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5 Ein schrecklicher Mord

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»Es ist einfach zu schrecklich.« Mrs Dillinger holte tief Luft. »Meine arme Tochter.« Sie schluckte schwer. »Erstochen … erstochen, und mein Schwiegersohn wegen Mordes verhaftet. Sie müssen mir helfen, Mr Grice.«

Sidney Grice seufzte. »Ich bin keineswegs dazu verpflichtet, Madam. Aber da Sie schon mal da sind und ich mich langweile: Wie heißen Sie, und wie lauten die Namen der anderen Beteiligten?«

»Mein Name ist Mrs Grace Dillinger.«

»Ich nehme an, Sie sind Witwe.«

»Ja, mein Mann ist vor zwei Monaten verstorben.«

»Und hat sie in anderen Umständen zurückgelassen?«

»Ja, ich erwarte das Kind im August.«

Sidney Grice winkte ungeduldig mit der Hand. »Fahren Sie fort.«

»Der Name meines Schwiegersohns ist William Ashby. Seine Frau, meine Tochter, heißt …«

»Hieß«, korrigierte Sidney Grice.

»Hieß Sarah.«

Mein Vormund nahm ein kleines ledergebundenes Notizbuch vom Tisch neben dem Sessel und notierte sich mit einem silbernen Bleistift alle Einzelheiten, während Mrs Dillinger in ihre Handtasche griff und einen rechteckigen weißen Briefumschlag hervorholte. Mir fielen ihre sehr gepflegten Nägel auf, und sie trug einen schweren rotgoldenen, mit feinem schwarzem Garn umwickelten Ehering.

»William hat Ihnen eine Nachricht geschrieben.« Sie hielt ihm das Kuvert hin, und Sidney Grice nahm es entgegen, als handle es sich um einen schmutzigen Lappen. Dann öffnete er den Umschlag, zog ein zweifach gefaltetes Blatt heraus, überflog es flüchtig und ließ es in seinen Schoß fallen.

»Welche Beweise hat die Polizei gegen Ihren Schwiegersohn in der Hand?«

»Überhaupt keine.« Mrs Dillingers schlanke Finger krampften sich zusammen.

»Dann hat er ebenso wenig zu befürchten wie ich«, erklärte er, »denn gegen mich haben sie auch nichts.«

Mrs Dillinger zupfte an ihrem Mantelkragen.

»Er war zu Hause, als es geschah«, sagte sie. »Aber er schlief, im Nebenzimmer.«

»Hat er einen tiefen Schlaf?«

»Ganz im Gegenteil. Für gewöhnlich wacht er beim kleinsten Laut auf. Erst das Geräusch einer sich öffnenden und schließenden Tür ließ ihn aus dem Schlaf aufschrecken.«

»Welche Tür?«

»Die Eingangstür des Ladens vorne im Haus. Sie hat eine Glocke, und die schellt, sobald die Oberkante der Tür dagegenschlägt.«

Ihr Parfüm versprühte einen leichten Hauch von Damastrosen.

Sidney Grice spielte mit seinem Siegelring. »Ist die Ladenglocke an einem Scharnier oder einer Spiralfeder aufgehängt?«

Mrs Dillinger legte die Fingerkuppen ihrer Rechten an die Stirn, und der Rubin funkelte düster.

Sie sagte: »Wie bitte? Ein Scharnier, glaube ich. Was tut das zur Sache?«

Mein Vormund schaute sie einen Moment lang an. »Eine Glocke mit Scharnier klingelt zweimal, wohingegen eine gefederte wiederholt und anhaltend läutet, durchschnittlich fünf bis sieben Doppelschläge, je nachdem, wie hart die Tür daran stößt.«

Mrs Dillinger sammelte sich. »Ach so.«

»Aber bis dahin hatte er nichts gehört?«

»Nein.«

»Und wo befand sich Ihr Schwiegersohn?«

»Im Hinterzimmer. Der Küche.«

Ihre Stiefel wirkten gründlich gesäubert und gewichst, waren aber bedeckt mit frischen Schlammspritzern.

»Und Ihre Tochter?«

»Im mittleren Zimmer. Der Wohnstube.«

»Und diese Räume gehen ineinander über?«

»Ja.«

Ihr Kleid war zwar alt und an einigen Stellen geflickt, aber von guter Qualität. Für die Trauerzeit hatte sie es offenbar schwarz eingefärbt. Das ursprüngliche Blumenmuster schimmerte noch durch.

