Читать книгу Lieber Tod, wir müssen reden - Muriel Marondel - Страница 22

Оглавление

Milch und Honig

Sartre sagte, dass die Erinnerung das einzige Paradies ist, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Entweder war Sartre ignorant, oder er vergaß zu erwähnen, dass die Erinnerung gleichermaßen eine ultimative Hölle sein kann, aus der wir partout nicht entfliehen können. Wenn ich morgens aufwache, bleiben mir ungefähr 15 Sekunden. 15 Sekunden exquisiter Gedächtnisstörung. 15 Sekunden, in denen ich glaube, dass mein Leben das einer ganz normalen Berliner Endzwanzigerin ist, die sich höchstens – allerhöchstens – damit auseinandersetzen muss, dass ihr hundsgemeiner Freund sie verlassen hat. Aber nicht damit, dass ihr hundsgemeiner Freund sie verlassen hat, nachdem ihr Vater vor ihren Augen elendig und unwiderruflich zugrunde gegangen ist.


15 Sekunden wohlig warmer Amnesie. Wohlig warm wie Milch und Honig. Wusste dieser verdammte Sartre nicht, dass die Flüsse im Paradies mit Milch und Honig gefüllt waren?

Nach den 15 Sekunden Erinnerungs-Schonfrist knallt es dann. Ich höre sie schon kommen.

Eine schwere Eistruhe landet auf meinem Brustkorb und begräbt mich mit voller Wucht unter sich. Ich ächze, öffne die Augen und starre an die Decke.

»Ich hasse dich, Erinnerung. Ich hasse dich«, grummle ich, während ich versuche, mich unter der Last der tonnenschweren Erinnerungs-Eistruhe auf die Seite zu schieben. Ach, zwecklos. Es dauert mindestens 15 Minuten, bis ich es schaffen werde, mich aufzusetzen. Und dann, wenn ich mich aufgesetzt habe, wird es mindestens weitere 15 Minuten dauern, bis ich sie nach oben hieven kann. An manchen Tagen bleibe ich auch einfach paralysiert unter der Truhe liegen. Ohne mich zu bewegen, ohne zu essen und ohne etwas zu fühlen. Der Milchund-Honig-Moment stirbt jeden Morgen den Eistruhen-Tod.

Ich habe zehn Kilo verloren und auch die Fähigkeit zu weinen. Das Ende mit Mathis hat mir meine Tränen genommen, glaube ich. Ich fühle mich taub. Ich kann mir nicht erklären, warum, schließlich müsste jetzt doch alles noch schlimmer sein. Vielleicht ist der Schmerz jetzt noch eine Etage tiefer gerückt. Oder er ist übergelaufen, und irgendetwas in mir hat beschlossen, dass ich nichts mehr fühlen will. Ich halte mich manchmal daran fest, dass Mathis seine Entscheidung bereuen wird. Er kann das nicht ernst meinen. Welcher Mensch tut so etwas? Welcher Mann verlässt seine Freundin dann, wenn sie am Boden liegt? Ich war bestimmt nicht einfach. Ich war nicht mehr lustig, nicht mehr aufmerksam, nicht mehr sexy und auch nicht mehr besonders sozial. Manchmal war ich ungerecht und wollte mir nicht helfen lassen. Ich habe meine Liebe zu ihm nicht mehr fühlen können, ich konnte nichts fühlen, außerhalb meiner kleinen Welt, die von Wunden und Fragen und Ängsten übersät ist. Ich wollte ihn nicht ausschließen, er wurde von meiner Trauer einfach rausgedrängt. Das war keine bewusste Entscheidung, nichts in diesen vergangenen drei Monaten war eine bewusste Entscheidung. Ich habe trotzdem nicht an eine Trennung gedacht. Ich dachte nicht, dass wir uns trennen würden. Aber mein altes Ich starb einfach den Tod meines Vaters mit. Ich bin mir all dessen bewusst, aber ich konnte trotzdem nichts daran ändern. Er hätte mich doch nur ein wenig weiter lieben müssen. Dann wäre ich bestimmt wieder normal geworden – irgendwann. Aber er wollte nicht auf ein neues Ich warten, eines, das erst irgendwann in Zukunft wieder zu Kräften kommen würde. Ich war ihm eine zu große Last geworden.

Ich werde in sechs Monaten 30. Mit 25 dachte ich, mit 30 hätte ich es voll drauf. Ich dachte, ich würde eine dieser erfolgreichen Frauen sein, die alles hinkriegen.

Eine, die viele tolle Freunde hat und einen smarten Mann und ein süßes Kind und eine Wohnung, in der kein einziges Möbelstück von Ikea stehen wird. Damals war das alles ganz easy und schön, in meiner Vorstellung. Mein Gegencheck nach dem morgendlichen Eistruhen-Moment sieht wie folgt aus: Mein Vater ist tot, ich habe Angst, dass meine Familie auseinanderbricht, mein Freund ist weg, ich habe keinen Job mehr, viele meiner Freunde sind die Krisenflucht angetreten, ich kann eigentlich kaum für mich geschweige denn für ein Kind sorgen und wohne in einem WG-Zimmer mit mindestens zwei Ikea-Möbelstücken. Aber selbst von diesem WG-Zimmer habe ich nicht viel, denn meistens komme ich eh kaum aus dem Bett. Mein Leben ist gerade irgendwie nicht mehr besonders lebenswert. All das wäre vielleicht nicht so schlimm, könnte ich mich nicht daran erinnern, dass es einmal besser war. Und könnte ich mich nicht daran erinnern, welche Vorstellungen ich früher von meinem Leben heute hatte.

Ach, fick dich, Sartre. Ich bin ein Wrack.

Lieber Tod, wir müssen reden

Подняться наверх