Читать книгу Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel - Nadine Erdmann - Страница 16
Kapitel 10
ОглавлениеSky blieb wie angewurzelt stehen und spürte, wie ihr Herz gegen ihre Rippen hämmerte.
Ein Kind? Hier im Untergrund?
Das war unmöglich.
Sie zog ihre Taschenlampe vom Gürtel und leuchtete in den Tunnel. Doch da war nichts, außer einem Seitengang, der in einiger Entfernung nach links vom Haupttunnel abzweigte. Dahinter verlor der Lichtkegel sich in der Dunkelheit.
»Con! Gabe!«
Sie waren ein eingespieltes Team und der Tonfall ihrer Stimme ließ die beiden nicht lange nachfragen, sondern sofort zu ihr eilen.
»Hast du was gesehen?« Gabriel trat neben sie und versuchte in der Finsternis irgendetwas zu erkennen.
»Nein. Aber ich hab etwas gehört.«
Gabriel und Connor lauschten.
Wieder erklang das leise Weinen aus der Ferne.
»Shit.« Gabriel zog ebenfalls seine Taschenlampe vom Gürtel und leuchtete in den Tunnel. »Von wegen die Leichen von heute haben nichts mit den Leichen von damals zu tun!«
»Du glaubst, dahinten hält dieser Irre wieder irgendwo Kinder in Kisten gefangen?«, fragte Connor erschrocken.
»Na, glaubst du vielleicht, dass sich irgendein Kind aus dem Park hier herunter verirrt hat?«, fragte Gabriel grimmig zurück.
»Aber die Leichen sind seit Monaten hier unten.«
Gabriel schnaubte voller Abscheu. »Ja, und? Soweit wir wissen, hat dieser Dreckskerl Cam jahrelang gefangen gehalten. Warum sollte er sein Vorgehen ändern?«
Connor verzog das Gesicht und blickte über die Schulter zu Doktor Monroe, die unbeirrt weiter eine der Leichen untersuchte. »Einer von uns muss bei ihr bleiben.«
»Machst du das?«, bat Sky.
Connor seufzte innerlich. Wenn es darum ging, hier womöglich denjenigen zu finden, der Cam gequält hatte, war klar, dass er weder Gabriel noch Sky aufhalten konnte, also nickte er. »Ja, sicher. Aber nehmt Silberboxen mit. Wir wissen nicht, wie viele Geister hier unten womöglich lauern, und je nachdem wie stark sie sind, könnt ihr sie nicht alle bändigen.«
»Danke.« Sky gab ihm einen schnellen Kuss und lief dann zurück, um den Rucksack mit den Boxen zu holen.
»Verlier nicht die Beherrschung, verstanden?«, sagte Connor warnend, als Sky außer Hörweite war und Gabriel den unpraktischen Papieranzug abstreifte. »Ich will weder deinen Eltern noch den Kids sagen müssen, dass du draufgegangen bist, weil du dich mit einem gemeingefährlichen Irren angelegt hast, klar?«
»Hey, Sky ist ja bei mir.«
»Eben!«
Gabriel bohrte seinen Blick in Connor. »Genau: Eben! Ich würde nie irgendetwas tun, das sie in Gefahr bringt. Schon gar nicht, wenn ich alleine mit ihr im Einsatz bin. Und das weißt du auch. Also mach dich locker und sorg dafür, dass Monroe nichts passiert.«
Sky kam mit einem der Rucksäcke zu ihnen zurück. »Okay, wir können.« Auch sie hatte sich den Schutzanzug ausgezogen und überprüfte nun die Waffen an ihrem Gürtel. »In meiner Walther sind noch die Silberkugeln von gestern, aber ich denke, ich lass die drin. Könnte sich ja auch mal ein Wiedergänger hier unten herumtreiben. Und falls wir auf menschlichen Abschaum treffen, hilft gegen den eine Silberkugel auch ganz gut.«
»Ist ohnehin Schwachsinn, dass wir Spuks die Magazine ständig wechseln sollen.« Auch Gabriel vergewisserte sich kurz, dass seine Waffen einsatzbereit waren.
»Silberkugeln sind halt teurer als normale.«
»Ja, aber Magazine zu wechseln, kann Zeit und damit Leben kosten«, gab Gabriel zurück. »Wie viel ist das wert?«
Connor zog Sky zu sich und gab ihr einen Kuss. »Passt auf euch auf.«
»Logisch. Die Funkgeräte stehen auf Kanal 2, aber wir melden uns nur im Notfall.«
»Okay. Ich halte Funkstille, um euch nicht in Schwierigkeiten zu bringen.« Connor drückte ihre Hand und sah zu Gabriel.
Der nickte bloß und schenkte seinem besten Freund ein versicherndes Lächeln. »Keine Sorge. Wir sind vorsichtig.«
Dann richteten er und Sky ihre Taschenlampen in die Dunkelheit und eilten in den Tunnel.