»Und es gibt kein weiteren Zugang zur Wohnstube? Ein Fenster womöglich, oder ein Oberlicht?«

»Nein, keinen.«

Sidney Grice beugte sich vor.

»Ihr Schwiegersohn mit dem leichten Schlaf schlummerte also selig weiter, während seine Frau nur wenige Schritte entfernt grausam abgeschlachtet wurde?«

Mrs Dillinger stand unversehens auf und hielt sich am Kaminsims fest.

»Aber Mr Grice …«, sagte ich und trat auf sie zu, doch mein Vormund bedeutete mir, stehenzubleiben.

»Hat man Blutspuren an der Kleidung Ihres Schwiegersohnes gefunden?«

»Er war von oben bis unten voll damit.« Mrs Dillinger schloss die Augen. »Er hat sie in den Arm genommen.«

Sie atmete so schwer, dass ihre Worte kaum zu vernehmen waren.

»Und sie war bereits tot?«

»Ja, ich denke schon.« Plötzlich schwoll ihre Stimme an. »Ich weiß es doch nicht.«

Sidney Grice schrieb erneut etwas in sein Büchlein. Er hatte eine kleine Narbe am rechten Ohr, wie mir eben auffiel.

»Und sonst war niemand im Haus zu der Zeit?«

»Nein. Niemand.«

Sidney Grice betrachtete sie eine Weile schweigend.

»Wo waren Sie, als sich all das ereignete?«, erkundigte er sich.

»In der Kirche.«

»An einem Montagabend?«

»Es tagte gerade die Gesellschaft zur Bekehrung der Heidenkinder in Afrika.«

»Als ob es in London nicht schon genug davon gäbe«, knurrte Sidney Grice. »War Ihre Tochter glücklich verheiratet?«

Mrs Dillinger brach in Tränen aus, derweil sich Sidney Grice nachdenklich mit dem Bleistift auf die Zähne klopfte. Sie waren sehr sauber und sehr gerade.

»Was tun Sie ihr an?«, fragte ich.

»Das ist gar nichts im Vergleich zu dem, was die Polizei und die Staatsanwaltschaft sie und ihren Schwiegersohn fragen werden.«

»Ich hatte gedacht, Sie wären auf meiner Seite«, schluchzte Mrs Dillinger.

»Ich weiß nicht, wie Sie diesem Irrglauben verfallen konnten. Bisher habe ich mit keinem Wort gesagt, dass ich mich Ihrer Sache annehmen werde.«

Schwankend ließ Mrs Dillinger den Kamin los; ich machte mich bereit, sie aufzufangen.

»Dann werde ich jetzt gehen und mir jemanden suchen, der dies tut.«

Sidney Grice zuckte mit den Schultern, doch Mrs Dillinger blieb, wo sie war.

»Ich wiederhole meine Frage«, sagte er. »War die Ehe glücklich?«

»Sehr … Sie waren sich sehr zugetan. Er nannte meine Sarah stets seine über alles geliebte …« Mrs Dillinger stockte, unfähig weiterzusprechen.

»Möchten Sie ein Glas Wasser haben?«, fragte ich, doch sie hauchte nur: »Nein, danke.«

Ich nahm ihren Arm, geleitete sie zurück zu ihrem Sessel und zog einen der Stühle heran, um mich neben sie zu setzen.

Sidney Grice schlug die Hacken aneinander und sagte: »Hatten die beiden Geldsorgen?«

»Nicht mehr als jeder andere. Sie verdienten genug, um davon zu leben.«

Mrs Dillinger räusperte sich.

»Was meinen Sie mit ›Sie‹?«

»Sarah arbeitete ebenfalls im Laden.«

»Gehen Sie einer Beschäftigung nach?«

»Ich gebe private Klavierstunden und unterrichte französische Konversation. Gelegentlich nehme ich Kinder bei mir auf, wenn ihre Eltern sich nicht um sie kümmern können.«

»Gegen Bezahlung?«

»Ja. Seit dem Tod meines geliebten Gatten bin ich darauf angewiesen.«

»Und wie ist er zu Tode gekommen?«

Mrs Dillinger erschauerte. »Er wurde auf der Westminster Bridge von einem Straßenräuber umgebracht, der ihm die Uhr seines Vaters stehlen wollte, die nicht mal mehr ging. Ist das denn wichtig?«

Sidney Grice presste die Lippen aufeinander. »Das weiß ich noch nicht. War das Leben Ihrer Tochter versichert?«

Die Haustür wurde zugeschlagen, und polternde Schritte hallten durch die Diele.

