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9 Unter demselben Mond
ОглавлениеWir hätten als Ehepaar gelten können: Sidney Grice am einen Ende des Esszimmertischs und ich am anderen.
»Speisen Sie für gewöhnlich allein?«, fragte ich.
»Nein«, sagte er. »Ich speise stets mit einem Buch. Dieses hier ist eines meiner liebsten – Eine kurze Studie der parasitären Würmer Afrikas –, wundervoll illustriert mit farbigen Zeichnungen.«
»Und das verdirbt Ihnen nicht den Appetit?«
»Wieso sollte es? Ich habe nicht vor, die Würmer zu essen.«
Ich schlürfte meine Suppe, aber Tomatensuppe habe ich noch nie gemocht – sieht aus wie Blut und riecht nach Schweiß.
»Hätte ich vor drei Jahren mehr über das Thema gewusst«, fuhr Sidney Grice fort, »ich hätte beweisen können, dass Lord Jennings viel weiter die Elfenbeinküste hinaufgefahren ist als damals angenommen, und seine Gefährten somit von dem Vorwurf bewahrt, ihn im Stich gelassen zu haben, und damit wiederum vor dem Rauswurf aus dem Regiment.«
Ich nahm noch einen Löffel Suppe. Mein Vormund hatte seine bereits aufgegessen, die nächste Seite umgeblättert und holte nun einen elfenbeinumhüllten Bleistift hervor, den er neben sein Messer legte.
»Woher kannten Sie meinen Vater?«, fragte ich, worauf Sidney Grice’ Auge herausfiel. Geschickt fing er es auf und verstaute es in seiner Westentasche.
»Ich werde keinerlei Informationen über Ihren Vater preisgeben.« Behände wie ein Zauberer beim Tuchtrick zog er eine schwarze Augenklappe aus dem Jackett und band sie rasch über die klaffende Höhle. Das alles hatte etwas leicht Komisches an sich, doch seine Miene blieb todernst. »Außer, dass ich zutiefst in seiner Schuld stehe, eine Schuld, die ich nun teilweise zu tilgen vermag, indem ich Ihre Anwesenheit in meinem Haus toleriere.«
»Sie sind zu gütig.«
»Ich bin überhaupt nicht gütig, ich komme lediglich meinen Verpflichtungen nach.«
Er wischte seinen Teller mit einem Stück Brot sauber.
»Und meine Mutter?«
»Sie war für ihre Schönheit berühmt«, sagte mein Vormund, wobei er versehentlich einige Brotkrümel auf das gestärkte weiße Tischtuch spuckte. »Und die kaum verschleierte Heldin eines Kitschromans. Ihre Augen, so hieß es, funkelten wie Saphire in der Sonne, und ihr Haar glich blankem Gold.«
»Nicht mausbraun wie meines?«
Er fuhr sich mit der Serviette über die Lippen und legte sie zurück in den Schoß. »Nicht im Geringsten. Und so mager wie Sie war sie auch nicht.«
Ich ließ meinen Löffel sinken.
»Aber was für ein Mensch war sie? Mein Vater hat nie über sie gesprochen.«
»Darüber kann ich Ihnen nichts sagen.«
»Aber gewiss …«
»Bitte fragen Sie mich nicht noch einmal nach Ihren Eltern. Aus Gründen, die ich nicht verraten darf, wäre das nicht schicklich.«
»Aber …«
Abwehrend hob er die Hand, wandte sich wieder seinem Buch zu und notierte grummelnd etwas am Seitenrand.
»Wer ist Mr Cochran?«
»Das tut nichts zur Sache«, sagte Sidney Grice und richtete das stumpfe Ende seines Bleistifts auf mich. »Aber ich will Ihnen sagen, was er ist – ein wichtigtuerischer, aufgeblasener, geltungssüchtiger, selbstherrlicher, arroganter, achtloser, unvernünftiger, unfähiger, habgieriger Aufschneider.«
Molly hastete herein, um den Tisch abzuräumen.
»Die Suppe war lau«, sagte Sidney Grice, ohne von seinem Buch aufzublicken.
»Danke schön, Sir.«
»Das ist kein Kompliment«, erwiderte er. »Nichts sollte lau sein. Tee sollte heiß und Trinkwasser kalt sein. Weißt du überhaupt, was lau bedeutet?«
»Das tu ich wohl, Sir«, entgegnete Molly. »Die Köchin hat gesagt, dass sie solche Gefühle für Sie hat, also muss es wohl was Gutes sein.«
Mein Vormund machte verächtlich »ts«, derweil Molly drei abgedeckte Schüsseln aus dem Speisenaufzug holte und unsere Teller auf der Anrichte mit gekochten Kartoffeln, Kohl und Möhren füllte. Ich wartete darauf, dass mein Vormund etwas dazu sagen würde, aber er ließ es sich bereits schmecken, ehe sie das Zimmer verlassen hatte.
