Читать книгу Lieber Tod, wir müssen reden - Muriel Marondel - Страница 13
ОглавлениеVier Wochen später – Der Absteiger der Woche
»Das sind die Aufsteiger der Woche«. Ich wiederhole die Überschrift des Posts, zu dem ich gerade in meinem Facebook-Feed gescrollt bin, in kaum hörbarer Lautstärke. Auf dem Foto zum Artikel eines Onlinemagazins, das jede Woche Köpfe und Unternehmen der Digitalbranche als besonders erfolgreich und somit als Aufsteiger kürt, ist eine hübsche, langhaarige Brünette zu sehen. Sie lächelt mit weißen Zähnen vor einem weißen Fotostudiohintergrund, ihren Kopf und die Augen direkt in die Kamera gerichtet. Die Aufsteigerin der Woche hat vor nichts Angst, das sieht man gleich. Ihr Blick sagt so etwas wie »Ich bin ein proaktiver High-Achiever mit echten Core-Values, der seinem Unternehmen die passende Rendite einfahren wird.« Oder vielleicht auch einfach nur: »Yay, yay, yay!« Die langhaarige Brünette mit dem kessen Lächeln trägt Perlenohrringe und eine perfekt gebügelte hellblaue Bluse über einem – mit Sicherheit – perfekt gereinigten dunkelblauen Blazer. Mit diesem Look würde sie jeden Contest zur Mrs.-Klischee-Unternehmensberaterin gewinnen. Die Aufsteigerin bietet keinerlei Angriffsfläche, außer vielleicht der, dass sie keinerlei Angriffsfläche bietet.
»Du tust Menschen unrecht und bist eine zynische Kuh«, denke ich mir noch, mühe mich aber dann trotzdem nicht ab zu erfahren, für welche Leistungen die Dame ihren Titel erhalten hat. Stattdessen quäle ich mich hoch in Richtung Spiegel. Beim Aufstehen wird mir wie immer schwarz vor Augen – und schon geübt darin, mich trotzdem weiter auf den Beinen zu halten, laufe ich die fünf Schritte in Richtung meines Ziels, ohne eigentlich zu wissen, warum ich es überhaupt zu meinem Ziel gemacht habe. Als Kind habe ich einmal gesehen, wie einem Huhn der Kopf abgehackt wurde. Und fand es erstaunlich und zugleich zum Gruseln, wie das Huhn immer weiterlief, ohne Kopf und ohne Ziel und Richtung. Bis es irgendwann umfiel und sich nicht mehr bewegte. Warum habe ich immerzu das Bild dieses verdammten Huhns vor Augen?
Eine andere langhaarige Brünette steht da nun vor dem Spiegel. Wie eine Gewinnerin sehe ich nicht gerade aus. Der Händedruck der Aufsteigerin würde mich in diesem Moment wahrscheinlich sofort zu Boden zwingen. Statt einer hellblauen Businessbluse trage ich Unterwäsche, die natürlich nicht zusammenpasst. Darüber meinen – immerhin auch hellblauen – Lieblings-Billigkimono, den mir meine Stewardess-Freundin Kathrin aus China mitgebracht hat und dessen Gürtel ich immer irgendwo verliere und dann nicht suche, weil es mir eigentlich auch egal ist, ob mein Lieblings-Billigkimono offen steht. Geschweige denn, wie ich im Allgemeinen aussehe. Außer ich habe eine schlechte Pizza bestellt, was sowieso nur noch selten passiert, da ich eigentlich nie Hunger habe. Ich bin sehr eitel, nicht gerade eine Eigenschaft, auf die ich stolz bin. Aber an meiner noch oder nicht mehr vorhandenen Eitelkeit kann ich zumindest festmachen, wie es um mich steht. Solange es mir noch nicht ganz egal ist, ob ich dem Pizzaboten nicht mehr ganz frisch riechend und in hässlicher Unterwäsche die Tür öffne, gibt es auch noch etwas Lebenskraft. Gerade würde ich zumindest versuchen, den Billigkimono lose zusammenzuhalten.
Meine Haare sind dennoch ungekämmt, meine Haut blass, und ein seltsam regungsloses Paar brauner Augen starrt durch mich hindurch. Ich sehe aus wie nach einer langen und durchzechten Partynacht, nur ohne Reste von Wimperntusche unter den Augen und auch ohne einen versöhnlichen Gesichtsausdruck, der verrät, dass der Qual erst Freuden vorausgegangen sind. Eine sich Quälende ohne Freuden. Das bin ich.
