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Heimat

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Heimat ist für mich ein Wort, das nach Fülle schmeckt, nach Sonnenstrahlen und nach Extrawurst. Daheim riecht wie frische Wäsche, die auf einer Leine quer durch den Garten im Abendwind flattert. Der Tagesablauf richtet sich danach, ob der Postbote schon da war oder nicht, und wenn nicht, dann ist es auch egal! Heimat fühlt sich danach an, die knusprigen Reste von einem Kuchenblech zu kratzen oder die Kompottschüssel bis zum Boden zu leeren. Daheim fühle ich mich im wahrsten Sinne des Wortes genährt und rundum zufrieden.

Meine Heimat ist Österreich, genauer gesagt das Salzburger Land. Wir sind dort in unser Haus auf einem Berg gezogen, als ich etwa sechs Jahre alt war. Ich liebe es und kehre bis heute so oft wie möglich dorthin zurück – am liebsten im Sommer, um mal wieder etwas Heimat nachzutanken. Eine ordentliche Portion Salzkammergut im Herzen lässt mich den gefühlt sechs Monate dauernden grauen Winter in Berlin besser überstehen, wo ich seit dem Millenium lebe.

Ich stamme aus einer Künstlerfamilie. Meine Mutter ist Tanzpädagogin für Modern Dance an der Universität Mozarteum in Salzburg. Tanzen ist ihre große Leidenschaft, auch heute noch unterrichtet sie, mit über achtzig Jahren. Sie hat außerdem mehrere Lehrbücher über das Tanzen geschrieben. Trotzdem oder gerade deshalb wollte sie nie, dass ich Ballettunterricht nehme. Vorwiegend aus gesundheitlichen Gründen. Ich sollte mir meine Wirbelsäule nicht kaputt machen. Stattdessen bekam ich Klavierunterricht – das sei besser für den Rücken! Doch obwohl ich als Kind sogar bei dem großartigen Komponisten Carl Orff auf dem Schoß saß und er mir das Ganze mit den weißen und schwarzen Tasten erklärte, war ich nur mäßig begabt. Ich habe lieber gesungen.

Mein Vater war Schauspieler an den Münchner Kammerspielen und hat in den Siebzigerjahren mit den Großen seiner Zeit zusammengearbeitet. Der Dramatiker George Tabori hat mir damals einige Lebensweisheiten mitgegeben, die ich erst Jahre später hinterfragt habe. Zum Beispiel: »Nur im Gefühl liegt Wahrheit!« Wirklich? Ich finde, nur weil man etwas fühlt, ist es noch lange nicht wahr. Und vor allem darf das eigene Gefühl nie als Ausrede dafür benutzt werden, einfach zu tun, was man will – besonders wenn man damit anderen Menschen schadet. Aber dazu später mehr!

Meine Eltern lernten sich kennen, als meine Mutter einen Tanzkurs an der Schauspielschule gab, die mein Vater besuchte. Er war fünf Jahre jünger als sie und stolperte selbstsicher trotz einem Loch im Socken in ihren Unterricht. Sie fand ihn einfach nur doof. Er war präpotent, gutaussehend und hatte eine große Klappe. Aber die beiden waren Seelenverwandte, verliebten sich und standen danach sämtliche Höhen und Tiefen miteinander durch. Sie waren so etwas wie ein Hippie-Glamour-Paar.

Meine Mutter ist wunderschön und sehr klug. Wir sind so eng verbunden wie siamesische Zwillinge. Eine Seele auf zwei Körper verteilt. Sie leiht sich sogar heute noch Sachen von mir. Letztens hat sie in Singapur unterrichtet und fragte mich, ob ich ihr vor dem Abflug meinen Trenchcoat schicken könnte. »Den ziehst du doch sowieso nicht mehr an, Liebes«, war ihr Argument. Um mir direkt zu sagen, dass mir besagter Mantel gar nicht mehr passt, ist sie viel zu höflich. Und selbstredend hat sie als gebürtige Österreicherin den Schmäh im Blut – eine der wichtigsten Qualitäten, die sie mir vererbt hat. Was es damit auf sich hat? In Salzburg bekommt man zum Schwätzchen mit dem Fleischer oder beim Plausch mit der Kuchenfrau im Kaffeehaus den sagenumwobenen Schmäh immer gleich mitgeliefert. Der Schmäh ist unser Kulturgut, der größte österreichische Exportschlager nach Falco. Er ist wie ein schelmischer kleiner Kobold, der dir im Nacken sitzt und dir nett verpackte Gemeinheiten ins Ohr flüstert. Der Schmäh ist ein Augenzwinkern, ein verschmitztes Lächeln, das die Kommunikation immer mit genau der richtig dosierten Mischung aus Flirt und Provokation würzt. Ich habe den Schmäh mit der Muttermilch aufgesogen und werde ihn hoffentlich nie verlieren. Danke, Mama!

