Читать книгу Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel - Nadine Erdmann - Страница 6

Prolog

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Die Nacht des Frühlingsäquinoktiums vor dreizehn Jahren

Lichtkegel von Autoscheinwerfern durchschnitten die Finsternis der Nacht. Als der Wagen näherkam, entriegelte Phil die Schlösser und zog die Haustür auf. Sue schob sich an ihm vorbei und trat vorsichtig hinaus. Ihr Atem kondensierte zu feinem Nebel und sie schlang ihre Strickjacke fester um sich, die sie über ihren Schlafanzug gezogen hatte. Es war eiskalt. Die Temperatur lag sicher kaum über dem Gefrierpunkt. Der Frühling ließ auf sich warten. Doch in einem Unheiligen Jahr war ein langer Winter nichts Ungewöhnliches.

Mit routiniertem Blick scannte Sue die Umgebung, bevor sie die Stufen in den kleinen Vorgarten hinunterstieg, der ihr Zuhause von der Straße trennte. Der Crescent Drive lag im Dunkeln, nur der Vollmond warf sein Licht auf Häuser und Gärten und tauchte sie in ein bizarres Schattenspiel. Hampstead gehörte zu den Mittelschichtvierteln Londons. Straßenlaternen mit Magnesiumlicht gab es hier nur entlang der Hauptstraßen und rund um wichtige öffentliche Gebäude wie Krankenhäuser, Pflegeheime, Kindergärten oder Schulen. In Wohngebieten fand man Laternen nur in den Nobelvierteln der Innenstadt.

Trotzdem war ihre Straße recht sicher. Alle Nachbarn schützten ihre Häuser mit Eisenzäunen, einige wenige hatten sich sogar Außenleuchten geleistet und in den Gärten wurden Schutzpflanzen gehegt und gepflegt, die Geister und Wiedergänger fernhielten. Doch die anhaltende Kälte hatte den Pflanzen bisher keine Chance gegeben, aus ihrem Winterschlaf zu erwachen, und heute war die erste Unheilige Nacht in diesem Unheiligen Jahr. Wer wusste schon, wozu die Seelenlosen da fähig waren?

»Bleib drinnen«, wies Sue ihren Mann an, als der Wagen vor ihrem Haus stoppte und Phil ihr zur Straße folgen wollte.

Er hielt inne.

Geister wurden von der Lebensenergie der Menschen angezogen. Je mehr Menschen sich dicht beieinander aufhielten, desto mehr Lebensenergie sammelte sich an einem Fleck. Auf Geister wirkte das wie Licht auf Motten.

Phil trat zurück hinter die eiserne Türschwelle. Sue dagegen lief zum Gartenzaun und öffnete das Tor, noch immer mit wachsamem Blick auf die Umgebung. Das Mondlicht schimmerte auf ihrem schneeweißen Haar und die feinen schwarzen Linien, die sich wie ein Tribal-Tattoo ihre linke Schläfe entlang bis hinunter zum Ohr schlängelten, schienen auf ihrer hellen Haut noch deutlicher hervorzutreten als sonst.

Phil hätte Sue jederzeit sein Leben anvertraut. Sie war eine Totenbändigerin. Sollte hier irgendwo ein Geist lauern und sich auf Thaddeus stürzen wollen, sobald er aus dem Auto stieg, würde sie mit ihm fertigwerden.

Doch sein bester Freund blieb unbehelligt, als er aus dem Wagen sprang, eilig die hintere Tür aufriss, ein Bündel in die Arme nahm und zum Haus hetzte. Im Lichtschein, der aus dem Flur hinaus in den Vorgarten fiel, erkannte Phil zwei nackte Kinderfüße und entsetzlich dürre Beine, die aus der Polizeijacke herausschauten, die Thad um den kleinen Körper gewickelt hatte.

»Als ich ihn gefunden hab, dachte ich, er wäre tot«, stieß Thaddeus hervor, als er hastig ins Haus trat und Sue die Tür hinter ihnen verriegelte.

