Читать книгу Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel - Nadine Erdmann - Страница 17
Kapitel 11
ОглавлениеSchwärze schoss aus dem gegenüberliegenden Gang auf ihn zu und hüllte ihn ein. Eisige Kälte schnürte sich um seinen Körper und schien das Leben aus ihm herauspressen zu wollen.
Er konnte sich nicht rühren, nichts sehen, nichts hören.
Nicht atmen.
Selbst das Denken fiel ihm plötzlich schwer.
Er spürte nur, wie sein Herzschlag raste. Fühlte, wie die Schwärze ihm sein Leben entreißen wollte.
Sein Überlebensinstinkt übernahm, weil sein Kopf keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Er sammelte all seine Energie zusammen, schloss sie ein und würde mit ihr seine Seele beschützen, solange es ging.
Sky keuchte erschrocken auf, als die Schwärze sich auf Gabriel stürzte.
Verdammt, sie waren so dumm gewesen!
Wie blutige Anfänger waren sie dem Hocus in die Falle getappt.
Fluchend zwängte sie sich an dem Geist vorbei, um Abstand zwischen sich und das Biest zu bringen. Auf keinen Fall durfte sie sich auch noch fangen lassen. Sie stolperte ein paar Meter in den Seitengang zurück und warf den Rucksack mit den Silberboxen ab, dem sie zu verdanken hatte, dass der Hocus sich nicht auf sie gestürzt hatte. Zu mehr waren die Silberboxen allerdings nicht zu gebrauchen. Sie konnte ihre Auraglue nicht einsetzen. Mit Gabriel in seinem Inneren war es unmöglich, den Geist in eine Silberbox saugen zu lassen. Außerdem würde das Auraglue Gabriel lebensgefährlich verätzen.
Also musste sie improvisieren – und zwar schnell.
Sie bündelte Lebensenergie in ihre Fäuste.
»Nimm das!«
Sie schickte ihren Silbernebel wie zwei Peitschenstricke auf den Geist, krallte sich in seine Schwärze und zerrte mit aller Macht an seiner Todesenergie. Sie spürte sofort, wie stark das Biest war. Selbst für einen Hocus. Dieser Geist, der keine drei Meter von ihr entfernt war, brauchte vermutlich nicht mehr viel Energie, um sich in einen Wiedergänger zu verwandeln.
Sky presste die Kiefer aufeinander und zerrte noch heftiger an dem Geist. Fühlte, wie seine Todesenergie durch ihren Silbernebel kroch. Wie das Wesen sich dagegen wehrte und stattdessen versuchte, ihre Energie zu sich zu ziehen.
Ganz sicher nicht!
Sky stemmte sich dagegen. Sie liebte ihr Leben und würde es auf keinen Fall so einfach hergeben. Nicht diesem widerlichen verdorbenen Etwas, das nach Fäulnis, Angst und Tod schmeckte.
Ein weiterer Ruck und sie hatte seine Energie bis in ihre Hände gezogen. Der Tod war eiskalt und fast wäre er ihr wieder entglitten, doch sie krallte sich mit ihrem silbernen Leben fest. Jedes bisschen Todesenergie, das sie dem Hocus raubte, würde Gabriel helfen, sich zu befreien.
Und sie brauchte ihn.
Alleine konnte sie den Hocus nicht besiegen.
Sie spürte bereits, wie die Geisterkälte sie lähmte, während sie durch ihren Körper kroch. Für die Eliminierung der Todesenergie musste sie mit ihrer Lebensenergie zahlen. Bei schwachen Geistern bedeutete das nur Übelkeit, Kopfschmerzen und Schwindel, die allesamt schnell wieder verflogen. Doch der Hocus war alles andere als schwach. Seine Kälte bohrte sich mit stechendem Schmerz in ihren Kopf, trieb ihr Tränen in die Augen und legte sich wie Klauen um ihr Herz, die es quetschten, bei es kaum noch schlagen konnte.
Sky presste ihre Kiefer noch fester aufeinander.
Durchhalten!
Alles war verschwommen und sie merkte, wie sie schwankte.
