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4 Die Zuhörer

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Sidney Grice entsprach ganz und gar nicht meinen Erwartungen. Obwohl er aufrecht dastand, war er nicht größer als eins achtundfünfzig und von schmächtiger Statur. Sein Haar war dicht und schwarz und aus der hohen Stirn gekämmt, die Nase lang und schmal. Seine Erscheinung war beinahe feminin – die geschwungenen Lippen, das glatte blasse Gesicht mit dem Grübchen auf dem zierlichen Kinn.

»Miss Middleton.« Seine Begrüßung fiel höflich, aber nicht überschwänglich aus. Der Druck seiner kleinen, feingliedrigen Hand war erstaunlich kräftig. »So ganz anders als Ihre liebe Mutter.« Er hatte eine weiche, aber klare Stimme.

Seine Augen waren von einem blassen Blau und glasig, obgleich sie geradeheraus blickten unter langen geschwungenen Wimpern, wie ich sie mir nur erträumen konnte.

»Sie kannten sie?«

»Ich hatte die Ehre. Zu meinem Bedauern gilt das nicht für Sie. Sie haben kein Gepäck?«

»Nur diese Reisetasche. Meine Koffer sind noch unterwegs.«

»Wir nehmen den Tee umgehend, Molly. Kommen Sie, Miss Middleton. Lassen Sie mich Ihnen Ihr neues Heim zeigen.«

Ich folgte ihm durch die offene Tür in ein geräumiges Zimmer. Geradeaus standen zwei Ledersessel zu beiden Seiten eines Kamins. Rechter Hand umringten sechs Stühle einen Teetisch aus Mahagoni. Hinter einem filigran geflochtenen Wandschirm am jenseitigen Tischende gingen hohe Fenster auf die Straße.

»Der Wandschirm soll mich vor Heckenschützen verbergen«, sagte er.

»Ist denn schon mal auf Sie geschossen worden?«

»Viele Male.« Er fasste sich an die linke Schulter. »Aber bloß ein Treffer. Ist mir lieber, wenn’s daneben geht.«

Ich lachte, und Grice’ Miene verfinsterte sich.

»Das war kein Scherz. Runter!« Im selben Augenblick warf er sich zu Boden, und ich kniete mich rasch neben ihn. »Absolut hoffnungslos«, seufzte er. »In einem wirklichen Notfall werden Sie um einiges schneller sein müssen.«

»Wenn Sie eine Tournüre tragen würden, wären Sie … Oh!« Ich blickte erschrocken zum Fenster hoch. »Obacht!« Sidney Grice warf sich erneut zu Boden, während ich mich erhob. »Anstrengend, nicht wahr?«, sagte ich. »Ich denke, wir sollten dieses Spiel nicht wiederholen.«

Sidney Grice klopfte sich ab. »Dieses Spiel könnte Ihnen sehr wohl eines Tages das Leben retten.«

»Da würde ich lieber vernünftig sterben«, gab ich zurück, und er hob eine Hand an sein rechtes Auge.

Hinter uns führte eine offene Doppelfalttür in die Bibliothek, sodass beide Räume ineinander übergingen. An zwei Wänden waren Regale angebracht, vom Boden bis zur Decke, allesamt gestopft voll mit Büchern und Papieren, vor der dritten standen Eichenschränke jeweils mit vier Schubladen. In der Mitte war ein wuchtiger Schreibtisch.

»Diese beiden Räume stellen mein Studierzimmer dar. Herz und Hirn des Hauses.«

»Sie haben aber eine Menge Akten.«

»Ich erstelle einen Katalog aller Verbrechen, die in diesem Jahrhundert in England begangen wurden. Eine Herkulesaufgabe, aber ich bin überzeugt, dass sich der Aufwand lohnt. Es ist erwiesen, dass Verbrecher ihre eigenen Taten und die von ihresgleichen wiederholen. Daher entwerfe ich ein System, das Querverweise auf jedes Verbrechen und eine Sofortermittlung der Methode und damit des Täters ermöglicht. Rieche ich da etwa Alkohol in Ihrem Atem?«

Er fasste mich scharf ins Auge.

»Mir war ein wenig flau beim Aussteigen. Ein zufällig vorbeikommender Pfarrer war so freundlich, mir einen belebenden Schluck Brandy aus seinem Flachmann, wie das wohl heißt, zu geben.«

»Es ist Gin«, sagte Sidney Grice.

»Ach, wirklich? Ich kenne mich da leider nicht aus.«

Er verengte den Blick, und wir gingen zurück in die Diele.

»Es wird doch zumindest ein paar wirklich neuartige Verbrechen geben«, meinte ich, doch Sidney Grice schnaubte nur.

»Der kriminelle Verstand ist abartig und verworren, aber fast immer einfallslos«, sagte er, als Molly aufgeregt herbeigelaufen kam.

