Читать книгу Lieber Tod, wir müssen reden - Muriel Marondel - Страница 23

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Trauer ist Liebe

»Trauer ist Liebe«, lese ich irgendwo. Ach, du kitschige Kackscheiße, schießt es mir durch den Kopf, und ich laufe mit in meinem Bauch randalierender Wut in mein Badezimmer. Ohne aufs Klo zu müssen, wohlgemerkt. Aber stille Örtchen kann man in Zeiten der Trauer ganz gut gebrauchen. Trauer ist stille Örtchen suchen.

Ich stehe also, nachdem ich die Tür mit voller Wucht hinter mir zugeknallt habe, hier in meinem Bad und setze mich, weil mir eigentlich auch nichts anderes einfällt, auf den Rand der Badewanne. Von dort starre ich, während ich über diesen famosen Satz mit der Liebe nachdenke, mit verschränkten Armen auf die mir gegenüberliegende stille Wand. Blümchenkacheln. »Trauer ist Liebe«. Wie ein richtig beschissener Werbeslogan hört sich das an! Was, in Gottes Namen, soll an diesem Wort Liebe überhaupt noch bedeutend sein, wo es doch immer und immer wieder inflationär für schmierige Zwecke benutzt worden ist? Ich, ich bin keines dieser Kitschmädchen, das man mit solchen Phrasen leichtfertig besäuseln kann. Jetzt erst recht nicht mehr. Genauso wenig, wie mich all diese anderen Sprüche, die ich in den vergangenen Monaten gehört habe, trösten konnten.

All die Verlegenheitsphrasen: »Meine tiefe Anteilnahme«, »Mein Beileid«, »Im Herzen mit dir.« Ach, bitch, please. Wir reden ständig in Slogans miteinander. Und dann ist das Soll erfüllt. Dann geht es für die anderen weiter. Aber die harte Zeit, die richtig harte Zeit, fängt doch danach erst an. Ich weiß ja, dass diese Worte gut gemeint sind. Ich weiß doch auch, dass die alle nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen, mit diesem Scheißthema Sterben.

Aber hier, jetzt, in diesem Moment helfen mir diese Worte nicht. Hier, jetzt, in diesem Moment, während ich als Häufchen Elend auf Blümchenkacheln starre, spüre ich keine Anteilnahme, keinen Menschen, der meinem Leid beiwohnt, kein Herz, das mit mir schwingt. Jetzt und hier hasse ich mein Leben abgrundtief, und ich hasse mich selbst in diesem Leben. Kein Spruch kann mir meine verdammte Last nehmen. Trauer ist Einsamkeit.

Liebe. Schmalzige, redundante Popsongs und Rosenblätter auf dem Bett. Kotz. Liebe ist so ein lautes, nichtssagendes Wort geworden. Liebe, das ist das mainstreamigste Wort der Welt. Sogar Mathis hat mir gesagt, dass er mich liebt – viel zu oft und zu leichtfertig hat er das vielleicht getan. »Oh mon amour, je t’aime«, hat er mir auf seiner Gitarre klimpernd vorgesungen, mit geschlossenen Augen und einem seligen Lächeln auf den Lippen. Und ich habe ihm dabei bewundernd zugehört – und geglaubt, dass seine Worte ewige Gültigkeit besitzen. Dabei war er wahrscheinlich nur in eine Projektion seiner Wünsche verliebt. So wie wir uns wohl alle ständig von den Projektionen unserer Wünsche angezogen fühlen. Das Bild einer hübschen, starken Frau, die sensibel ist, aber trotzdem alles stemmen kann. Das Bild seiner ganz persönlichen heiligen Maria, das hat er geliebt. Und jetzt, jetzt fühlte er sich wahrscheinlich sogar betrogen von mir, weil ich genau diese Frau, von der er glaubte, dass ich sie bin, nicht mehr sein konnte. Vielleicht, weil ich sie nie war. Ich bin bedürftig und schwächelnd und kackhässlich – und furchtbar schwer zu verstehen in meiner ewigen verdammten Selbstbemitleidung. Deshalb ist es jetzt vorbei mit der Liebe, vorbei mit seinen Liedern. Wer will schon eine traurige Loserin daten, die ihr Leben nicht mehr unter Kontrolle hat?

Vor Jahren, in einer Welt, in der noch alles halbwegs in Ordnung war, versteckte Mathis manchmal Liebesbotschaften in Form von kleinen Zettelchen in meiner Wohnung. Später schrieb er mir ein Lied – heute fühlt sich das so kompromittierend an –, es trug ganz klischeehaft meinen Namen. »Muuuuuuriel«, so ging der Refrain, und dann kam irgendwas. Irgendwas, was ich damals als den ultimativen Liebesbeweis ansah. Ich muss wirklich exorbitant verstrahlt gewesen sein. Ich war viel zu anfällig für diese französischen Schmalzliebe-Aktionen.

