Читать книгу Lieber Tod, wir müssen reden - Muriel Marondel - Страница 10

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1. Mai 2015

»Jetzt hat er es endlich geschafft.«

Die Worte des Palliativpflegers, der gerade den Raum betreten hat, klingen fern, und ihre unpassende Beschaffenheit schießt durch mich hindurch, ohne dass ich den Hauch eines Widerstandes spüre. Er ist ein Geist, so, wie ich gerade zum Geist geworden bin.


Neben mir liegt die Leiche meines Vaters. Wenige Momente zuvor hat er seine letzten Atemzüge genommen. Schrecklich anmutende Atemzüge. Ein lautes, tiefes, inbrünstiges Schnappen nach Luft. Verzerrt ist sein Gesicht und gezeichnet von der Qual, die er die letzten Monate ertragen musste. Er trägt nichts, außer einem Krankenhaushemd und einer Windel. Seine dünnen Beinchen sind gespreizt, der Oberkörper aufgerichtet, der Kopf abgelegt auf dem Gitter seines Bettes.

Er sieht trotz seiner stattlichen Körpergröße von einem Meter neunzig zart und zerbrechlich aus. Dieser Anblick hat wenig mit dem Mann zu tun, der mich großgezogen hat. Dennoch ist es für mich ein Anblick voller Würde. Denn ich weiß um den Kampf der vergangenen Stunden, ich war ja dabei. Ich weiß auch um die Schläuche, die er sich am Tag zuvor aus dem Mund reißen wollte.

»Nun frisst mich der Krebs ganz auf oder eben nicht«, sagte er der Schwester mit der Bitte, alle Maßnahmen einzustellen.

So lange hatte er gehofft, solange hatten wir alle gehofft. Sein Zustand hat sich dann rapide verschlechtert, und so wurde er heute Morgen auf Mamas Drängen in eine Palliativstation verlegt.

Papa wollte ja, aber Papa konnte einfach nicht mehr leben. Seine Krankheit hatte ihn bis zur absoluten Lebensmüdigkeit gequält. Er war zu diesem Zeitpunkt komplett metastasiert, hatte eine Lungenembolie überstanden und war bis auf die Knochen abgemagert. Die meiste Zeit dämmerte er in seinem Bett vor sich hin, und sein Magen war seit Wochen nicht mehr dazu in der Lage, Nahrung aufzunehmen, und so erbrach er sich ständig. Es war so schwer. All diese Monate waren so unfassbar schwer.

Als ich heute nach 600 Kilometern Fahrt im Krankenhaus ankam und in sein Zimmer eilte, warteten dort meine Mutter und meine drei Schwestern auf mich. Aber ich erinnere mich nicht mehr an den Ausdruck ihrer Gesichter. Ich erinnere mich nur an den Moment, indem ich Papa erblickte. Er saß auf dem Bett, sein Kopf hing nach unten, während sein Arme und sein Oberkörper unruhig und unkontrolliert hin- und herschwenkten.

»Papa«, sagte ich und wartete auf den Klang jener Stimme, die mich mein Leben lang begleitet hatte. Keine Antwort. »Papa«, wiederholte ich, jetzt flehender. Aber Papas Kopf blieb einfach hängen. »Er reagiert nicht mehr auf uns«, sagte Mama ruhig. Ich sah ihn weiter an, unfähig, mich von der Stelle zu bewegen. Und da, in diesem schrecklichen Moment, begriff ich, was ich bisher nicht begriffen hatte, vielleicht nicht begreifen wollte: Papa lag bereits im Sterben. Jetzt, nicht irgendwann. Ich wusste plötzlich, dass es keinen Abschied geben würde, wie ich ihn aus amerikanischen Filmen kannte. Ich begriff, dass ich nie mehr mit ihm sprechen würde, dass er mir nicht mehr sagen konnte, was er vielleicht noch hätte sagen wollen, und dass er auch nicht mehr in der Lage war, seine große warme Hand um meine zu legen. Papa konnte nicht mehr kommunizieren. Nie mehr.

Ich wollte mich schreiend zu Boden werfen. Ich wollte die Luft anhalten und umfallen und erst wieder aufwachen, wenn dieser Albtraum ganz sicher vorbei war. Stattdessen wurde ich in diesen dramatischsten Stunden meines bisherigen Lebens – und das war mir selbst unbegreiflich – von einer tiefen Ruhe ergriffen. Es blieb mir nichts anderes übrig. Ich sah es als meine Aufgabe an, ihn jetzt nicht allein zu lassen. Obwohl ich ja wusste, dass das Sterben in seiner letzten Konsequenz das Alleinsein impliziert.