Mein Vater stammte aus dem Frankenland. Er war blond, blauäugig, ein sehr attraktiver, charmanter Mann. Sich nicht in ihn zu verlieben, war ein Ding der Unmöglichkeit!

Zusammen waren meine Eltern ein unschlagbares Paar, das Brangelina locker in den Schatten gestellt hätte. Als ich klein war, waren beide beruflich viel unterwegs. Mein Vater mehr als meine Mutter, weil er immer neunzig Minuten mit dem Auto nach München zu seinen Vorstellungen fahren musste. Theater und Film habe ich deshalb in meiner Kindheit nicht wirklich gemocht. Das waren Störfaktoren, die das Familienleben beeinflussten. Da meine Eltern auch ein sehr leidenschaftliches und bisweilen konfliktreiches Paar waren, war es mir allerdings ganz recht, viel mit meiner Mutter allein zu sein. Vielleicht haben wir auch deshalb diese ganz spezielle Verbindung.

Wenn meine Eltern nicht zu Hause waren, passte meine Oma Anna, die Mutter meines Vaters, oft auf mich auf. Ich liebte sie über alles. Sie war eine wahrhaft weise Frau und sagte oft: »Der liebe Gott hat einen bunten Garten!« Das bedeutet so viel wie: Alles ist möglich, und es muss alles geben! Neben der stolzen Rose blüht vielleicht ein Unkraut. Eine schöne Blüte kann sich als eine Giftpflanze entpuppen, manche Saat geht auf, und manche Pflanze verkümmert. Diesen philanthropischen Pragmatismus habe ich von Oma Anna adoptiert. Ich bin in meinem Leben mit vielen glücklichen Ereignissen und wunderbaren Menschen gesegnet worden, habe aber auch viel Leid, Missgunst und giftige Zeitgenossen ertragen müssen. Alles hängt zusammen und befindet sich in Balance. Kein Licht ohne Schatten. So ist das Leben!

Unser Familienhaus im Salzkammergut steht in solch einem bunten Garten ganz oben auf einem Berg. Mein Jugendfreund brauchte damals eine ganze Stunde, um auf unseren Hausberg hinaufzukraxeln, wenn er mich besuchen wollte. Das nenn ich mal Einsatz! Übrigens, selbst die Berge in Österreich haben diesen gewissen Schmäh. Sie sind majestätisch, aber freundlich. Nicht so spitz und bedrohlich wie die Gebirge in der Schweiz. Achten Sie mal darauf! Vielleicht liegt mir unser Haus auch deshalb so am Herzen, weil ich meinem Vater bei der Entdeckung dieses Kleinods nach langer Suche als Komplizin zur Seite stand.

Das Ganze trug sich nämlich so zu: Im Sommer 1979 fuhr ich mit meinem Vater jedes Wochenende über Land, auf der Suche nach einem »Austragshäusl«. So nennt man ein kleineres, separates Wohnhaus neben dem Haupthaus auf einem Bauernhof. Findet auf dem Hof ein Generationenwechsel statt, ziehen die Eltern meist in das Austragshäusl und überlassen der jungen Familie das Hauptgebäude mit allem nötigen Freiraum. Keine schlechte Idee! Eben solch ein Austragshäusl wollte mein Vater kaufen. Auf dem Land muss man für so was einfach losfahren und sein Glück versuchen. Da hilft kein Immobilienmakler. Meine Mutter hatte keine Lust, auf die Pirsch zu gehen, ihr war das zu viel. Aber mein Vater und ich, wir stellten uns der Aufgabe. Leuten ein gutes Gefühl geben, in den Schuhen des anderen gehen, um eine gute Verhandlungsbasis zu schaffen – das konnten wir! Zusammen waren wir das Haus-Such-team.