»Nur mit einer kleinen Summe, glaube ich, Näheres ist mir nicht bekannt.« Ein angespannter Zug trat in Mrs Dillingers Gesicht. »Und ich sehe auch nicht, was das im Geringsten mit der Sache zu tun haben sollte.«

»Das Gericht könnte zu der Auffassung gelangen, dass es eine ganze Menge damit zu tun hat. Wie alt war …«, Sidney Grice warf einen Blick auf seine Notizen, »… Sarah?«

»Neunzehn.«

»Oh, noch jünger als ich«, warf ich ein, doch Sidney Grice fiel mir ins Wort: »Bitte unterbrechen Sie mich nicht mehr, Miss Middleton. Wie alt ist Ihr Schwiegersohn, Mrs Dillinger?«

»Vierunddreißig.«

Die Kaminuhr schlug zur Viertelstunde.

»Ein ziemlicher Unterschied.« Sidney Grice lehnte sich zurück. »Vielleicht war Ihre Tochter des älteren Ehemannes überdrüssig.«

»Fünfzehn Jahre sind gar nichts«, sagte Mrs Dillinger. »Und wie ich Ihnen schon erzählt habe … Sie waren sich sehr zugetan.«

»Vielleicht hat er sie mit einem anderen Mann ertappt und in blinder Wut getötet.«

Mrs Dillinger richtete sich auf. »Sie war ein treues und anständiges Mädchen und hätte ihn nie hintergangen, und mein Schwiegersohn ist ein sanftmütiger, gutherziger Mann. Zu solchen Grausamkeiten wäre er nie im Leben fähig.«

»Wo ist er jetzt?« Sidney Grice drehte die Mine des Stifts ein Stück heraus.

»Man hält ihn auf der Polizeiwache von Marylebone fest.«

»Und wie lautet die Adresse des Tatorts?«

»Mangle Street 13, Whitechapel.«

»Mangle Street«, sinnierte mein Vormund. »Nun, ein überaus geschichtsträchtiger Ort. Ich weiß von mindestens sechs anderen Morden in dieser Straße, der erste im Jahr 1740, wenn ich mich recht entsinne. Der jüngste ist der Fall einer gewissen Matilda Tassel und ihrer beiden Töchter, die man mit einer Axt erschlagen hat.«

»Oh, wie tragisch«, entfuhr es mir.

»Ich danke Ihnen für Ihre scharfsinnige juristische Beurteilung, Miss Middleton«, spottete er und kratzte sich die Wange. »Vielleicht hat William die ja ebenfalls umgebracht?«

»Oder ihr Mörder hat auch Sarah getötet«, wandte ich ein.

»Ich glaube, Mrs Tassels Ehemann ist damals der Schwindsucht erlegen, während er auf seinen Prozess wartete«, sagte Sidney Grice, »aber das kann ich später in meinen Aufzeichnungen nachschauen. Eine Kleinigkeit noch.« Er schrieb noch immer. »Meine Dienste sind sehr kostspielig und Ihre Mittel offenbar begrenzt. Wie gedenken Sie, mich zu entlohnen?«

Mrs Dillinger fischte ein kleines schwarz gerändertes Taschentuch aus der Manteltasche. »Aber Ihr erstes Anliegen ist doch gewiss, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen?« Sidney Grice lächelte arglistig.

»Das wäre eine hübsche Abwechslung«, sagte er. »Wenn sich aber herumspräche, ich sei bereit, mein exorbitantes Honorar für die Bedürftigen zu senken, hätte ich bald jeden Rotzlümmel Londons vor meiner Tür sitzen.«

»Aber ich habe kein Geld.«

Mein Vormund hob die linke Augenbraue.

»Und wie wollen Sie dann für diese Konsultation bezahlen?«

Mrs Dillinger sah erst mich und dann wieder ihn mit leerem Blick an.