Ein wenig Energie konnte sie aber trotzdem noch opfern.
Ihr dürft alles geben, nur niemals eure Seele.
Und wenn ihr euch retten müsst, dürft ihr von anderen alles nehmen, aber niemals deren Seele.
Das waren die Regeln, die ihre Mum ihnen eingebläut hatte. Am Ende jeder Trainingsstunde hatte sie sie aufsagen und schwören müssen, dass sie sie niemals brechen würden. Unter gar keinen Umständen.
Sky spürte, wie sie zitterte.
Ihre Hände brannten vor Kälte. Trotzdem ließ sie nicht locker.
Ein bisschen mehr hielt sie noch aus.
Sie musste, sonst war Gabriel verloren.
Verbissen kämpfte sie weiter.
Wieder riss sie Todesenergie in sich und sank auf die Knie, weil ihre Beine sie nicht mehr tragen wollten.
Ihr Herz stolperte und ihr Schädel wollte explodieren.
Keuchend schloss sie ihre Seele ein, als die Kälte sie endgültig zu übermannen drohte.
Die Schwärze hatte ihn verschlungen. So plötzlich, so übermächtig, dass nur noch sein Überlebensinstinkt funktionierte.
Ihr dürft niemals eure Seele geben. Beschützt sie. Schließt sie ein. Denkt euch das beste Versteck für sie aus und verratet es niemandem. Nicht einmal mir. Und wenn die Kälte in euch ist, wenn sie euch eure Seele wegnehmen will, dann verteidigt euer Versteck mit allen Mitteln, die ihr euch vorstellen könnt. Übt das. Immer wieder, bis eure Verteidigung so stark ist, dass die Kälte keine Chance hat.
Gabriels Seelenversteck war ein unknackbarer Stahltresor, der in einer Batman-Höhle mit jeder Menge tödlicher Geheimfallen stand. Die Höhle war in einem Berg, der von einer Allianz aus Superhelden und Oberschurken bewacht wurde, die sich zum Schutz seiner Seele vereint hatten und Spezialwaffen besaßen, mit denen sie ultraheiße Laserstrahlen abschießen konnten, gegen die die Kälte keine Chance hatte.
Ja, das Ganze hatte einen ziemlich kindlichen Touch, aber seine Mum hatte das Seelentraining mit ihm und Sky angefangen, als er gerade schwer in seiner Superhelden-Phase steckte.
Doch trotz der naiven Kindlichkeit funktionierte sein Versteck bis heute tadellos und hatte ihm schon mehr als einmal seine Seele gerettet. Und da er eh niemandem sein Seelenversteck verraten würde, war ein bisschen nostalgischer Kindheitskitsch völlig okay.
Oder vielleicht funktionierte das Versteck genau deshalb so gut? Weil er so niemals das Kind in sich vergessen konnte und Kinder pure Lebensenergie waren?
Himmel, Connor färbte wirklich auf ihn ab.
Der grübelte ständig über solche Sachen und wollte immer wissen, wie etwas funktionierte und warum – oder warum nicht.
Gabriel schüttelte den Gedanken von sich.
Dass er wieder grübeln konnte, bedeutete, der Hocus wurde schwächer und hatte ihn nicht mehr so im Griff wie vorher. Was wiederum bedeutete, dass Sky ihm seine Energie raubte – und dafür mit ihrer zahlte.
Noch immer umgab ihn Schwärze und die Kälte lähmte seine Glieder. Doch die Kälte schien nicht mehr ganz so eisig wie zuvor. Auch die Schwärze war nicht mehr undurchdringlich. Wie durch einen finsteren Schleier konnte Gabriel den Schein der Taschenlampen sehen, die auf dem Boden des Tunnels lagen. Und Skys Silhouette. Er sah, wie sie kämpfte, wie ihr Silbernebel sich in die Schwärze des Hocus’ krallte und ihn schwächte. Sie schwankte, hielt sich aber eisern auf den Beinen, um ihm das Leben zu retten.
Höchste Zeit, sein Leben wieder in seine eigene Hand zu nehmen.