In Papas dunkelbraunem Käfer-Cabrio mit offenem Verdeck machten wir uns Wochenende für Wochenende auf den Weg – von Gehöft zu Gehöft, um mit den Bauern zu sprechen. Es waren verheißungsvolle Tage, und Abenteuer lag in der Luft. Vor der Abfahrt kauften wir uns oft Leberkässemmeln beim Fleischer, und ich bekam eine Fanta, was meine Mutter nicht wissen durfte. Als Mitstreiterin der 68er-Bewegung war sie eine Vorreiterin der ersten Bio-Welle, und Fanta war natürlich ein No-Go! Das blieb also ein Geheimnis zwischen meinem Papa und mir. Er saß am Steuer und ließ sich den Sommerwind um die Nase wehen, während ich auf der Rückbank Asterix-Comics las und Butterkekse knabberte, von denen ich mir einen Vorrat unter der Fußmatte angelegt hatte. Dann streckte ich meine Hand nach draußen, um sie im Fahrtwind zur Melodie von Cat Stevens’ Where Do the Children Play tanzen zu lassen.

Immer wenn wir ein passendes Haus erspähten, hielten wir an, und mein Vater ließ bei den Bauern seine Verhandlungsmuskeln spielen. Dabei floss jede Menge Alkohol. Auf dem Land ist das ja durchaus üblich. Um jedoch bei den feucht-fröhlichen Geschäften einen klaren Kopf zu bewahren, hatte mein Vater einen cleveren Trick auf Lager: Wie im Western kippte er die kleinen Gläser mit dem Vogelbeerschnaps heimlich unter dem Tisch aus. So blieb er stets im Vorteil. Natürlich war er als Schauspieler sehr wortgewandt und emphatisch. Er hatte es wie kaum ein anderer drauf, Leute zu bezirzen.

Ich begleitete ihn jedoch nicht nur zum Spaß. Nein, ich hatte einen extrem wichtigen Geheimauftrag! Mein Vater und ich hatten ein spezielles Zeichen ausgemacht. Wenn er bei den Verhandlungen mit einem Bauern nicht vorankam, zog er mich unauffällig am Zopf, und ich spielte meine erste Rolle – das Cliffhanger-Kind!

»Du, Papa, ich bin schon so müde, können wir langsam los?«

»Ja, natürlich.« Und an den Bauern gewandt entschuldigte er sich: »Wir reden morgen weiter, ja?«

So hatte er eine gute Ausrede, um aufzubrechen und einen neuen Termin zu vereinbaren. Der Deal war damit nicht gestorben – nur vertagt. Wir waren wie Bonnie und Clyde, eingeschworene Partner. Zwischen uns lag ein stillschweigendes Einverständnis. Wenn man sich liebt, braucht man keine Worte.

Nach etwa einem Jahr wöchentlicher Ausflüge und vergossener Vogelbeerschnäpse wurde unsere Mission schließlich von Erfolg gekrönt: Wir fanden ein Austragshäusl in Neumarkt am Mattsee. Nachdem wir es den Bauern vor Ort abgekauft hatten, wurde es Balken für Balken abgetragen und auf unserem Berg im Salzburger Land wiederaufgebaut. Mit Freude beobachtete ich die Zimmermänner und Ofensetzer, die unser Heim nach und nach scheinbar aus dem Nichts heranwachsen ließen. Dieses Bild hat sich ganz tief in mein Unterbewusstsein eingebrannt. Ich habe gelernt, was man schaffen kann, wenn man seine Arbeit liebt und respektiert. Seitdem habe ich eine tiefe Bewunderung fürs ehrliche Handwerk. Nach einigen Wochen war unser Holzhaus fertig, ganz oben auf unserem Berg. Da steht es bis heute und trotzt jedem Sturm und jeder Schiefwetterlage. Es ist der Inbegriff von Geborgenheit, die Gebäudifizierung von Lebensglück – einfach mein Ein und Alles.

Ich bin so verbunden mit diesem Haus und diesem Land, dass ich immer versuche, ein Stück Heimat bei mir zu tragen, egal, wohin es mich verschlägt. Denn es ist ja nicht nur ein Ort, den man zurücklässt, sondern auch ein Stück seiner selbst. Die Muriel, die ich in Österreich bin, die bin ich sehr gern! Das ist mein Kern, meine Kindheit und meine Bodenhaftung. Meine Cousine schickt mir deshalb regelmäßig ein besonderes Raumspray aus der Heimat, das nach unserem Haus duftet. Nach Marillen und frischem Gras. Solche Souvenirs sind wie kleine Gefühlsbrücken zu einem früheren Ich, das vielleicht doch noch ganz tief in einem schlummert. In jedem Fall sind sie Seelenpflaster, die helfen, wenn es mal holprig wird.