Phil deutete nach rechts auf den Durchgang zum Wohnzimmer. »Leg ihn aufs Sofa dicht ans Feuer.«

In der Stube hing noch der Duft von Salbei und Lavendel, die sie am Abend mit den Kindern zum Schutz vor den Gefahren der Unheiligen Nacht im Feuer verbrannt hatten. Edna stand am Kamin und war dabei, die Flammen neu zu entfachen, um für Wärme zu sorgen, sah aber sofort auf, als die anderen eintraten.

»Oh Himmel«, seufzte sie, als Thad das Häufchen Mensch vorsichtig auf dem Sofa ablegte und zur Seite trat, um Phil Platz zu machen.

Der schlug die Jacke zurück und zum Vorschein kam ein kleiner Junge. Kreidebleich, kaum mehr als Haut und Knochen und noch unglaublich jung. Drei, höchstens vier Jahre alt.

Phils Herz zog sich zusammen.

So alt wie Jules und Ella, die oben in ihren Zimmern schliefen und denen er vor dem Zubettgehen flauschige Schlafanzüge und Ednas selbstgestrickte Wollsocken angezogen hatte, weil die Nacht so bitterkalt werden sollte.

Der Kleine vor ihm trug nur ein verdrecktes dünnes T-Shirt, das einmal weiß gewesen war, und eine kurze graue Trainingshose. Sein Haar war pechschwarz und verfilzt, seine Haut kaum sauberer als seine Kleider. Er hatte blaue Flecken, Kratzer und Schürfwunden in verschiedenen Stadien an Armen und Beinen, tiefe Schatten lagen unter seinen Augen und ein dünnes Rinnsal Blut war irgendwann in den letzten Stunden aus seiner Nase gesickert. Über seine linke Schläfe zogen sich die feinen schwarzen Linien, die alle Totenbändiger von Geburt an zeichneten und so der Welt verrieten, was sie waren.

Phil seufzte innerlich und während ein Teil von ihm mit Mitgefühl für den Jungen und unbändigem Hass auf diejenigen kämpfte, die ihm das angetan hatten, hatte ein anderer Teil bereits in den Medizinermodus umgeschaltet und seine Finger suchten am Hals des Kleinen nach seinem Puls. Er konnte nicht tot sein, sonst wäre Thaddeus im Auto von seinem Geist angegriffen worden. Doch die Frage war, wie viel Leben noch in ihm war und ob sie ihn noch retten konnten.

»Und?«, fragte Thaddeus angespannt und hoffte, dass er auf dem Weg hierher nicht umsonst so gut wie jede Verkehrsregel gebrochen hatte. Zum Glück traute sich in Unheiligen Nächten kaum jemand vor die Tür und auf den Straßen war nichts los gewesen.

»Sein Herz schlägt noch. Aber nur gerade so.« Phil zog seine Hand zurück und wandte sich zu Sue um. »Ich denke, er braucht dich jetzt mehr als mich.«

Sie nickte sofort und kniete sich neben dem Kleinen vor die Couch. Vorsichtig schob sie sein T-Shirt hoch, wobei noch mehr Blutergüsse zum Vorschein kamen. Doch sie zwang sich, alle negativen Gefühle beiseitezuschieben, und legte ihre linke Hand sanft auf sein Herz. Energieübertragung funktionierte am besten bei direktem Hautkontakt. Ihre rechte legte sie auf seine Stirn. Dann schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf ihren Herzschlag und ihre Atmung.

Machte sich bewusst, wie das Leben durch ihren Körper strömte.

Kraftvoll und ungehemmt.

Suchte nach derselben Energie im Körper des Kleinen – und prallte mental zurück.

Unsagbare Angst.

Das Gefühl traf sie so heftig, dass sie beinahe nicht nur mental, sondern auch körperlich zurückgewichen wäre.

Was immer diesem Kind widerfahren war, es hatte Todesängste ausgestanden und ein Echo dieser Angst hallte noch immer in ihm nach.

Sue schluckte und widerstand dem Drang, darüber nachzugrübeln, was ihn so verängstigt haben mochte. Sie brauchte ihre Konzentration, denn das Wichtigste war jetzt, dem Kleinen das Leben zu retten. Um seine Psyche konnten sie sich danach kümmern.

Wieder streckte sie ihre Lebensenergie nach dem Jungen aus und suchte nach seiner. Die musste irgendwo sein, sonst hätte sie seine Angst nicht fühlen können.

