Читать книгу Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel - Nadine Erdmann - Страница 15
Kapitel 9
ОглавлениеAls Gabriel, Sky und Connor um kurz vor zwei erneut den Wartungsschacht im Golders Hill Park ansteuerten, sahen sie schon von Weitem die ältere Frau, die mit einer Zeitung und einem Thermobecher auf einer Bank in der Nähe der Luke saß und die Sonne genoss, die durch die Baumwipfel fiel. Neben ihr stand eine riesige Tragetasche aus abwaschbarem Plastik.
Sky schätzte Gladis Monroe etwas älter als ihre Granny. Anfang bis Mitte siebzig vielleicht. Sie war schlank und wirkte sportlich und ihr grauweißes Haar fiel ihr in großen Naturwellen ums Gesicht. Sie blickte von ihrer Zeitung auf, als sie den dunklen Wagen über den Parkweg kommen sah, und erhob sich, als Gabriel neben ihr parkte.
»Doktor Monroe?«, fragte Sky, um sich abzusichern, als sie aus dem Wagen stieg.
Die Frau nickte.
»Ich bin Sergeant Sky Hunt, das ist Sergeant Connor Fry und das ist mein Bruder, Sergeant Gabriel Hunt. Wir freuen uns sehr über Ihre Hilfe.«
»Kein Problem.« Doktor Monroe lächelte unternehmungslustig in die Runde. »Wenn Jon mich darum bittet, inoffiziell ein paar Leichen zu untersuchen, muss es etwas Brisantes sein. Und schon empfinde ich die ganze Sache als eine äußerst interessante Abwechslung zu meinem Ehrenamt in der Notfallambulanz.«
Gabriel lachte. »Und dafür sind Sie mir jetzt schon sympathisch.«
Monroe lachte ebenfalls. »Wofür? Für mein Ehrenamt oder dafür, dass ich mysteriöse Leichen spannend finde?«
»Beides.« Gabriel hatte den Kofferraum geöffnet und wuchtete sich zwei der Ausrüstungstaschen über die Schultern. »Mein Vater arbeitet auch ehrenamtlich in einer Notfallambulanz. Im East End.«
»Guter Mann.« Doktor Monroe folgte ihm, als Gabriel zu den Sträuchern ging, hinter denen der Wartungsschacht lag.
Sky und Connor sammelten den Rest ihrer Ausrüstung aus dem Kofferraum zusammen und wollten sich gerade ebenfalls zur Luke begeben, als eine Rentnerin mit zwei Yorkshire Terriern auf sie zu kam – in einem auffallend flotten Tempo für eine Gassirunde.
»Hallo! Guten Tag. Darf ich fragen, was Sie hier tun?«
Sie zerrte ihre beiden Vierbeiner mit sich, obwohl die viel lieber jedes bunte Pflänzchen am Wegrand beschnuppert hätten. Einzeln und ausgiebig. Doch dafür hatte ihr Frauchen gerade keine Zeit.
»Sie wissen, dass die Parkwege nur vom Landschaftspersonal befahren werden dürfen? Es stehen extra Schilder dazu an jedem Parkeingang. Die Natur soll hier unberührt bleiben.«
Sky warf einen Blick auf die penibel abgezirkelten Blumenbeete, in denen so was von offensichtlich nichts wachsen durfte, was nicht der vorgesehenen Farbe oder Pflanzhöhe entsprach. Sie hob eine Augenbraue. »Unberührte Natur, ja klar.«
Sie schlang sich einen der Rucksäcke über die Schulter und schenkte Connor ein ironisches Lächeln. »Deine Kundin.« Während Connor schnaubte, nickte Sky der älteren Mitbürgerin freundlich zu. »Kein Grund zur Sorge. Mein Kollege erklärt Ihnen alles. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag in der Natur.«
Sie wandte sich um und lief hinüber zu den Sträuchern, hinter denen Gabriel und Doktor Monroe abgeschirmt vor neugierigen Blicken bereits in die formschönen Papieroveralls schlüpften.
