Colchester erlegt hatte.«

»Kaum vorstellbar, dass sich ein Grice mit irgendwem entzweit«, sagte ich, und mein Vormund sah mich prüfend an.

Ein Straßenjunge rannte neben uns her und sprang mit einem großen Satz aufs Trittbrett.

»He, Meister, bisschen Kleingeld übrig?« Doch mein Vormund hieb dem Jungen mit seinem Stock auf die Finger, und er ließ los.

»Was hat Sie dazu bewogen, Privatdetektiv zu werden?«, fragte ich, während wir schaukelnd um einen Obststand herumkurvten.

»Persönlicher Ermittler«, sagte Sidney Grice. »Schlafzimmer sind privat. Ich bin persönlich

»Wann haben Sie zum ersten Mal ermittelt?«

»Noch auf dem Internat. Ich konnte beweisen, dass der Sieger des Lateinwettbewerbs betrogen hatte – mit Hilfe eines Lehrers, der auch sein Hausvorsteher war und mit dem er ein, wie man wohl sagen würde, unangemessenes Verhältnis begonnen hatte.«

»Was für eine edle Tat.«

Wir fuhren auf einer langen, geraden Straße und kamen jetzt gut voran. Das Klappern der Hufe auf dem Pflaster hallte von den hohen Gebäuden auf beiden Seiten wider.

»Und lukrativ obendrein«, sagte Sidney Grice. »Der Vater des Jungen, der den Preis später zu Recht erhielt, gab mir für meine Dienste zwei Schillinge. Dies war der Moment, da mir aufging, dass ich meine gottgegebene Geistesgegenwart, meinen messerscharfen Verstand, meine unübertreffliche Beobachtungsgabe und meinen außerordentlichen Intellekt gewinnbringend zur Verfolgung Krimineller einsetzen könnte.«

Der Kutscher drosselte das Tempo, wir bogen in eine Gasse ein.

»Es muss überaus befriedigend sein, der Gerechtigkeit zu dienen«, sagte ich.

Doch Sidney Grice hob bloß die Augenbrauen. »Es ist weitaus befriedigender, zu sehen, wie Menschen bestraft werden, aber natürlich ist mir daran gelegen, dass es die richtigen sind. Und dies wird umso wichtiger, wenn man sich in höheren Kreisen bewegt. Bei einer Prostituierten darf man sich ruhig mal irren; um einen Bischof an den Galgen zu bringen, sollte man sich aber tunlichst seiner Sache sicher sein.«

Wir hielten an. Die Gasse war so eng, dass wir uns kaum aus der Kutsche zwängen konnten. Neben dem Wagen ragte eine hohe Mauer auf.

»Warten Sie hier auf uns«, beschied Sidney Grice den Kutscher, doch der schüttelte den Kopf.

»Nee, bestimmt nicht«, krächzte er. »Ich krieg schon Gänsehaut, wenn ich nur hier steh, könnse mir glauben, und mein Pferd hat auch Angst, und ein ängstliches Pferd is’ hier nicht mehr wert als eines blinden Bettlers tote Flöh. Ich wart da hinten auf Sie, am Ende der Gasse.«

»Passen Sie auf den Graben auf, March«, sagte Sidney Grice, als wir vorne um die Droschke herumgingen. »Und nehmen Sie sich vor den Pferden in Acht. Pferde beißen.«

Er klopfte an eine schlichte schwarze Tür. Das Pferd stampfte widerwillig rückwärts.

»Pferde sehen gern, wo sie hinlaufen«, erklärte Sidney Grice.

»Bei uns auf dem Land gibt es auch Pferde«, entgegnete ich.

»Gewiss, aber das hier sind Londoner Pferde.«

Er ließ den Türklopfer erneut fallen, worauf eine Klappe in der Tür zur Seite glitt.

»Guten Tag, Parker.«

»Mr Grice.« Die Tür öffnete sich, und dahinter stand ein kleiner Mann in einem fleckigen Laborkittel. »Kommen Sie herein«, sagte er, doch als wir eintreten wollten, hob er abwehrend die Hand. »Was soll das bedeuten? Sie wissen doch, dass Damen der Zutritt untersagt ist.«

Sidney Grice wandte sich an mich. »Ich habe Sie ja gewarnt, Miss Middleton. Sie sollten lieber gehen und in der Kutsche warten.«

Ich langte in meine Manteltasche und zog eine Karte hervor.

»Wissen Sie, was das ist?«, fragte ich.

Parker kniff die Augen zusammen und sagte: »Nein.«

»Dies ist ein Passierschein der Bauprüfkommission Ihrer Majestät, der es mir erlaubt, jedes Gebäude des Königreichs zu inspizieren. Wenn Sie mir den Zutritt verwehren, machen Sie sich des Hochverrats schuldig.«

»Ach du liebe Zeit«, keuchte Parker und wich zur Seite.

Wir gelangten in einen rechteckigen Korridor, von dem fünf Türen abgingen.

»An welchem Fall arbeiten Sie?«, fragte Parker. »Der vergiftete Pfarrer kann’s nicht sein. Den hat schon Mr Cochran. Hoffentlich nicht die beiden Wasserleichen aus der Duke Road. Die werden langsam glitschig.«

»Mrs Sarah Ashby«, sagte Sidney Grice.

»Oh, die Zerhackte. Liegt in Raum vier.« Parker holte einen Schlüsselring aus der Kitteltasche und steckte einen Schlüssel nach dem anderen ins Schloss.

»Das war eine Zugfahrkarte«, raunte Sidney Grice mir zu.

»Schon möglich«, sagte ich, als Parker endlich den richtigen Schlüssel gefunden hatte, die Tür aufschwingen ließ und fragte: »Sind Sie sicher, dass Sie sich das zutrauen, Miss? Ich habe schon erfahrene Wachtmeister gesehen, denen ganz anders geworden ist. Einer ist umgekippt, mit dem Kopf aufgeschlagen und selbst auf einem unsrer Tische gelandet.«

Ich nickte. »Bitte fahren Sie fort.«

»Nehmen Sie meinen Arm«, sagte Sidney Grice, »und sagen Sie mir umgehend, wenn Sie sich unwohl fühlen.«

Ich fühlte mich bereits unwohl, doch hätte ich es nie zugegeben, nicht für alles Opium in Bengalen. Der Gestank des Todes stieg mir in die Nase.

Mord in der Mangle Street

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