Es dauerte, doch schließlich fand sie einen kaum spürbaren Rest, völlig versteckt, wie ein verängstigtes Tier, das sich unendlich tief in seine Höhle verkrochen hatte. Rasch legte sie Wärme und das Gefühl von Sicherheit in ihre Energie und stupste damit sanft an seine. Der Kleine zögerte, ließ die Vereinigung dann aber zu, und als er spürte, dass es etwas Gutes war, stürzte er sich wie ausgehungert darauf und sog dankbar alles, was sie ihm gab, in sich auf.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Ich hab ihn«, sagte sie, damit die anderen sich keine Sorgen mehr darüber machen mussten, ob der Kleine es schaffen würde. »Und er ist ein Kämpfer. Er will leben.«

»Gutes Kind. Dann geh ich jetzt mal und sorge für Tee und heiße Schokolade.«

Sue hörte, wie Edna das Wohnzimmer verließ, hielt aber die Augen geschlossen und konzentrierte sich ganz auf den Fluss ihrer Lebensenergie. Der Junge sog sie in sich auf wie ein Erstickender, dem man eine Maske mit rettender Atemluft aufgesetzt hatte. Es war ein Reflex. Er war bewusstlos und konnte es nicht steuern. Deshalb musste sie aufpassen, dass er nicht zu viel von ihr nahm und sie dadurch tötete. Sie spürte bereits, wie ihre Kräfte schwanden.

Als sich ein leichtes Schwindelgefühl in ihrem Kopf einstellte und es hinter ihren Schläfen zu pochen begann, trennte sie behutsam die energetische Verbindung.

Es überraschte sie, wie bereitwillig der Junge sie losließ. Die meisten, denen sie Lebensenergie schenkte, klammerten und wollten mehr. Der Kleine dagegen ließ sie sofort gehen und zog sich wieder in seine Höhle zurück.

Sue öffnete die Augen.

Hauchfeiner Silbernebel umspielte ihre Hände, die noch immer auf Stirn und Brust des Jungen lagen. Als sie sie fortzog, verweilten die zarten Schwaden über seiner Haut, bis sie sich langsam verflüchtigten.

»Ungewöhnlich«, murmelte Phil, der die beiden keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte. »Warum hat er nicht versucht, den Rest deiner Energie auch noch aufzusaugen?«

»Ich glaube, er hat gelernt, sich mit dem zu begnügen, was er bekommt, und nicht zu wagen, mehr zu erwarten.«

Liebevoll strich Sue dem Kleinen über das verfilzte Haar und stand dann auf, um ihrem Mann Platz zu machen. Ihr war kalt und sie fühlte sich zittrig. Kopfschmerzen pochten hinter ihren Schläfen und sie schwankte leicht, weil ihr schwindelig war und ihre Beine sich wie Pudding anfühlten.

Phil half ihr zu einem der Sessel beim Kamin. »Ruh dich aus.« Er küsste ihre Stirn, legte eine Wolldecke um sie und reichte ihr ein Glas Wasser.

Dankbar trank sie einen Schluck und deutete zu dem Kleinen. »Ich konnte keine schlimmen Schmerzen bei ihm spüren. Er hat also keine inneren Verletzungen oder Knochenbrüche. Er ist aber schrecklich geschwächt und ausgehungert. Und völlig verängstigt. Er muss Todesängste ausgestanden haben, bevor er das Bewusstsein verloren hat.«

Phil setzte sich zu dem Jungen, holte das Stethoskop aus seiner Arzttasche und überprüfte Herzschlag und Atmung seines kleinen Patienten. Beides war regelmäßig und kräftiger als zuvor, doch die Lungen hörten sich nicht gut an. Er zog eine Stiftlampe hervor und leuchtete dem Kleinen in die Augen. Die Pupillen reagierten sofort und zogen sich zusammen. Das war ein gutes Zeichen.