»Pfffffff«, lasse ich durch meine Schneidezähne sausen. Tja, warum war ich wohl so dumm damals? Weil die Franzosen die Verführung ja quasi erfunden haben. Mathis war der König der Verführer. Und jetzt war er der König der feigen Schweine. Es macht mich so wütend, so zähnefletschend wütend, darüber nachzudenken, welch gute Verführer diese verdammten Franzosen sind.

Heute haben all diese »Wir gegen den Rest der Welt«-Worte einfach keine Bedeutung mehr. Die Versprechungen von einer Hochzeit am Strand seines Heimatortes. Die Tausenden Momente der tiefen Intimität, in der wir uns in die Augen sahen und ich glaubte, nichts könne an dieser Verbindung rütteln, waren von Mathis eingetauscht worden gegen ein telefonisches: »Melde dich. Wir sollten Freunde bleiben.« All die Liebeschwüre sind verpufft, so wie das Leben meines Vaters verpuffte. Genau so verpuffte auch die Liebe. Im Verliebtsein versuchen wir vielleicht, den Tod zu überwinden. Wir glauben, es gäbe uns ewig in dieser Verbindung zweier Seelen. Das macht das verdammte Verliebtsein mit uns.

Während ich an diese große Farce, die sich Liebe schimpft, denke, beginne ich, laut zu lachen. So, als hätte ich ’nen Knall. Die große Liebe, für immer und ewig. Wie konnte ich nur so fürchterlich dumm sein? Wie konnte ich nur daran glauben? Nichts hält für immer und ewig. Glaubt mir, nichts. Trauer ist ganz schrecklich bitter.

Papa und Mathis waren sofort ein Herz und eine Seele. Sie waren sich ähnlich, wenn auch nicht äußerlich. Aber im Herzen, da waren beide Vagabunden. Charismatische, schlaue, offenherzige und rastlose Vagabunden. Wenn wir zu Besuch kamen, gingen die beiden häufiger allein miteinander spazieren, sie hatten nicht die gleiche Muttersprache, aber beide einen Hang zu Fremdsprachen. Papa lies manchmal einen Satz auf Französisch oder Spanisch fallen, und die beiden lachten dann und hatten irgendwie immer ihr eigenes kleines Ding am Laufen. Papa erzählte, Mathis stellte Fragen und sah Papa dabei mit seinen großen blauen Augen an. Und beide waren glücklich. Männerfreundschaft. Auch das habe ich verloren. Manchmal gewinnt man, manchmal verliert man. Die Trauer ist ein Trauerspiel.

»L’amour, l’amour. Nun, ich sehe ja jetzt, wie weit es mit deiner l’amour ging«, gifte ich einem nicht anwesenden Mathis entgegen, der in meiner Vorstellung mit seiner Gitarre und einer Schiebermütze vor dem Eiffelturm steht und furchtbar dumm dreinglotzt. »Liebe, Liebe, Liebe, Liebe, bäh, bum, bum, bäh, bla, bla, bla, bla, bum, bum, bääääh.« Ich strecke meinem dumm dreinglotzenden Exfreund die Zunge raus. Wahrlich, ich kann alles mit diesem hässlichen Schmerz in Verbindung bringen, aber bestimmt nie und nimmer Liebe. Ich bin doch kein Masochist, dass ich dieser Schweinetrauer auch noch zuspreche, etwas Liebevolles zu sein. Das Wort Liebe, ja, es ist schrecklich abgegriffen, es ist schwammig, es ist unklar. Liebe, das bedeutet alles und nichts. Alles und nichts. Alles und nichts! Ich lache wieder so, als hätte ich ’nen Knall.

Ich glaube, ich will nicht mehr. Ich will nicht mehr so weiterleben. Ich will nicht mehr aufwachen. Ich will mich auflösen. Jetzt sofort, auf der Stelle will ich zu Luft werden und in den Äther übergehen. Mein verrücktes Lachen geht jetzt in ein quälendes Weinen über. Ach, verdammt, du dummes Herzchen. Dieser Kitsch macht etwas mit mir. Dieser Kitschsatz lässt meine Erinnerung wie wilde Affen durch meinen Kopf tanzen.

Erinnerungen an Zeiten, die vielleicht nicht perfekt waren, aber in denen zumindest alles seinen Platz hatte. In denen Mama noch nicht ganz allein nach über 30 Jahren Ehe in einer Wohnung saß. Ich denke an die Zeiten, in denen wir gemeinsam Weihnachten feierten und Papa immer mürrisch war – aus irgendeinem Grund war er an Weihnachten immer mürrisch –, während Mama ein perfektes Familienfest inszenieren wollte und sie sich dann immer in die Haare bekamen. Sie bekamen sich ohnehin ständig in die Haare. Sie hätten weniger streiten sollen. Wir hätten alle weniger streiten sollen. Aber wir konnten es ja nicht wissen. Wir konnten ja nicht wissen, dass Papas Zeit begrenzt war. Was hätten wir nicht alles anders machen können. Es zerfrisst mich, daran zu denken. Diese verrückte, anstrengende Familienbande. Aber immerhin gab es damals noch eine Familienbande. Keiner, der fehlte, und keiner, der für immer fehlen würde.