»O Sir.« Sie errötete. »Ein halbes Unglück. Der Nachmittagstee ist aus. Wir haben noch Morgentee und bergeweise Abendtee, aber nicht einen Krümel Nachmittagstee.«

Sidney Grice machte ein finsteres Gesicht. »Dann geh auf der Stelle welchen besorgen, und gib Acht, dass ehrlich abgewogen wird«, sagte er. »Dummes Ding«, fügte er hinzu, als sie hinauseilte. »Das«, er zeigte hinter die Treppe, »ist die Dienstbotenwelt. Mir schaudert beim Gedanken, was dort vor sich geht.«

Im ersten Stock befand sich ein Salon mit Blick auf das Hauptgebäude des University College. Dahinter lag das Esszimmer, das einen Speisenaufzug und schwachen Kohlgeruch beherbergte.

»Solange wir unter uns sind, will ich Ihnen etwas sagen, das Sie vielleicht peinlich berühren wird«, teilte mir Sidney Grice mit. »Sie tragen braune Schuhe.«

»Ich weiß.«

»Braun ist fürs Land. In der Stadt trägt man schwarz.«

»Aber ich bin heute morgen vom Land aufgebrochen«, wandte ich ein. »Wo oder wann genau hätte ich sie denn wechseln sollen?«

Sidney Grice runzelte die Stirn. »Wie ich sehe, haben Sie Esprit – eine moderne, wiewohl keine weibliche Eigenschaft. Hinsichtlich Ihrer Frage glaube ich, dass Kilburn allgemein als äußerste Grenze der Zivilisation angesehen wird. Ich begebe mich nie darüber hinaus.« Er schnupperte. »Ich rieche Rauch.«

Auch ich schnupperte, konnte aber nur seine Teerseife riechen.

»Meinen Sie das metaphorisch?«

»Nein, buchstäblich. Ich mag keine Metaphern.«

»Geschweige denn braune Schuhe«, sagte ich. »Brennt Ihr Haus?«

»Mein Haus brennt keinesfalls. Es ist Tabakrauch. Sie rauchen doch wohl hoffentlich nicht, Miss Middleton?«

»Der Zug war so voll besetzt, dass ich mit einem Raucherabteil vorlieb nehmen musste.«

Sidney Grice rechtes Auge verschwand, und seine Lider klappten über einer fleischroten Höhle zusammen. Ich kreischte auf, indes er sein Auge einfing und wieder an seinen Platz beförderte.

»Verfluchtes Ding.« Er zog sein Oberlid herunter. »Bis ins böhmische Egeria bin ich gefahren, um es anfertigen zu lassen, mundgeblasen nach Professor Goldmans Maßangaben, und es passt trotzdem nicht.«

»Wie haben Sie Ihr eigenes verloren?«

»Ich habe es nicht verloren.« Mit einem stolzen Ruck warf er sein Haar zurück. »Das würde von einer Fahrlässigkeit künden, die mir wesensfremd ist. Ein abtrünniger Preuße hat es mir herausgerissen, als ich seinen Mordversuch am Kronprinzen vereitelte. Die Welt muss erst noch anerkennen, in welcher Schuld sie dafür bei mir steht. Sitzt erst ein Kaiser Wilhelm II. auf dem Thron der vereinigten deutschen Staaten, werden wir einer hundertjährigen Friedenszeit in Europa entgegensehen.«

»Die Welt hält Sie schon jetzt in hohem Ansehen«, sagte ich. »Meine Freunde vergleichen Sie mit Edgar Allan Poes Detektiv Auguste Dupin.«

Sidney Grice kräuselte die Lippen.

»Welche Auszeichnung, mit dem schwachsinnigen Hirngespinst eines geisteskranken Schreiberlings aus den Kolonien verglichen zu werden«, sagte er. »Zumal der Mann offenkundig von meinen Erfolgen gelesen und den unbeholfenen Versuch unternommen hat, sie nachzuahmen.«

Sein Gang war merkwürdig, fiel mir auf, neigte nach rechts, wenngleich er keine Mühe hatte, ein weiteres Geschoss zu erklimmen.

Im zweiten Stock lagen zwei Schlafzimmer: seines mit Blick auf die Straße und mein künftiges, mit Blick auf ein Krankenhaus. Dazwischen war ein kleiner Raum.

»Der ganze Stolz meines Hauses.« Sidney Grice trat zur Seite, um mir das Badezimmer zu zeigen. Die Ausstattung war allerdings prächtig: eine weiße Emaillewanne auf Messingtatzen, ein Waschbecken aus weißem Porzellan auf einem hohen kannelierten Sockel und ein dazu passendes Wasserklosett mit Spülkasten hoch darüber. »Wir haben fließend Wasser, heiß und kalt, solange Molly den Ofen in Gang hält.«

»Welcher Luxus.« Ich verriet ihm nicht, wie widerlich mir ein Klosett im Haus war. Kein Wunder, dass man so viel von Seuchen in London hörte, wenn alle Häuser derart unhygienisch bestückt waren.