»Sind Sie denn nicht hungrig?«
»Sehr sogar«, antwortete ich. »Aber ich wollte auf das Fleisch warten.«
»Haben Sie heute nicht genug Fleisch gesehen?«, fragte er. »Es wundert mich, dass Sie das Verlangen verspüren, sich noch mehr davon in den Mund zu stecken.«
Ich hob mein Messer, ließ es aber umgehend wieder sinken.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, fragte er.
»Wie können Sie die sterblichen Überreste einer jungen Frau als Fleisch bezeichnen?«
»Haut, Muskeln und Knochen.« Er wedelte mit dem Salzstreuer einmal quer über seinen Teller. »Fleisch gemäß jedweder Definition. Werfen Sie einem Löwen eine Hammelkeule und ein menschliches Bein zum Fraß vor, und schauen Sie, ob er irgendeinen Unterschied macht.«
Er spießte ein Stück Möhre auf die Gabel und schob sie sich genüsslich in den Mund.
»Wie können Sie nur so gefühllos sein?«
»Sorgen Sie sich lieber um die Lebenden.« Er tupfte sich die Lippen ab. »Und was Ihren Vorwurf betrifft, ich sei gefühllos – wer von uns beiden ernährt sich denn von Toten?«
»Aber wenn Sie so denken, dürften Sie überhaupt kein Fleisch mehr essen.«
»Das tue ich auch nicht.«
»Nicht einmal Schinken?«
»Insbesondere keinen Schinken. Ich habe Schweine gekannt, die ebenso klug waren wie Richter und um einiges intelligenter als Geschworene, und wohlriechender obendrein.«
Zum Essen tranken wir Wasser, jeder von uns hatte eine kleine Karaffe und ein Kristallglas vor sich.
»Lau«, brummelte Sidney Grice. »Sie sollten ein Buch zum Essen mitbringen, March. Das würde mich von der lästigen Pflicht befreien, Konversation mit Ihnen zu betreiben. Was lesen Sie zurzeit?«
»Meine Bücher sind noch nicht angekommen.«
»Dann werde ich Ihnen Swinburne leihen«, sagte er.
»Besten Dank«, entgegnete ich. »Ich liebe seine Ode an Sappho.«
»Doch nicht das perverse Gestammel dieses degenerierten Schwachkopfs.« Er wischte sich den Mund mit seiner Stoffserviette. »Samuel Swinburnes Abwasseraufbereitung in London. Das Kapitel über die Problematik der Entsorgung menschlicher Ausscheidungen ist höchst lehrreich und unterhaltsam.«
»Gibt es eine Nachspeise?«, erkundigte ich mich, noch immer hungrig.
»Zucker schwärzt die Zähne, weshalb ich nur einmal wöchentlich davon koste«, erklärte er.
Ich musste lachen. »Wie sollte etwas so Weißes und Reines das tun?« Dann aber übermannten mich die Eindrücke des Tages. »Oh, wie kann ich nur ausgelassen sein, nach allem, was ich gesehen habe?«
»Der menschliche Geist vermag das Leiden in der Welt weder zu erfassen noch zu begreifen«, wandte Sidney Grice ein. »Sonst würden wir alle verrückt werden.«
Ich trank einen Schluck Wasser. »Wer auch immer über dieses arme Mädchen hergefallen ist, muss wahnsinnig gewesen sein.«
»In habe in meiner Tätigkeit als Ermittler hundertachtundsechzig Leichen gesehen.« Mein Vormund zerdrückte mit der Gabel seine Kartoffeln. »Aber nie zuvor einen ähnlich kaltblütig und berechnend verübten Mord.«
»Ich verstehe nicht …«
»Ich auch nicht«, erwiderte Sidney Grice. »Noch nicht.«
Und so ging ich auf mein Zimmer.
Ich schaute aus dem Fenster und sah denselben Mond, den ich gestern über Hunger Hill betrachtet hatte. Heute beschien er die Dächer einer gewaltigen Metropole, die vier Millionen Seelen und jetzt auch ich ihr Zuhause nannten. Kaum zu glauben, dass ich denselben Tag dreihundert Kilometer entfernt in meinem Heimatort begonnen hatte.
Ich kämmte mir mit hundert Strichen das Haar, schlüpfte in Schlafhemd und Bettsocken, setzte mich an den Tisch und schrieb Tagebuch.
Dann verstaute ich das Tagebuch wieder in der Schreibkiste und betätigte den Knopf unterhalb des Tintenfasses, mit dem sich das Geheimfach öffnen ließ.
Sie lagen noch immer darin, deine zwölf Briefe, sorgfältig in schwarzes Band geschnürt, an dem ein goldener Ring hing. Ich las den ersten.
Denk stets daran … hattest du geschrieben, doch ich vermochte nicht weiterzulesen. Ich band sie wieder zusammen und berührte das Gold.
Danach las ich in meiner Bibel. Tod, wo ist dein Stachel?
Doch was war mit Sarah Ashby? Ruhte sie nun in Frieden? Ich kniete mich neben das Bett und betete für sie und für alle, die ich geliebt und verloren hatte, und für die Mutter, die ich eines Tages zu kennen hoffte, und zum ersten Mal betete ich auch für die Seele von Sidney Grice, denn selbst er musste eine besitzen.