All diese Bilder. Bilder, die wild durcheinanderwirbeln. Bilder aus meiner Kindheit. Das Holzhaus im Garten. Drei kleine blonde Mädchen. Das Haus auf den Kanaren, jedes Jahr. Papa dolmetscht. Papa hat alles im Griff. Papas Stimme, seine Hände, die Art, wie er sich räuspert, sein Lachen, die großen Schuhe, die er trägt. Immer »Der Spiegel« auf dem Nachttisch und viele angefangene Bücher. Sonntags, Papas Fernsehtag. »Zeit für Bud Spencer und Raumschiff Entenscheiß«, sagt er und lacht.

Papa, der immer morgens schon weg ist, wenn ich aufstehe. Und abends noch stundenlang in seinem Büro sitzt. Er versorgt uns, aber entzieht sich emotional immer mehr. Ein Vater, der da ist, aber fehlt. Auch das war Papa.

Mama und Papas Trennung. Die erste. Wir ziehen aus. Mama und Papa trennen sich doch nicht, wir ziehen wieder ein. Mama und Papas Trennung, die zweite. Papa lernt eine andere Frau kennen. Ich höre ihn am Telefon lachen. Er wirkt das erste Mal seit Langem glücklich. Ich bin traurig, weil ich glaube, wir können ihn nicht glücklich machen. Er zieht aus. Mama weint ganz viel in dieser Zeit. Papa zieht wieder ein. Sie heiraten noch einmal, nach 25 Jahren. Weiß, in der Kirche in Spanien. Papa wird dafür katholisch, obwohl ihm nichts ferner liegt, als katholisch zu werden.

Meine verrückten Eltern. Sie halten bis zum Schluss aneinander fest. Meine Teenagerzeit. Wir zanken und schreien, immer wieder kämpfe ich den Kampf um seine Anerkennung. Ich rufe: »Du bist ein Scheiß-Vater. Ich hasse dich!«, und zerreiße ein Bild von ihm und mir. Papa weint. Das erste Mal vor mir. Einmal versucht er, mich zu umarmen, ich lasse ihn nicht mehr.

Ich ziehe um. München, Kairo, Berlin, München, Berlin. Ausbildung hier, Studium da, ich breche ab und beginne wieder neu.

»Papa, ich bin Künstlerin«, sage ich.

»Ja, das ist okay. Aber irgendwann musst du auch mal Geld verdienen«, sagt er.

Meine Männer sind gewöhnungsbedürftig, aber Papa ist immer nett zu allen. Er hat ein Herz für Underdogs. Papa hilft und Papa leiht mir Geld und schimpft darüber, dass er mir Geld leiht. Immer wieder »zum letzten Mal« tut er das. Papa arbeitet nie weniger. Immer nur noch mehr. Er bekommt Depressionen. Wir kommen nicht mehr an ihn ran.

Papa beginnt eine Therapie. Er raucht nicht mehr, er trinkt nicht mehr. Er blüht wieder ein bisschen auf. Ich werde in der Moderationsklasse in Berlin angenommen. Aus Tausenden Bewerbern werde ich ausgewählt. Ich bin stolz wie Oskar. Papa und Mama sind stolz wie Oskar. Papa schickt mir einen Stein von den Kanaren, den er für mich am Strand gesammelt hat.

Ein paar Monate später die Diagnose. Hoffnung. Seine Qualen. Er will leben, sagt er. Papa ruft jetzt immer öfter an. Wir reden viel. Wir lernen uns irgendwie kennen.

Dann kommen die letzten Gespräche. Es geht alles so schnell. Der Todeskampf. Papas Leiche. Mamas mädchenhafte Tränen. Der Moment, in dem ich meinen Schwestern sagen muss, dass er tot ist. Ihre Gesichter. Die Beerdigung. Nick-Cave-Song. Mathis, der da sitzt und nicht mehr aufhören kann zu weinen. Und von dem ich glaube, er ist der Mann fürs Leben.

Die Panikattacken. Ich kann nicht mehr arbeiten. Alles viel zu viel. Das Skype-Gespräch. Diese Enttäuschung. Diese unglaubliche Enttäuschung. Ich habe Mathis seitdem nicht einmal mehr gesehen. Meine Träume. Alles weg. Alles lief doch wieder gut. Die Lieder auf der Gitarre. Es war doch alles gut. Alles geht so schnell. So schnell. Viel zu schnell dreht sich alles um mich und mein Leben, das den Bach hinunterging.