Einen Moment lang blickte Connor ihnen hinterher, dann wandte er sich um und ging zurück zu den Leichen, um weiter Fingerabdrücke zu sammeln.
»Muss ich dir auch noch mal das ins Gewissen brennen, was Connor dir vermutlich gerade schon eingebrannt hat? Oder tun wir so, als hätte ich es dir bereits gesagt und du hättest hoch und heilig geschworen, dass du keinen leichtsinnigen Mist machen wirst?«, fragte Sky leise, als sie mit ihrem Bruder den Tunnel entlanglief.
Das Weinen war weiterhin zu hören, doch noch immer war im Schein ihrer Lampen nichts Auffälliges zu sehen. Sie näherten sich jetzt allerdings der Abzweigung.
Gabriel schnaubte entnervt. »Jahaa. Ich bin vorsichtig.«
»Gut.« Sky ließ seinen Unmut unbeeindruckt von sich abprallen. »Und kein Ausrasten. Ich weiß, wie sehr du das Schwein hasst, das Cam gequält hat, aber Selbstjustiz ist ein No-Go, verstanden?«
»Ich bin Polizist und gerade im Einsatz. Wenn ich dabei einen Massenmörder und Kinderquäler erschieße, ist das keine Selbstjustiz, sondern vollstreckte Gerechtigkeit und ein Dienst für die Allgemeinheit.«
»Du weißt, dass das nicht stimmt. Es besteht ein Unterschied zwischen Rache und Gerechtigkeit. Und du bist ein Totenbändiger. Für uns gelten eh andere Regeln. Also tu mir bitte den Gefallen und riskiere nicht deinen Job und schon gar nicht dein Leben, klar?«
Sie hatten die Abzweigung erreicht und Gabriel sparte sich einen weiteren Kommentar. Stattdessen klemmte er seine Taschenlampe an seine Walther, zog seine Auraglue und wollte sich an Sky vorbeischieben, um den Seitengang zu inspizieren. Das Weinen kam zwar aus dem Haupttunnel, aber falls im Abzweig etwas hauste, mussten sie es unschädlich machen, sonst würde es sie verfolgen.
Sky packte ihn am Arm und hielt ihn zurück. »Lass mich vorgehen. Ich trage die Silberboxen. Wenn da was lauert, wird es eher dich angreifen.«
Widerstrebend ließ Gabriel ihr den Vortritt.
Sky hatte ebenfalls ihre Pistolen gezogen und nach einem abstimmenden Blick mit ihrem Bruder trat sie wie tausend Mal trainiert aus der Deckung der Tunnelwand und richtete ihre Waffen in den Abzweig.
Ein schwacher Schemen flüchtete vor ihrem Licht in die Dunkelheit des Gangs.
»Alles okay. Nur ein Winzling. Aber wir sollten ihn trotzdem ausschalten, sonst kommt er uns womöglich hinterher und nervt.« Sie löschte ihr Licht.
Gabriel tat es ihr gleich und steckte seine Waffen weg. »Du trägst die Silberboxen, also mache ich das. Sichere du uns ab.«
»Okay.«
Sky hielt ihre Waffen schussbereit für den Fall, dass tiefer im Gang noch irgendetwas anderes lauerte, das nur darauf wartete, dass das Magnesiumlicht verschwand.
Gabriel trat an ihr vorbei. Der Hauptgang hinter ihnen wurde noch schwach vom Licht der Laternen erhellt, die den Einsatzort beleuchtete, doch hier im Abzweig war es stockfinster – und deutlich kälter.
Der Schemen war keine zehn Meter entfernt. Wie eine graue Nebelwolke, der man mit sehr viel Fantasie eine menschliche Kontur nachsagen konnte, waberte der Geist an der linken Tunnelwand entlang. Was seine Größe anging, war er kein Winzling. Gabriel schätze ihn auf ungefähr eins siebzig. Sonderlich stark war er nicht. Aber hungrig. Kaum spürte er Gabriels Lebensenergie, schwebte er auf ihn zu.
Gabriel fackelte nicht lange. Im Haupttunnel weinte irgendwo ein Kind, da wollte er sich nicht mit diesem dämlichen Schemen aufhalten.
Er fühlte in sich hinein, bündelte ein winziges bisschen seiner Lebensenergie und schickte sie als feinen Silberdunst aus seinen Fingern in Richtung des Schemens.
Der reagierte sofort. Graue Nebelfäden lösten sich aus dem Gespinst und stürzten sich auf den Dunst. Sofort packte Gabriel zu und zerrte den Schemen zu sich. Der wehrte sich, als er merkte, dass mit dieser Energie etwas nicht stimmte, doch Gabriel ließ nicht locker und er war deutlich stärker als der Geist.