Die Frau mit den beiden Hunden blickte Sky hinterher. »Sie ist eine Totenbändigerin.«
»Yep.« Connor hatte seine Silberweste angelegt und zog seine Dienstmarke vom Gürtel. »Wir sind von der Metro Police. Spuk Squad. Wir gehen den Beobachtungen einiger Anwohner des Golders Hill nach, die sich besorgt über vermehrtes Geisteraufkommen rund um die Südseite des Parks gezeigt haben.«
Sofort wurde die Rentnerin entspannter. »Oh, sehr schön! Gut zu wissen, dass man unsere Sorgen bei der Polizei ernst nimmt.«
»Natürlich tun wir das.«
»Und was machen Sie da drüben im Gebüsch?«
»Dort gibt es eine Luke zu einem Wartungstunnel des Londoner Untergrunds. Wir überprüfen die Anlage heute Nachmittag auf Löcher, Risse oder andere Schäden, die eventuelle Ursachen für das erhöhte Geisteraufkommen rund um Ihren Park sein könnten.«
Die Augen der älteren Frau weiteten sich vor Schreck. »Sie haben diese Luke geöffnet?!«
»Keine Sorge, Ma’am. Sie ist mit einem Ring aus einer Eisenkette gesichert«, beruhigte Connor sie. »Außerdem werden sich bei Tageslicht keine Geister hier herauf wagen und vor der Dämmerung versiegeln wir den Zugang selbstverständlich wieder. Genauso versiegeln wir natürlich auch alle undichten Stellen, sollten wir dort unten welche finden. Sie müssen sich also wirklich keine Sorgen machen.« Er schenkte seiner Mitbürgerin ein versicherndes Lächeln.
Die schien tatsächlich wieder beruhigter. »Das klingt gut. Gibt es irgendetwas, das wir Anwohner tun können, um zu helfen?«
»Das ist sehr nett von Ihnen. Sie könnten Ihren Nachbarn Bescheid geben, dass sie den Bereich um die Warteluke heute Nachmittag meiden sollen. An sich ist es hier zwar ungefährlich, aber da Geister ja von Lebensenergie angelockt werden, wäre eine Menschenansammlung hier eher ungünstig. Besonders später, wenn die Dämmerung naht.«
»Ja, natürlich. Haben Sie denn irgendwelche Tipps für uns, was wir gegen die größere Anzahl an Geistern in unserer Nachbarschaft tun können?«
»Wie lange wohnen Sie schon hier am Golders Hill?«
»Mein ganzes Leben.«
Wieder bedachte Connor sie mit seinem Mitbürgerkontakt-Lächeln, dem er je nach Situation verschiedene Dosierungen von beruhigend, versichernd oder deeskalierend beifügen konnte. »Dann bin ich mir sicher, Sie haben hier alles bestens unter Kontrolle. Wenn Ihr Haus gut gesichert ist und Sie bisher keine Probleme mit Geisterübergriffen auf Ihrem Grundstück hatten, machen Sie bereits alles richtig. Ihr Haus stört es nicht, ob es Sie gegen einen oder zehn Geister schützen muss, solange alle Sicherungen in gutem Zustand sind.«
»Oh, das sind sie. Da achten mein Mann und ich sehr genau drauf.«
»Perfekt.« Connor deutete in Richtung der Büsche, hinter denen die anderen sich einsatzbereit machten. »Um alles Weitere kümmern wir uns. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden? Wir müssen die Stunden bei Tageslicht so effizient wie möglich nutzen, damit wir bei Einbruch der Dämmerung alles kontrolliert haben und den Zugang zum Untergrund wieder rechtzeitig vor der Geisterzeit versiegeln können.«
»Oh, natürlich! Gehen Sie nur!« Eifrig wedelte die Rentnerin mit einer Hand zu den Sträuchern während sie mit der anderen an den Leinen ihrer Hunde zerrte, von denen einer gerade im pastellfarbenen Blumenbeet einen Haufen auf ein zartrosa Pflänzchen setzte. Einen ziemlich großen Haufen für einen so kleinen Hund.
»Ach, Alastair!«, schimpfte sein Frauchen prompt. »Nicht immer in die Beete, du dummer, dummer Hund!«
Connor dankte Alastair still für sein perfektes Timing und nutzte die Ablenkung, um sich zu verabschieden. »Noch einen schönen Tag, Ma’am.«
Er verschloss den Wagen und lief zu den anderen.
Gabriel und Sky waren bereits im Schacht verschwunden. Doktor Monroe stand neben der Luke und ließ ihre Plastiktasche an einem Seil in die Tiefe. Sie sah auf, als Connor durch die Büsche kam.