Das erste Mal seit Wochen laufen wieder Tränen. Ich bin taub geworden. Ich will all das nicht fühlen. Ich bin schrecklich hart geworden, anderen und auch mir selbst gegenüber. Aber die Tür zum Weichsein zu öffnen, das schien mir in den vergangenen Wochen so gefährlich. Vielleicht, weil ich, wenn ich diesen riesengroßen, atemraubenden Schmerz wirklich zulassen würde, auch zugeben müsste, dass all dies wirklich geschehen ist. Dass es wahr ist. Dass das wirklich wahr ist. Dass Papa wirklich tot und Mathis wirklich weg ist. Meine erste und meine letzte große Liebe. Beide haben mich verlassen. Und ich habe an ein Happy End geglaubt.

Bitterliches, lautes Wimmern kommt aus meinem offen stehenden Mund. Ich ächze und schluchze und schreie, und der Rotz läuft wieder. Kein bisschen Selbstbeherrschung liegt in diesem Moment.

Es ist wahr.

Es ist wahr.

Es ist wahr.

Ich klemme meinen Kopf ganz fest zwischen meine Knie und richte all mein Wimmern und mein Schluchzen und mein Ächzen und meine Tränen gen Boden. Da liegt es in Trümmern, mein bisherigen Leben. Keine Kraft für ein Morgen. Nur der harte, kalte Kachelboden.

Ich höre mich weiter schluchzen und brabbeln und ächzen und wimmern. Es hört nicht auf, ich kann nicht aufhören. Raus mit dem, was raus will.

Es ist wahr.

Es ist wahr.

Es ist wahr.

Ich sitze da. Ich weiß nicht, wie lange. Vor mir hat sich eine Tränenpfütze gebildet. Sie ist klein, aber sie ist sichtbar. In ihr schwimmt meine Klage an ein ungerechtes Leben. Ich horche in die Stille der Nacht, die langsam zum Morgen wird, so, wie ich es damals auf dem Krankenhausflur getan habe, kurz nachdem Papa gestorben war.

Und irgendwann in diesen Augenblicken auf dem Wannenrand versiegen sie wieder, die Tränen. Und mein Herz, es fühlt sich an, als würde es offen auf einem Operationstisch liegen. Roh und rot und gut durchblutet. Ich spüre es ganz deutlich in meiner Halsschlagader pochen. Nur der Rest meines Körpers und mein Geist, die sind ganz und gar erschöpft.

Während ich mich aufrichte, verspüre ich plötzlich den Wunsch, meine Hand auf mein Herz zu legen. Sie fühlt sich warm an. Wie ein wohltuender Balsam fließt die Wärme meiner Hand in meinen Brustkorb.

Es ist wahr.

Es ist wahr.

Es ist wahr.

Ich neige meinen Kopf und lege ihn in meine andere Hand, als würde ich darin einschlafen wollen. So, wie Kinder es manchmal tun. Dann beginne ich, mit meinen Fingerkuppen vorsichtig über meine Wange zu streicheln. So, wie Mütter es manchmal tun. Ich bin mir sicher, dass das albern aussieht. Aber ich bin mir auch ziemlich sicher, dass albern auszusehen gerade nicht zu meinen größten Sorgen gehört.

Es ist wahr.

Es ist wahr.

Es ist wahr.

Während ich da sitze und mir selbst die Wange streichle und mir selbst die Hand auflege und dabei vielleicht unfassbar bescheuert aussehe, denke ich noch einmal über den kitschigen Satz mit der Liebe nach: Wenn Trauer wirklich Liebe ist, dann ist dieses Selbstgetätschel hier vielleicht gerade mein ehrlichster Ausdruck davon. Wenn ich gerade keine Wärme spüren kann, da draußen, in diesem Chaos meines Lebens, dann könnte ich vielleicht irgendwie versuchen, mir selbst ein wenig davon zu geben. Ich könnte versuchen, es hier auf einem Badewannenrand sitzend ein wenig besser zu machen. Nur ich mit mir.

Irgendwann stehe ich auf und blicke noch einmal auf die stille Wand mit den Blümchenkacheln. Ich reiße etwas Toilettenpapier ab und falte es so umsichtig, dass man meinen könnte, ich würde etwas von großer Bedeutung tun. Viermal schlage ich es übereinander, bevor ich damit eine kleine, aber sichtbare Tränenpfütze mit einer darin schwimmenden Klage an ein ungerechtes Leben vom harten, kalten Boden eines stillen Örtchens wische.

»Ein Kitschmädchen«, sage ich leise. Und schlafe ruhig in dieser Nacht.

Lieber Tod, wir müssen reden

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