»Ich dachte …«

»Ich will nicht Ihre Gedanken«, unterbrach Sidney Grice sie, »ich will Ihr Geld.«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Haben Sie denn keine Gefühle?«, fragte ich.

»Ich bin weder töricht noch sentimental, wenn es das ist, was Sie meinen.«

Mrs Dillinger rieb sich die Stirn. »Ich werde bezahlen, was immer Sie verlangen.«

»Dies«, sagte Sidney Grice und hielt ihr seinen Bleistift entgegen, »ist ein versilberter Mordan Mechanical der neuesten Bauart, mit Federlagerung und einer Gravur meiner Initialen. Das Geschenk einer meiner vielen dankbaren Klientinnen, das die Dame gute vierundzwanzig Guineen gekostet haben muss. Ich bezweifle, dass Sie überhaupt so viel Geld besitzen.«

Mrs Dillinger faltete ihr Taschentuch zusammen und tupfte sich mit einer Ecke die Tränen vom Gesicht. »William wird Sie bezahlen. Er hat ein festes Einkommen.«

»Welches durch seine Verhaftung auf Eis gelegt wurde und gänzlich versiegen wird, sobald sich die Falltür des Galgens öffnet«, sagte Sidney Grice, woraufhin Mrs Dillinger schwer in ihren Sessel zurücksank.

»Sie sind ein Monster.«

»Wir beide verdienen unseren Lebensunterhalt damit, Unschuldige zu beschützen.« Sidney Grice drehte abermals an seinem Stift und ließ die Mine wieder verschwinden. »Doch in meinem Fall ist das Risiko und somit auch die Vergütung beträchtlich höher.«

»Aber ich habe nichts, was ich Ihnen geben könnte.«

Sidney Grice zuckte mit den Schultern.

»Dann habe ich auch nichts, was ich Ihnen geben könnte, und Ihr Schwiegersohn wird so gut wie sicher hängen.« Er klappte sein Notizbuch zu. »Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Mrs Dillinger. Meine Rechnung geht Ihnen mit der nächsten Post zu.«

Molly kam herein, ein schwarzlackiertes Teetablett in den Händen.

»Soll ich eine weitere Tasse bringen, Sir?«

»Das wird nicht nötig sein. Unser Gast wollte gerade gehen.«

Mrs Dillinger stand auf und blickte suchend um sich, als hätte sie etwas vergessen. Ich erhob mich ebenfalls, um sie zu stützen.

»Begleite Mrs Dillinger zur Tür, Molly.«

Aus irgendeinem Grund drehte Molly sich zu mir um, doch ich sah weg.

»Nein«, sagte ich. Sidney Grice blickte jäh auf.

»Was soll das heißen?«

»Mrs Dillinger mag das Geld nicht haben«, sagte ich, »aber in meinem Erbe befindet sich ein kleines Paket von Wertpapieren. Ich weiß nicht, ob Sie die Börse verfolgen.«

»Ich spekuliere nicht.«

»Ich besitze eintausend Aktien der Blue Lake Mining Company of British Columbia, die pro Stück derzeit für zwei Schillinge und Sixpence gehandelt werden, was sich auf eine Summe von hundertfünfundzwanzig Pfund beläuft. Ihre übliche Honorarordnung ist mir zwar nicht geläufig, aber falls Sie sich bereit erklären, den Fall anzunehmen, können Sie alles haben.«

Sidney Grice sah mich ausdruckslos an.

»Ich werde darüber nachdenken«, erwiderte er so beiläufig, dass mir sofort klar war, dass es sich um viel mehr handeln musste, als er normalerweise verlangte.

Ich atmete kurz durch. »Jedoch nur unter einer Bedingung.«

»Und die wäre?«

»Dass ich Sie begleiten darf.«

Schon als ich die Worte aussprach, wusste ich, dass er die Idee für abwegig halten würde.

»Ich möchte mit eigenen Augen sehen, wofür das Geld meines Vater genutzt wird«, sagte ich. »Und ich könnte Ihnen behilflich sein.«

Sidney Grice schmunzelte.

»Ich wüsste zwar nicht, wie«, wandte er ein, »aber das könnte amüsant werden. Nun gut, Miss Middleton. Ich stehe voll und ganz zu Ihren Diensten.«

Mord in der Mangle Street

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