Читать книгу Lieber Tod, wir müssen reden - Muriel Marondel - Страница 14

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Einer flog übers Kuckucksnest

»Wann traten diese Attacken das erste Mal auf?«, fragt mich der Mann auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes in zackigem Ton. Uns trennt ein überdimensional großer orientalischer Teppich und ein Altersunterschied von 40 Jahren. In seiner Hand hält er einen Notizblock und einen Stift, der bereit zu sein scheint, meine psychischen Leiden zu Papier zu bringen.

Der alte Mann blickt mich mit einer Mischung aus väterlicher Fürsorge und angestrengter Erwartung an. Es ist Freitagmittag, und die Sprechstundenhilfe sagte mir bereits am Telefon, dass ich nur schnell und auch nur ausnahmsweise ohne Termin vorbeikommen könne. Mathis sagte mir, ich solle mir Hilfe suchen. Ich weiß, dass ich ihn überfordere, also habe ich angerufen und bin hierher gekommen.

Im Wartezimmer saß außer mir noch eine andere Frau. Verrückt sah sie nicht aus, sie strahlte sogar eher eine gleichmütige Freundlichkeit aus. Wahrscheinlich schon medikamentös eingestellt. »Uff, hör auf, so zynisch zu sein!«, fahre ich mich selbst an. Aber ich weiß auch nicht wirklich, wie ich dieser Situation gerade anders begegnen soll.

»Haaaallo, hören Sie mir zu?«, fragt mich der Psychiater und macht diese Scheibenwischergeste.

»Ja, ähm«, sage ich und räuspere mich. »Als ich das erste Mal geschlafen habe, nachdem, na ja, nachdem mein Vater gestorben war. Vor fünf Wochen.«

»Mmhh«, summt der Psychiater. »Und Sie haben das seitdem jede Nacht?«

»Fast jede. Und tagsüber, da … da bekomme ich so seltsame Zustände. Ich habe das Gefühl, dass sich meine … also ich fühle mich so, als ob sich meine Realität verschiebt. Das ist etwas seltsam. Alles läuft auf einmal viel langsamer ab, und ich bekomme dann so ein Kribbeln im Körper und große Angst. Weil ich glaube, ich sterbe jetzt oder ich werde verrückt. Ich bin aber nicht verrückt, ich hoffe es zumindest. Das ist mir auch in der Arbeit passiert, und deshalb kann ich auch nicht mehr dorthin … gerade.«

Ich höre mir selbst beim Reden zu. Wie soll ich das denn erklären? Wie soll ich erklären, wie das ist, wenn man nicht mehr man selbst ist. Von heute auf morgen. Warum fühlt es sich so an, als sei ich hier bei mir in meiner eigenen Welt und er dort drüben in einer ganz anderen? Ich fühle mich wie in einem Tunnel, der viel zu eng und viel zu dunkel ist und mir diese Beschaffenheit nur erlaubt, mich Schritt für Schritt langsam zum nächsten Punkt vorzutasten. Sogar das Reden strengt mich an.

Der Psychiater sieht mich ernst an. »Na, ein Elternteil zu verlieren, ist ein großer Einschnitt in das Leben eines Menschen, nicht? Da kann man schon einmal Depressionen oder eine Panikstörung bekommen«, sagt er ein bisschen weniger zackig.

Ich fühle mich erkannt und abgestempelt zugleich.

»Und, was kann ich nun für sie tun?«, fragt er und betont dabei »ich« besonders.

Verdammt, ich weiß nicht, was ich ihm sagen kann. Am liebsten würde ich ihn fragen, ob er es nicht einfach wegmachen könnte, sage aber stattdessen erst einmal nichts.

»Glauben Sie, dass ich wieder normal werde?«

Der Psychiater lächelt jetzt ein wenig aufmunternd. »Bestimmt«, sagt er. »Aber wir sollten Sie ihm Auge behalten. Ich gebe Ihnen erst einmal Notfallmedikamente mit. Sie nennen sich Tavor und sind ein Beruhigungsmittel.«

»Ich will keine Medikamente. Ich will das nicht«, schießt es aus mir heraus. Ich bin wütend über seinen Vorschlag. Tabletten gegen seelischen Schmerz, mir kommt das falsch vor. Außerdem habe ich das Gefühl, dass die Einnahme von Medikamenten ein Eingeständnis ist, dass ich nicht mehr richtig klarkomme. Obwohl ich natürlich eigentlich weiß, dass ich nicht mehr richtig klarkomme. Der Psychiater nickt. »Na, sie müssen Sie ja nicht nehmen. Es sind auch nur ein paar, denn die können abhängig machen. Also gilt hier sowieso: Vorsicht, Vorsicht!« Er wackelt mit dem Zeigefinger. »Manchmal hilft es schon, sie in der Tasche zu haben.«

Nun nicke ich auch. Okay, für den Notfall. Ich atme tief durch.

»Wir sehen uns nächste Woche wieder, bitte machen Sie einen Termin aus«, sagt er und erhebt sich. Ich gehe mit ihm zur Tür. Wir bleiben kurz stehen, und er sieht mir in die Augen.

»Es wird besser«, sagt er und gibt mir zackig die Hand. »Trauer braucht viel Zeit, und es schmerzt erst einmal lange.«

»Danke«, sage ich und bin überrascht davon, dass mich seine Worte ein wenig erwärmen.

Ich betrete die Straße mit meinen Notfallmedikamenten in der Tasche und fühle mich ein bisschen sicherer in dieser Welt. Aber ich glaube nicht, dass es an den Medikamenten liegt. Es liegt an den letzten Worten des Psychiaters.

»Seltsam«, denke ich. »Immer wenn jemand Verständnis dafür zeigt, was ich fühle, hilft das. Ich glaube, es ist das Spiegeln, das Verstehen, das Würdigen. Es erschafft eine Verbindung, die wie ein heilender Balsam auf meinen Zustand wirkt und mich für einen Moment Geborgenheit spüren lässt.«

Lieber Tod, wir müssen reden

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