Ich glaube, ich habe länger nicht geduscht. Nein, ich weiß natürlich, dass ich länger nicht geduscht habe. Ich stelle mir vor, meine bleiernen Beine ins Badezimmer tragen zu müssen und mit meinen bleiernen Armen eine Shampooflasche zu öffnen, deren Inhalt ich dann auch noch mit meinen bleiernen Fingern auf meinem langsam arbeitenden Kopf verteilen muss. Urgh. Das Wasser auf meiner Haut wird sich nicht wohltuend, sondern wieder wie ein fast schmerzhafter Reiz anfühlen, weil mein Körper vom ganzen Liegen so seltsam taub geworden ist. Beim Gedanken daran, welche Energie mich das anschließende Abtrocknen und die Tatsache, dass ich mich bücken müsste, um aus meinem Schrank neue Unterwäsche zu suchen, kosten würde, steige ich aus. Ich könnte nach dem Duschen auch ganz schnell nackt und nass ins Bett rennen, denke ich. Dort würde ich dann von allein trocknen, während ich im warmen Schutz meiner Bettdecke langsam wieder einschlafe.
Der Gedanke an einen ruhigen Schlaf hat in den vergangenen Wochen wohl das einzig wohltuende Gefühl in mir ausgelöst. Wenn das Aufwachen nur nicht so schrecklich wäre.
Ich stehe immer noch wie angewurzelt vor dem Spiegel und erkenne, dass das Letzte, was mir gerade möglich ist, die Tatsache ist, nackt und nass ins Bett zu laufen. Und schon gar nicht schnell. Dazu müsste ich erst einmal einen Grund finden, warum ich mich überhaupt waschen sollte. Ich müsste einen Grund finden, warum irgendeine Handlung gerade überhaupt Sinn ergeben würde. Die Person, die mir da entgegenblickt, ist mir fremd, ich fühle mich ihr noch nicht wirklich nahe, und ich kann sie auch noch nicht wirklich verstehen.
Zwischen mir und ihr liegt die Erinnerung an eine andere Welt, die erst vor Kurzem endete. Die Welt von früher.
Früher, da konnte diese Person noch arbeiten und lachen und schlaue Sachen sagen, und außerdem duschte sie zweimal am Tag. Früher, da war sie vielleicht ein »Achiever«, so wie die Aufsteigerin. Was auch immer das bedeuten mag. Früher, da sagte man ihr, dass sie alles besäße, was ein neues TV-Talent so braucht: Witz und Charme und eine schöne Stimme. Auch ein hübsches Gesicht und die Gabe, ganz lange Schachtelsätze verständlich zu präsentieren. Und gute Fragen zu stellen. Früher war ihr wichtig, dass man ihr das gesagt hat.
Nur die, die das früher gesagt haben, haben sich auch schon lange nicht mehr gemeldet. Jetzt ist sie nicht mehr so wie früher, jetzt ist sie seit drei Wochen krankgeschrieben und sitzt die meiste Zeit in ihrer Wohnung, genau genommen liegt sie dort. Wegen der komischen Zustände, die sie in der Redaktion bekam und für die sie sich fürchterlich schämt. Weil plötzlich alles in Zeitlupe ablief und die Szenen vor ihr nicht mehr echt wirkten und sie nicht mehr atmen konnte und dachte, sie wäre verrückt geworden. Und sie aus dem Büro ins Grüne stürmte – wie ein Huhn ohne Kopf und ohne Ziel – und ihrem verwirrten Kollegen, der gerade rauchte, zurief, sie glaube, sie müsse sterben. Und weil alle sehen konnten, wie der Krankenwagen kam. Und hörten, wie die Sanitäter sagten, dass sie gar nichts habe. »Sie sind janz jesund, junge Dame. Vielleicht wat Psychisches.«
Und sie im Arm der Personalchefin lag und sich plötzlich all die ungeweinten Tränen und Unmengen an Rotz unkontrolliert ihren Weg suchten, und es schwer verständlich aus ihr herausgeplatzte: »Mein Papa. Es tut so weh. Mein Papa ist tot.«
Was keiner weiß, ist, dass sich dieser Moment wie eine schreckliche Niederlage anfühlte: Denn plötzlich wurde ich zu dieser Person, die mir jetzt im Spiegel entgegenblickt – eine ganz schrecklich schwache Frau. Die nichts mehr wollte, als stark und normal zu sein und genauso leistungsfähig wie alle anderen. Die plötzlich anders war, weil es ihr nicht möglich war, so weiterzumachen wie bisher.
Und weil sich die Trauer ihren Weg sucht. Immer.
Ich bin unfähig, Teil dieser funktionierenden Welt zu sein, in der keiner über den Tod reden will – oder es vielleicht will, aber sich nicht traut. Weil der Tod und das Sterben und dieser unsagbar unerträgliche Schmerz über den Verlust zeigen, wie fürchterlich verwundbar und fragil unser Leben doch ist. Und keiner die existenziellsten Fragen des Lebens, die ich mir auf einmal stelle, hören will. Weil sie uns aus unserem fest gestrickten Sicherheitsnetz herausmanövrieren könnten. Nein, wir vielleicht sogar entdecken würden, dass unser fest gestricktes Sicherheitsnetz eine Imagination ist. Weil wir vielleicht begreifen würden, wie banal es doch ist, eine Aufsteigerin der Woche zu sein. Und wir trotzdem alles Recht der Welt haben, Banalitäten Wert zu verleihen, weil das Leben vielleicht schlichtweg ganz banal ist. Und das ganze Problem eigentlich ist, dass ich nicht mehr damit klarkomme.