»Erzähl uns, was passiert ist und wo du ihn gefunden hast«, bat Phil Thad, während er die Körpertemperatur des Jungen maß. »Dein kryptischer Anruf war nämlich nicht sehr aufschlussreich.«

»Ich komme mit einem Jungen zu dir, den ich an einem Tatort gefunden hab. Ich dachte zuerst, er wäre tot wie die anderen. Aber ich glaube, er ist nur bewusstlos. Du musst ihm helfen, Phil. Und weck Sue. Der Kleine ist ein Totenbändiger.«

Das waren die gehetzten Worte gewesen, die Phil um kurz nach halb drei aus dem Schlaf gerissen hatten. Doch Thad hatte so schnell wieder aufgelegt, dass keine Zeit für Nachfragen geblieben war.

Edna kam mit einem Tablett zurück ins Zimmer. Sie stellte ihrem Sohn eine Schüssel mit warmem Wasser hin und legte ein paar Tücher zum Waschen, einen Schlafanzug und dicke Socken daneben. Dann brachte sie ihrer Schwiegertochter eine Tasse mit heißer Schokolade. Zucker würde ihr helfen, die verlorene Energie schneller zu regenerieren.

Sue lächelte zu ihr auf. Sie liebte Schokolade. »Danke, du bist die Beste.«

Edna drückte ihr die Schulter und schüttelte den Kopf. »Nein, Liebes. Du hast gerade einem Kind das Leben gerettet. Heiße Schokolade ist da das Mindeste, was ich für dich tun kann.«

Dann trat sie zu Thad und reichte ihm einen Tee. »Das Gleiche gilt für dich, aber ich weiß, du trinkst lieber Tee. Und Phil hat recht. Erzähl uns, was passiert ist. Aber sag bitte nicht, dass irgendwelche Spinner durchgedreht sind, weil heute die erste Unheilige Nacht in diesem verdammten Unheiligen Jahr ist.«

Sie stellte ihrem Sohn ebenfalls einen Tee hin und setzte sich mit einer eigenen Tasse neben Sue in den zweiten Kaminsessel.

Ächzend wischte Thad sich über die Augen und wirkte mit einem Mal deutlich älter als Anfang dreißig. »Ich wünschte, es wäre nicht so. Aber in Unheiligen Zeiten spielen sich so viele kranke Dinge ab …« Er brach ab und schüttelte den Kopf.

Seit Menschengedenken entstanden Geister, wenn ein Mensch einen gewaltsamen Tod fand. Dabei war es nicht von Bedeutung, ob der Tod absichtlich herbeigeführt wurde, wie bei einem Mord, oder er durch einen Unfall geschah. Wurde ein Mensch gewaltsam aus dem Leben gerissen und starb nicht friedlich im hohen Alter oder durch eine schwere Krankheit, entstand ein Geist. Diese Wesen hatten nichts mehr mit der Person gemein, aus der sie entsprungen waren. Sie waren Seelenlose, die einzig und allein nach dem Leben gierten, das ihnen abrupt genommen worden war. Deshalb stürzten sie sich erbarmungslos auf jeden erreichbaren Menschen, um ihm seine Lebensenergie zu rauben.

So wie es seit Menschengedenken Geister gab, gab es in jedem Jahr auch vier Unheilige Nächte, in denen die Seelenlosen besonders aggressiv und gefährlich waren. In den Nächten des Frühlings- und Herbstäquinoktiums, zu Samhain und in der Nacht der Wintersonnenwende wagte sich niemand, der nicht unbedingt musste, aus dem Haus.

Alle dreizehn Jahre erstarkten Geister und Wiedergänger zudem und verhielten sich ein gesamtes Jahr lang noch angriffslustiger und grausamer als sonst. Warum das so war, wusste niemand, doch es hatte diesen Jahren den Namen Unheiliges Jahr eingebracht. In den Unheiligen Nächten eines Unheiligen Jahres potenzierte sich die Gefahr, die von den Seelenlosen ausging, noch einmal ins Unermessliche, und leider rief genau dieser Umstand immer wieder Verrückte und Fanatiker auf den Plan, die mit fehlgeleiteten oder kranken Weltvorstellungen irrsinnige und gemeingefährliche Dinge taten.

Phil warf einen mitfühlenden Blick zu Thaddeus, während er sacht das getrocknete Blut von der Nase des Jungen wischte. Thaddeus war auf das zweite Sofa gesunken, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und hielt sein Gesicht in den Händen vergraben. Im letzten Unheiligen Jahr hatte er seine Eltern verloren. Damals war Thad gerade achtzehn gewesen und es hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.