Er ließ seine Seele aus ihrem Versteck und mit ihr seine geballte Lebensenergie.
Ein warmes Kribbeln rauschte durch seinen Körper und er fühlte, wie die eisige Starre sich zu lösen begann. Er konnte seine Hände wieder spüren und bündelte in ihnen seine Energie – mit jeder Menge Wut auf den Hocus, weil er sie so widerlich in die Falle gelockt hatte. Und mit jeder Menge Wut auf sich selbst, weil er darauf hereingefallen war.
Dann grub er seine Finger in die Schwärze.
Silbernebel umspielte seine Hände, als sie den finsteren Schleier auseinanderrissen. Gabriel zwängte sich hindurch und stürzte in den Tunnel. Keuchend schlug er auf dem Boden auf, schnappte hastig ein paar Mal nach Luft und brachte kriechend Abstand zwischen sich und den Geist. Seine Muskeln schmerzten von der tödlichen Kälte, die sie im Inneren des Hocus’ hatten aushalten müssen. Trotzdem wälzte Gabriel sich auf den Rücken, zog mit steifen Fingern seine Auraglue und schoss.
Feine Silbertropfen hefteten sich an die Aura des Hocus’ und der Geist kreischte auf. Wie zuvor das verzweifelte Kinderweinen imitierte das Biest nun den Schmerzensschrei eines Gepeinigten, um seine Angreifer abzuschrecken, zu verwirren oder vielleicht sogar, um Mitleid zu erregen.
»Tja, Pech«, knurrte Gabriel und stemmte sich mühsam auf die Beine. »Kreisch so viel, wie du willst. Damit erreichst du bei mir gar nichts. Außer vielleicht, dass ich dich noch schneller erledigen will, um dem Geplärre ein Ende zu bereiten.«
Noch unsicher auf den Füßen stützte er sich gegen die Tunnelwand und stolperte zu seiner Schwester.
Sky hatte ihre Verbindung zum Hocus getrennt, sobald das Auraglue den Geist getroffen hatte. Doch das Biest war stark. Eine Dosis hielt ihn zwar in Schach, reichte aber nicht, um ihn zu vernichten. Er wehrte sich gegen die bewegungshemmende Wirkung und versuchte, zu entkommen, um sich auf Sky zu stürzen.
Rache dafür, dass sie ihm seine Energie geraubt hatte.
Mit zitternden Fingern tastete Sky nach ihrer Auraglue, doch als sie sie aus ihrem Halfter zog, schien die Waffe tonnenschwer.
Gabriel tappte zu ihr.
»Bist du okay?« Sie musterte ihn besorgt.
»Jedenfalls mehr okay als du, wie es aussieht.« Er sank neben ihr auf den Boden, nahm ihr die Pistole ab und schoss eine zweite Ladung Auraglue auf den Hocus.
Wieder kreischte der Geist auf, als ein weiterer Schauer Silbertropfen auf ihn niederging und ihn endgültig bewegungsunfähig machte.
»Memo an die Obrigkeit: Findet endlich einen Weg, wie man mehr als einen Schuss mit der Auraglue abgeben kann.« Gabriel zog den Rucksack mit den Silberboxen zu sich. »Oder macht zumindest aus dem Wechseln der Kartusche keine Raketenwissenschaft.« Er öffnete eine der Seitentaschen und fischte einen Energieriegel heraus. »Du kannst dir gleich Energie von mir nehmen, ich will nur zuerst den Hocus in eine Silberbox bannen. Der geht mir mit seinem Gekreische nämlich echt auf den Sack.«
Doch Sky schüttelte den Kopf, als er ihr den Riegel reichen wollte. Erschöpft rutschte sie an die Tunnelwand, lehnte sich dagegen und schloss die Augen. »Ich kriege jetzt nichts runter. Mir ist kotzübel. Der Hocus war echt ekelhaft.«
Obwohl sie längst keine Verbindung mehr zu dem Geist hatte, war ihr immer noch schweinekalt und ihre Muskeln wollten nicht aufhören zu zittern. Hinter ihren Schläfen hämmerte es, ihr war schwindelig und ein ekelhafter Geschmack klebte in ihrem Mund.