Im dritten Geschoss war der Dachboden, erläuterte er, mit einem Koffergelass und den Dienstbotenkammern.

»Wie viele Dienstboten halten Sie?«

»Ich habe nur Molly und eine Köchin. Die Köchin wohnt nicht im Haus und beschränkt sich auf ihre Küche. Ich habe sie wohl nicht mehr gesehen, seit sie sich vor zwei Jahren anmaßte, mir Glückwünsche zum Weihnachtstag auszusprechen. Die Küchenmädchen wechseln häufig, wie ich höre, sind für mich aber ohne Belang.« Er hielt inne. »Offenbar ist Molly noch nicht zurück. Es scheint, als müssten wir den Ruf der Türglocke selbst beantworten.«

»Ich habe gar nichts gehört«, sagte ich, und Sidney Grice schnalzte mit der Zunge.

»Ihre Ohren sind jünger und wahrscheinlich empfindlicher als meine. Sie hören, ohne hinzuhören. Der Besuch ist offenkundig dringlich, so heftig wie am Griff gezogen wurde. Wir wollen einen Augenblick stille stehen.«

»Sollten wir nicht zuerst die Tür öffnen?«, fragte ich, doch Sidney Grice zuckte mit den Schultern. »Je dringlicher das Anliegen, desto größer die Ausdauer. Hören Sie hin.«

Weit entfernt vernahm ich eine kleine, schrille Glocke, die wiederholt schellte.

»Jetzt hör ich’s.«

»Was noch?«

Ich lauschte. »Nichts.«

»Hören Sie denn nicht den Verkehr draußen, das Rattern der Räder, das Trappeln der Hufe auf dem Pflaster, die Rufe der Höker und Bettler auf der Straße, das Flattern der Tauben auf dem Dach, den Westwind, der über die Schornsteine pfeift?«

Ich lauschte angestrengt. »Ich höre gedämpften Lärm«, sagte ich. »Und die Türglocke wird immer wilder.«

»Eine Glocke ist unbelebt und kann so wenig wild sein wie einen algebraischen Lehrsatz formulieren.« Sidney Grice untersuchte einen winzigen Tintenfleck auf seinem kleinen Finger. »Es scheint aber so, als wäre es unser Besucher.«

Wir gingen die Treppe hinunter.

»Kümmern Sie sich um die Tür«, sagte er und ging in seine Arbeitsräume.

Die Dame, der ich öffnete, war hochgewachsen, eine elegante Erscheinung mit fein gemeißelten, kalkweißen Zügen. Ihre Wangen aber waren leicht gerötet, als hätte sie sich körperlich verausgabt. Anfang der vierzig, schätzte ich, war sie gut, wiewohl nicht prachtvoll in Schwarz gekleidet. Ihr dunkelbraunes Haar war sorgfältig festgesteckt unter einem schlichten Hut, dessen Flor ihr eben über die Augen reichte.

»Ist dies Mr Grice’ Haus?« Sie rang nach Atem.

»Das ist es.«

»Ich muss deine Herrschaft sehen.« Sie war sichtlich sehr erregt.

»Ich habe keine Herrschaft«, entgegnete ich, um sie dann doch zu Sidney Grice zu führen.

Der gab vor, in einer geologischen Zeitschrift zu lesen, erhob sich aber aus seinem Stuhl und geleitete unsere Besucherin zu den zwei Ledersesseln vor dem Kamin. Ich blieb mitten im Raum stehen, unsicher, ob ich bleiben oder gehen sollte.

»Sie ahnen nicht, wie ich mich freue, Sie zu sehen.« Die Frau setzte sich zurecht. »Mir wurde schon manches Mal erzählt, Sie wären bloß eine Figur der Dichtung.«

Sidney Grice’ Hals rötete sich ein wenig, und seine Wange zuckte; er hob eine Hand an sein rechtes Auge.

»Die Schuld daran tragen die entsetzlich verzerrten Schilderungen meiner Fälle in billigen Gazetten«, sagte er. »Wie Sie selbst sehen können, Madam, bin ich ein Wesen ganz aus Fleisch und Blut.«

Die Dame legte beide Hände vor Mund und Nase. Sie trug einen Rubinring am dritten Finger ihrer rechten Hand.

»Da war so viel Blut«, sagte sie.

Ich sah sie an. Ihre grünen Augen waren vor Schrecken geweitet. Dann sah ich Sidney Grice an, und obwohl das gar nicht möglich war, schien es, als würden seine Augen beide leuchten.

Mord in der Mangle Street

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