»Ihnen ist klar, dass trotz Ihrer Warnung die Gefahr besteht, dass einige schaulustige Nachbarn hierherkommen werden, sobald die gute Frau erzählt, dass hier eine Spuk Squad im Einsatz ist? Die Sensationsgier der Menschen kennt heutzutage leider keine Grenzen mehr und solange es noch hell ist und sie sich nicht vor den Geistern im Park in acht nehmen müssen, wird die Neugier siegen.«
Connor seufzte und zog sich schnell einen Papieroverall über. »Ja, das kennen wir schon. Ich werde die Luke hinter mir verschließen, damit niemand Fotos durch den Schacht schießen kann oder womöglich auf die Idee kommt, herunterzusteigen.«
Ihre Tasche kam unten an und Doktor Monroe knotete das Ende des Seils an die oberste Leitersprosse.
»Haben Gabriel und Sky Sie vorgewarnt, was Sie dort unten erwartet?«, fragte Connor.
Monroe nickte und zog sich ihre Atemschutzmaske über. »Keine Sorge. Ich habe einen starken Magen.« Mit einem erwartungsfrohen Funkeln in den Augen begann sie die Leiter hinunterzusteigen.
»Na Hauptsache, einer von uns hat Spaß«, murmelte Connor und zog sich ebenfalls seine Maske über.
Am Fuße des Schachtes hatten Gabriel und Sky den Einsatzort bereits wieder gesichert und die Magnesiumlaternen so im Tunnel verteilt, dass sich alle Leichen im hellen Lichtschein befanden.
»Sie haben nicht übertrieben, als Sie von einem Massengrab sprachen«, kommentierte Doktor Monroe, als sie ihren Blick durch den Tunnel schweifen ließ. Dann wurde sie sofort geschäftig und zog eine Arzttasche aus ihrer bunten Plastiktüte. »Ich kann gut verstehen, dass Jon das hier unter dem Radar halten will. Was soll ich für Sie herausfinden? Gibt es irgendetwas, das Ihnen besonders wichtig ist? Bei all den Toten bleibt nicht viel Zeit.«
»Die Todesursache wäre wichtig«, sagte Gabriel. »Ob es bei allen Toten dieselbe ist. Und vielleicht können Sie auch herausfinden, in welcher Reihenfolge ihnen die Verletzungen zugefügt wurden.«
»Der Todeszeitpunkt wäre auch interessant«, fügte Sky hinzu. »Es sieht so aus, als würden die Leichen schon ein paar Wochen hier liegen, aber wir hoffen, dass Sie uns dazu Genaueres sagen können. Außerdem wäre es gut zu wissen, ob dieser Tunnel hier der Tatort oder nur ein Ablageort ist. Und was immer Sie sonst noch herausfinden – wir sind dankbar für alles.«
Monroe nickte und zog ein Skalpell aus einem Lederetui. »In Ordnung. Die Frage zum Tatort kann ich Ihnen jetzt schon beantworten. Der ist nicht hier. Wären diese Menschen hier getötet worden oder hätte man sie verletzt hierhergebracht, um sie ausbluten und sterben zu lassen, müsste es hier viel mehr eingetrocknetes Blut geben. Und die Frage zum Todeszeitpunkt, also ich schätze, wir reden eher von Monaten als von Wochen. Hier unten ist es kühl und trocken. In so einer Umgebung verläuft der Verwesungsprozess langsamer. Aber genauer kann ich das erst nach der Untersuchung der Leichen sagen. Haben Sie schon einmal mit einem Forensikteam zusammengearbeitet?«
»Nur als Beschützer«, antwortete Sky. »Wir bändigen die Geister an Tatorten, haben aber mit der Spurensicherung eigentlich nichts zu tun.«
»Okay. Fotos vom jetzigen Zustand dieses Fundortes haben Sie sicher bereits gemacht?«
»Ja.«
»Gut. Da das hier eine inoffizielle Untersuchung ist und wir nicht viel Zeit haben, sparen wir uns Pingeligkeiten und beschränken uns auf das Wesentliche. Legen Sie vorsichtig alle Leichen nebeneinander, versehen Sie sie mit einer Nummer und machen Sie ein Foto. Ich sehe mir die Toten der Reihe nach an und mache einen kurzen Vermerk zu jeder Nummer, damit es keine Verwechslungen geben kann. Ich nehme an, Sie wollen Fingerabdrücke der Opfer nehmen, um sie identifizieren zu können?«
Gabriel nickte. »Kleidern und Haaren nach zu urteilen, sind es vermutlich Obdachlose, aber vielleicht haben wir bei dem ein oder anderen trotzdem Glück und finden ihn in der Datenbank.«
Monroe nickte ebenfalls. »Gut. Dann machen wir uns mal ans Werk.«
Zwei Stunden später hockte Sky sich mit einer ihrer mitgebrachten Wasserflaschen an den Rand des Einsatzortes und zog ihr Handy aus der Seitentasche ihres Rucksacks.