Ein anderes solches Seelenpflaster wandert regelmäßig in meinen Magen. Denn auch gutes Essen ist natürlich Futter für die Seele! Mein Lieblingstier heißt Schnitzel, und es wohnt in Wien. Die österreichische Küche wäre ohne Fleisch ja gar nicht existent. Ein original Wiener Schnitzel wird aus Kalbsfleisch gemacht – lassen Sie sich bitte nichts anderes vorsetzen. Es sollte dünn geklopft sein, am besten in einer Tüte mit Zipverschluss, damit die Fasern nicht zerstört werden. Und ganz wichtig: Es muss in Schmalz gebraten werden, ja, es muss richtig darin schwimmen, damit die Panade am Ende ordentliche Wellen schlägt. Nur dann ist es ein Original. In diesem Punkt bin ich sehr patriotisch. Ich koche sehr gern, das habe ich von meinem Vater gelernt. Seine Lieblingsgerichte sind sowohl in der Zubereitung als auch im Genuss sehr nährend, für Körper und Geist. Sein Gulaschrezept dauert fünf Stunden, und die wichtigste Zutat ist Liebe. Als das Gulasch neulich bei mir zu Hause auf dem Gasherd köchelte, meinte meine kleine Tochter: »Rühr noch mal um! An der Stelle ist mehr Liebe als da.«

Ganz viel Liebe steckt übrigens auch in meinem Dirndl von daheim. Ich ziehe es jedes Mal zum Spaß an, wenn ich in Berlin wählen gehe. Die Wahlhelfer freuen sich dann, wenn sie mich sehen, und begrüßen mich schon von Weitem mit »Servus, Frau Baumeister!« Tatsächlich ist mein Dirndl mein allerliebstes Kleidungsstück. In Österreich trägt frau das auch im Alltag. Hierzulande wirkt es hingegen oft ungewollt volkstümlich, dabei schmeichelt die Tracht der weiblichen Figur und unterstreicht ihre Vorzüge. Ein Dirndl steht einfach allen und ist die schönste Uniform, die es gibt. Sie zeigt, wo du herkommst, und gibt sogar Auskunft über den Familienstand. Das hat mir meine Oma Anna beigebracht: Sitzt die Schleife vorn rechts, ist die Frau vergeben, vorn links bedeutet, sie ist Single, und bei einer Witwe ist die Schleife hinten in der Mitte gebunden. Ist doch total praktisch! Mein Dirndl ist ein Blaudruck-Modell und stammt aus dem Flachgau. Das Mieder ist dunkelblau und mit weißen Ornamenten bedruckt. Dazu trage ich eine weiße, tief ausgeschnittene Bluse und einen roten Rock. Der Blaudruck ist ein Kulturerbe Österreichs. Mein allererstes Dirndl jedoch hatte meine Oma Anna selbst geschneidert, ungefähr zu der Zeit, als mein Vater und ich regelmäßig auf Haussuche gingen. Es war wunderschön, dunkelblau und mit silbernen Knöpfen versehen. Oma Anna hatte sogar die Jacke mit kleinen roten Blümchen bestickt. Diese Jacke haben später meine beiden Töchter getragen und waren dabei mindestens genauso so stolz wie ich damals. Ein Dirndl geht eben einfach immer. Du ziehst es nicht an – es kleidet dich!

Ich bin Österreicherin durch und durch und verbringe deshalb auch heute noch jeden Sommer in der Heimat. Die Liebe zum Land dampft in unserem Haus an heißen Tagen aus allen Ritzen zwischen den Brettern. Die Zeit daheim ist nicht spitz an den Enden. Wenn ich im Sommer dort bin, sind die Tage leicht, so wie damals beim »Über-Land-Fahren«. Ich bade im Strandbad Mattsee, laufe barfuß zum Bäcker, der mir mein Sackerl Semmeln meist schon vorbereitet hat, und atme die frische Waldluft ein, bis meine Lungen fast platzen.

Wenn ich dann abends voll mit neuen alten Eindrücken nach Hause komme, lege ich mich in die Hängematte zwischen den beiden Lindenbäumen in unserem bunten Garten und lasse die Seele baumeln und mich vom Sommerwind durchpusten, bis mein persönlicher Speicher an Heimat wieder aufgeladen ist. Zuhause ist ein Ort, aber daheim ist ein Zustand – der beste Zustand auf der Welt.

Hinfallen ist keine Schande, nur Liegenbleiben

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