»Hilf uns«, bat Phil sanft, während er weiter das Gesicht des Jungen säuberte, der ohne den Schmutz noch viel bleicher wirkte als zuvor. »Erzähl uns, was passiert ist, damit wir dem Kleinen helfen können. Dann wirst auch du dich sicher besser fühlen.«

Als Arzt hatte Phil schon viele schlimme Dinge gesehen und auch privat kämpfte er immer wieder an Fronten, die ihn oft an seinen Mitmenschen und der Gesellschaft zweifeln ließen. Doch welche Grausamkeiten und menschlichen Abgründe Thaddeus als Polizist bei der Abteilung für Gewaltverbrechen aushalten musste, wollte er sich gar nicht vorstellen.

Thad presste einen Moment lang seine Finger auf die Augen, um sich zu sammeln. Als er wieder aus seinen Händen auftauchte, warf er einen Blick zum Durchgang in den Flur.

»Schlafen die Kinder? Sie sollten das hier nicht hören.«

Edna nickte. »Keine Sorge, sie sind oben in ihren Zimmern.«

Thaddeus atmete tief durch. »Erinnert ihr euch an all die Vermissten aus den Armenvierteln?«

Böses ahnend nickte Phil langsam. Er arbeitete mit zwei Kolleginnen und einem Kollegen in einer Gemeinschaftspraxis des Hampstead Health Centres, übernahm aber jeden Freitag unentgeltlich eine Schicht in einer Notfallambulanz im East End, einem der schlimmsten sozialen Brennpunkte der Stadt. Seit Beginn des Jahres waren dort und in anderen Armenvierteln vermehrt Obdachlose verschwunden. In einem harten Winter nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches. Viele starben in ihren notdürftigen Verstecken an der Kälte und wurden oft wochenlang nicht gefunden. Außerdem besaßen die meisten, die sich auf der Straße durchschlagen mussten, kaum Mittel, um sich vor Geistern zu schützen. Das war schon in normalen Jahren für viele Obdachlose tödlich. In einem Unheiligen Jahr erst recht. Doch die schiere Anzahl an Menschen, die in den Armenvierteln plötzlich verschwunden waren, hatte schließlich doch Aufmerksamkeit erregt, weil die Einwohner Londons sich vor einer Flut möglicher neuer Geister fürchteten.

»Wir haben sie heute Nacht gefunden«, fuhr Thad fort. »Im Keller eines leer stehenden Herrenhauses am Wimbledon Park. Und es waren deutlich mehr als die knapp dreißig, von denen wir wussten.«

»Wie viele?«, fragte Sue.

»Das stand noch nicht fest, als ich zu euch gefahren bin, aber mit Sicherheit doppelt so viele. Man hat ihnen die Kehlen durchgeschnitten. Vermutlich erst heute Nacht. Irgendein Irrer hat in diesem Keller ein Blutbad angerichtet.« Thad ballte die Hände zu Fäusten. »Und mitten drin waren die Kinder.«

Er blickte zu dem Jungen, dem Phil das T-Shirt ausgezogen hatte, um seinen Oberkörper zu waschen. Seine Rippen schienen durch die blasse Haut stechen zu wollen, so dürr war der kleine Kerl. Aber man konnte sehen, wie die schmale Brust sich hob und senkte, und das war es, was zählte.

»Es waren sechs. Drei Mädchen und drei Jungen.« Thads Stimme klang bitter. »Alle waren Totenbändiger und ähnlich alt wie der Kleine. Sie waren in Holzkisten eingesperrt. Kaum ein Meter mal ein Meter. Sie konnten nicht mal darin stehen und hatten nichts bei sich außer einer Decke und einer Wasserflasche.«

Edna zischte eine Verwünschung und spuckte ins Feuer.