Kurz nach vier.
Die Zeit hier unten kam ihr vor wie eine Ewigkeit und den Großteil davon hatten sie, Connor und Gabriel damit verbracht, aufgeschlitzte Leichen voneinander zu trennen, damit Doktor Monroe sie untersuchen konnte.
Es gab angenehmere Arten, einen Nachmittag zu verbringen.
Doktor Monroe schien dagegen recht unberührt von den grausigen Anblicken und nahm sich ruhig und effizient einen Toten nach dem anderen für eine kurze Untersuchung vor. Sky fragte sich, was die Gerichtsmedizinerin im Laufe ihrer Dienstjahre schon alles zu Gesicht bekommen haben musste, um so eine Gelassenheit zu entwickeln. Ihr selbst machte der Anblick von grausam zugerichteten Leichen nach drei Jahren bei der Polizei zwar auch keine Probleme mehr, aber so ein Massengrab wie dieses hier war dennoch eine ziemliche Hausnummer und sie merkte, wie ihr all die Toten langsam aufs Gemüt schlugen. Daher hatte sie es Connor und Gabriel überlassen, die Fingerabdrücke der Opfer zu nehmen – soweit das noch möglich war – und sie patrouillierte stattdessen am Rande des Magnesiumlichtscheins. Auch wenn das Licht die meisten Geister fernhalten sollte, gab es immer mal wieder Neugierige, die sich aus den Tiefen des Untergrunds näher wagten. Die Lebensenergie von vier Menschen in ihrem Reich lockte sie an. Im Tunnel Richtung Süden hatte Sky schon einige helle Erscheinungen ausmachen können. Sie schienen stärker als Schemen zu sein, aber nicht so stark, dass sie sich näher herantrauten. Jedes Mal wenn Sky das M-Licht ihrer Taschenlampe auf sie gerichtet hatte, hatte es sie vertrieben.
Sky steckte Handy und Wasserflasche zurück in den Rucksack und machte sich auf, um den Norden erneut zu kontrollieren. Der Tunnel dort war bisher völlig leer geblieben.
»Alles in Ordnung?«, fragte Connor, als sie an ihm und Gabriel vorbeikam, die gerade die steifen Finger einer dürren Frau mit völlig verfilzten, hüftlangen, grauen Haaren auf den kleinen Fingerabdruckscanner drückten.
Opfer Zweiundvierzig.
Eine willkürliche Nummer, weil sie sie zufällig als Zweiundvierzigste aus dem Leichenhaufen gezogen hatten.
Sky atmete tief durch und tröstete sich mit der Hoffnung, dass sie der Frau mithilfe der Fingerabdrücke vielleicht wieder einen Namen geben konnten.
»Im Süden ist alles ruhig. Ich schaue noch mal im Norden nach dem Rechten.«
Sie lief an den Opfern Dreiundvierzig bis Achtundsiebzig vorbei und versuchte nicht darüber nachzudenken, wie die letzten Minuten im Leben dieser Menschen ausgesehen haben mussten.
Angst. Schmerz. Panik.
Diese Vorstellung war fürchterlich.
Komm schon. Konzentrier dich einfach nur auf deinen Job!
Sie erreichte den Rand des Lichtscheins und trat darüber hinaus. Nur ein paar Schritte, um besser in die Dunkelheit sehen zu können.
Still wartete sie, bis sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten. Doch zu sehen gab es nichts.
Kein grauer Schimmer, der den meisten Geistern anhaftete und ihre Präsenz verriet.
Keine besonders tiefe Schwärze, die mächtige Geister annehmen konnten, um heimtückisch auf ihre Opfer zu lauern.
Sky wollte sich gerade abwenden, um Connor oder Gabriel abzulösen, damit auch sie mal eine kurze Pause machen konnten, da hörte sie es.
Jemand weinte.
Zuerst glaubte sie, sich verhört zu haben. Oder spielten ihre überreizten Nerven ihr nur einen üblen Streich?
Angespannt lauschte sie in die Dunkelheit.
Nein.
Da weinte wirklich jemand.
Ganz leise und ziemlich weit entfernt.
Und es klang wie das Weinen eines Kindes.