Gabriel zog eine Colaflasche aus dem Rucksack, drehte sie auf und drückte sie ihr in die Hand. »Trink wenigstens etwas.«
Gehorsam überwand sie sich und merkte sofort, wie sie sich besser fühlte, als die süße Cola den widerlichen Geschmack von Fäulnis, Tod und Verdorbenheit aus ihrem Mund vertrieb. Sie trank weiter kleine Schlucke und sah zu, wie Gabriel eine Silberbox aus dem Rucksack holte und sie vor den fixierten Geist schob. Dann nahm er die Fernbedienung aus der Tasche und aktivierte die Box. Die Klappen auf der Oberseite sprangen auf und der Magnet im Inneren reagierte mit den Eisenpartikeln des Auraglue.
Wieder kreischte der Hocus, als die Magnetkräfte ihn zusammenpressten und in die Box sogen. Sein Schrei wurde immer schriller, bis das Biest endlich komplett in der Box verschwunden war.
Gabriel aktivierte den Schließmechanismus, die Klappen schnappten zu und es herrschte schlagartig Stille.
»Das war’s.« Er sank neben Sky gegen die Tunnelwand. »Danke fürs Lebenretten, kleine Schwester.«
Sie lächelte matt. »Jederzeit wieder, großer Bruder.«
Er klaute ihr die Colaflasche und nahm ihre Hand. »Nimm dir von mir alles, was du brauchst.«
»Nein, schon okay. Du bist ja selbst k. o. und es geht mir schon besser. Ich regeneriere mich auch von alleine.« Sie tastete nach dem Energieriegel und fühlte ein warmes Kribbeln in ihrer Hand, als Gabriel ihr trotzdem etwas von seiner Energie schenkte.
Ihr Funkgerät knackte und Connors besorgte Stimme drang knisternd aus dem kleinen Lautsprecher.
»Sky? Gabe? Ist alles in Ordnung bei euch? Was war das für ein Gekreische?«
Sky zog ihre Hand aus Gabriels und nahm das Gerät vom Gürtel. »Hey. Alles gut. Es gab hier bloß keine Kinder, dafür aber einen fiesen Hocus.«
»Shit!«
»Yep. Ich glaube, das war sein zweiter Vorname.«
»Seid ihr okay?«
»Ja, nur ein bisschen k. o. Das Biest war ziemlich stark. Ich schätze, wenn es Gabe und mich erledigt hätte, hättest du dich in nicht allzu ferner Zukunft mit einem hungrigen Wiedergänger herumschlagen müssen.«
»Dann danke, dass ihr mir das erspart habt. Habt ihr ihn in eine Silberbox gebannt?«
»Aber so was von. Sonst ist hier nichts. Wir ruhen uns kurz aus und kommen dann zurück.«
»Kein Stress, ich hab hier alles im Griff. Nehmt euch alle Zeit der Welt.«
»Nee, so schön ist es hier nicht. Wie weit seid ihr? Ich hab nämlich ehrlich gesagt nichts dagegen, bald hier raus und zurück ans Tageslicht zu kommen.«
Es herrschte kurz Stille, dann antwortete Connor: »Doktor Monroe meint, sie ist in einer halben Stunde fertig, und ich schätze, bis dahin hab ich auch alle Fingerabdrücke.«
»Fantastisch. Wir kommen rechtzeitig zurück, um euch beim Einpacken zu helfen.«
»Okay. Bis dann. Over and out.«
»Over and out.«
Sky steckte das Funkgerät zurück in ihren Gürtel und riss das Einwickelpapier um den Energieriegel auf. »Eigentlich dachte ich ja, wegen ihres ersten Schultags hätten die Kids heute beim Abendessen am meisten zu erzählen.« Sie biss in den Riegel und klaute sich von Gabriel die Colaflasche zurück. »Aber um einen Tunnel voller Leichen und eine Nahtoderfahrung durch einen Hocus zu toppen, müssen die drei schon einiges liefern.«