Ein weiterer Ruck und das Biest berührte seine Finger. Kurz meldete sich sein Instinkt, der vor der Geisterberührung zurückschrecken wollte, doch Gabriel hatte diese Schwelle schon so oft überschritten, dass er nicht mal für den Bruchteil einer Sekunde zögerte. Er dolchte seinen Blick in die schemenhafte Kontur des Kopfes, als er mit aller Macht die Todesenergie aus dem Geist herausriss. Eisige Kälte schoss durch seinen Arm in seinen Körper und er spürte Tod und Verdorbenheit, während er sie mit seiner Lebensenergie umhüllte und neutralisierte. Das graue Nebelgespinst vor ihm zerfaserte ins Nichts.
Gabriel atmete tief durch und schüttelte seine Hand aus, um die Kälte zu vertreiben. »Okay, der nervt uns nicht mehr.«
Sie folgten weiter dem Haupttunnel, der jetzt eine Biegung nach Nordwesten machte. Damit ließen sie den Lichtschein vom Einsatzort endgültig hinter sich.
Das Weinen klang jetzt lauter, doch außer grauen Betonwänden, an denen hin und wieder aufgesprühte Zahlen und Buchstabenkombinationen irgendetwas markierten, das nur für eingeweihte Wartungsarbeiter einen Sinn machte, war nichts zu sehen.
Nach zehn weiteren Metern erfassten die Kegel ihrer Taschenlampen einen neuen Abzweig. Dieses Mal zu ihrer Rechten.
»Falls dieser Irre dahinten irgendwo sein Versteck hat, warnt unser Taschenlampenlicht ihn wie ein Leuchtfeuer«, murmelte Sky, als sie weiter den Gang entlangjoggten.
»Ich glaube nicht, dass der Dreckskerl hier unten ist. Wenn er hier hausen würde, hätte er mit Sicherheit gemerkt, dass wir die Leichen gefunden haben. Und dann hätte er die Kinder in der Zwischenzeit weggeschafft – oder zum Schweigen gebracht.«
»Stimmt.« Sky schluckte hart. »Mann, wie krank muss jemand sein, um kleine Kinder völlig alleine hier in totaler Dunkelheit zu lassen? Selbst wenn er sie gegen Übergriffe von Geistern abgesichert hat, ist das der absolute Horror.«
»Erklärt dann aber, warum Cam in keinen Keller runtersteigen kann, ohne Panik zu bekommen. Und warum er absolute Finsternis nicht erträgt«, knurrte Gabriel. »Wenn ich diesen Dreckskerl in die Finger bekomme –«
»Vielleicht sollten wir nach den Kindern rufen«, unterbrach Sky die Mordgelüste ihres Bruders, obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie ihn wirklich aufhalten wollte, sollte er diesem Irren tatsächlich an die Gurgel gehen.
»Nein. Die Kleinen haben uns mit Sicherheit gehört. Aber sie rufen nicht um Hilfe, also haben sie wahrscheinlich Angst vor uns. Du weißt doch, wie Cam drauf war, als er zu uns kam. Er hatte totale Panik vor anderen Menschen.«
»Ja, vor Dad, Mum und Granny. Aber dich hat er ziemlich schnell an sich herangelassen. Und mich nach ein paar Tagen auch.«
»Weil wir noch Kinder waren. Der Mistkerl, der ihn und die anderen Kids gequält hat, war mit Sicherheit ein Erwachsener. Deshalb hat Cam uns damals schneller vertraut. Aber heute wirken wir leider nicht mehr so klein und unschuldig.«
Sie hatten die Abzweigung im Tunnel fast erreicht.
»Das Weinen kommt von dort.« Sky deutete mit ihrer Taschenlampe auf den Seitengang. »Lass uns langsamer weitergehen, sonst erschrecken wir sie, wenn wir einfallen wie die Hottentotten.«
Sie näherten sich vorsichtig und leuchteten um die Ecke. Der Abzweig endete schon nach wenigen Metern in einer T-Kreuzung. Pfeile mit den Bezeichnungen A27 und A26 wiesen nach links und rechts.
Das Weinen wurde zu einem erstickten Schluchzen.
»Weiter«, flüsterte Sky. »Ich glaube, es kommt von links.«
Sie liefen auf die linke Mündung zu und traten um die Ecke. Dort endete der Gang nach nur zwei Metern abrupt vor einer Stahltür mit der Nummer A27.
Sonst war der Gang leer – bis auf das Kinderweinen, das sich jetzt in ein heimtückisches Kichern verwandelte.
Skys Inneres wandelte sich zu Eis, als ihr klar wurde, welchen schrecklichen Fehler sie begangen hatten.
Gabriel begriff es im selben Sekundenbruchteil und fuhr herum.
Doch es war zu spät.