Die Mediziner sagten, es könne noch einige Tage dauern, und so teilten wir uns in mehrere Gruppen auf. Zwei meiner Schwestern fuhren zum Schlafen nach Hause, und Mama, meine ältere Schwester und ich blieben im Krankenhaus. Ich hatte mir ein Bett neben Papas Bett geschoben und blieb dort, die ganze Nacht. Ich dachte nicht viel nach. Während ich dort saß, funktionierte ich einfach, meiner mir selbst erlegten Aufgabe entsprechend. Papa schlief nicht ruhig ein. Während er sich über Stunden immer wieder in seinem Bett aufbäumte, gab er Schreie und ein Wimmern von sich und war über viele Stunden sehr unruhig. Er röchelte jetzt, immer lauter und immer stärker.

»Papa, hab keine Angst«, sagte ich und streichelte seinen Rücken und seinen hängenden Kopf. Und wenn er hustete, hielt ich ihm ein Taschentuch unter den Mund, um die dunkle Flüssigkeit, die er erbrach, aufzufangen. Seine Beine schimmerten bläulich, sein Gesicht wurde grauer, und seine Augen und Wangen sanken mit jeder Stunde, die wir dort wachten, tiefer ein. Viele Stunden saßen wir bei ihm.

Dann, um vier Uhr morgens, passierte es. Auf einmal drehte sich Papa noch einmal um und sagte meinen Namen. Es war wie ein Wunder. Er wusste also doch, dass wir da waren! Blitzschnell verstand ich sein letztes Zeichen: Es war so weit.

»Kommt, schnell«, rief ich Mama und meiner Schwester zu, die sich etwas abseits zum Ausruhen hingelegt hatten.

Das, was dann passierte, war der roheste, tief greifendste, schaurigste, wahrhaftigste und schmerzhafteste Moment meines Lebens. Und obwohl ich wusste, dass Papa unheilbar krank war, hatte mich nichts wirklich auf diesen Moment vorbereiten können: Das erste Mal in meinen Leben sah ich einen Menschen sterben. Ein Mensch, der mir mein eigenes Leben geschenkt hatte, der mit meiner eigenen Existenz auf viele Tausend Arten und Weisen verwoben war, sollte aufhören zu existieren. Und obwohl wir vier dort gemeinsam zusammen waren, musste jeder Papas Leben für sich allein loslassen. Meine Schwester hielt seine Hand, Mama seine Füße und ich Papas Kopf.

Ich hörte meine Mutter Worte der Dankbarkeit für ihr gemeinsames Leben wiederholen. Ich hörte uns alle sagen, dass wir ihn lieben. Irgendwann rief meine Mutter: »Du kannst jetzt gehen.« Ich weiß, er hatte sie einmal gebeten, das zu tun, wenn seine Zeit gekommen sein würde. Aus Papas Mund kam ein tiefes Ächzen. Ich sah ihn immer nur an, die ganze Zeit. Dann machte er keine Geräusche mehr.

»Wo bist du jetzt?«, dachte ich, während ich mit einer eigenartigen Faszination seinen erstarrten, offen stehenden Mund betrachtete. »Tot. Tot.«

Der Raum war von einer seltsamen Stimmung, einer Fremdartigkeit erfüllt, die fast schon übersinnlich wirkte. Ich begriff nicht mehr, als dass hier gerade irgendetwas geschehen war, was ich zuvor noch nie erlebt hatte, was meine Realität neu erschaffen hatte. Während ich das mädchenhafte Schluchzen meiner Mutter wahrnahm – ich hatte sie noch nie so hilflos weinen gehört – erhob ich mich und sah meine Beine, die ich nicht mehr richtig zu spüren vermochte, im grellen Licht des Krankenhausgangs auf- und abgehen. Ich wollte einen klaren Gedanken fassen, wollte weinen, handeln, meine Mutter in den Arm nehmen, sie trösten. Stattdessen lief ich immer weiter. Auf und ab. Und auf und ab.

Ich lief am Zimmer des Palliativpflegers vorbei und sah ihn an. Er sah mich auch an, sagte aber nichts. Dann ging ich in die kleine Eckküche der Station und öffnete wahllos Schränke und Schubladen. Ich dachte an nichts, während ich das tat. Ich tat es einfach. Wie lange ich mich dort aufhielt, um in der erdrückenden Stille Küchentüren auf- und zuzumachen, weiß ich nicht mehr. Ich weiß, dass ich mich irgendwann wieder auf dem Flur befand. Dort stand ich und horchte.

Nichts.

Die letzte Ruhe nach dem großen Sturm.

Er war fort. Und mit ihm ging mein Leben, so, wie es bisher gewesen war.

Lieber Tod, wir müssen reden

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