»Alle hatten Nasenbluten, blaue Flecken, Kratzer und Schürfwunden. Äußerlich nichts Ernstes, aber sie sind alle tot. Außer dem Kleinen. Ich hab auch ihn erst für tot gehalten. Sein Puls war wohl zu schwach. Doch dann konnte ich in der verdammten Kälte seinen Atem sehen.«

Phil versuchte, ruhig und professionell zu bleiben und die Informationen zu ordnen, die Thaddeus ihnen gab, während in seinem Inneren Wut und Mitgefühl tobten. Er war froh, dass seine Hände etwas zu tun hatten, als er dem Kleinen das Oberteil des Schlafanzugs überzog, denn sonst hätte er seine Fäuste irgendwo reinschlagen müssen.

Sue schloss die Augen und schluckte hart. »Denkst du, jemand wollte die Kinder quälen? Testen, wie viele Geister sie bändigen können, bevor sie sterben?«

Thad hob die Schultern und nickte knapp. »Die Vermutung liegt nahe, oder?«

Ednas Finger krallten sich um ihre Teetasse. »Es waren kleine Kinder«, grollte sie voller Abscheu.

Phil seufzte schwer und verdrängte die Vorstellung daran, was der kleine Kerl, der jetzt hier bei ihm auf dem Sofa lag, in dieser Nacht hatte durchmachen müssen.

Doch die schreckliche Wahrheit war, dass es solche Verbrechen gegen Totenbändiger immer wieder gab und weiter geben würde, wenn sich nicht endlich die Gesetze änderten. Totenbändiger galten als unheimlich und unberechenbar, weil sie Kräfte besaßen, mit denen sie Geister und Wiedergänger auslöschen konnten, indem sie den Seelenlosen ihre Todesenergie raubten. Dasselbe konnten Totenbändiger allerdings auch mit der Lebensenergie der Menschen tun und diese nur durch Handauflegen töten. Niemand verstand diese Kräfte und niemand wusste, woher sie kamen. Nicht einmal die Totenbändiger selbst. Sie wurden so geboren und machten nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung aus. In manchen Familien traten sie allerdings häufiger auf, besonders, wenn zwei Totenbändiger Kinder bekamen.

Manchmal wurden Totenbändiger jedoch auch in unbefleckte Familien geboren, waren dort jedoch in der Regel nicht willkommen. Wer wusste schon, ob sie ihre tödlichen Kräfte wirklich nur gegen Geister und Wiedergänger einsetzten? Und selbst wenn sie nur das taten, wer konnte sagen, was es mit ihrer Psyche oder ihrer Seele machte, wenn sie die Todesenergie der Seelenlosen schluckten?

Niemand wollte eine tickende Zeitbombe in der Familie haben.

Niemand wollte soziale Ächtung und Ausgrenzung erfahren.

Da die meisten Menschen so dachten, stand es nicht unter Strafe, Babys zu töten, die als Totenbändiger zur Welt kamen. Und quälte oder tötete man einen Totenbändiger, weil man sich von ihm bedroht fühlte, kam es nie zu einem Prozess.

»Werdet ihr ermitteln?« Sue wusste, dass Thaddeus auf ihrer Seite stand. Er kämpfte als Polizist immer wieder gegen Geister und Wiedergänger und sah in Totenbändigern wertvolle Unterstützer, deren Fähigkeiten man nutzen sollte, statt ihnen mit Misstrauen zu begegnen oder sich vor ihnen zu fürchten. Doch er war nur ein einfacher Sergeant und seine Bosse entschieden, welche Fälle bearbeitet wurden. Und bei seinen Bossen standen tote Obdachlose und Totenbändigerkinder auf der Prioritätenliste vermutlich nicht besonders weit oben.

Doch Thad nickte mit grimmiger Entschlossenheit. »Auf jeden Fall. Wer immer das getan hat, ist ein kranker Massenmörder, und er läuft frei in London herum. Ihn nicht zu suchen, wäre absolut verantwortungslos.«

»Allerdings!«, stimmte Edna ihm aus tiefstem Herzen zu.

Phil hatte auch Füße und Beine des Jungen notdürftig gesäubert und zog ihm jetzt Schlafanzughose und Socken an. »Willst du, dass ich mit zum Tatort komme?« Er wickelte seinen kleinen Patienten in eine Wolldecke und strich ihm sanft über Stirn und Haar. »Wenn es so viele Tote gibt, könnt ihr Unterstützung gebrauchen. Eure Gerichtsmediziner werden alleine Tage brauchen, um bei allen Leichen den genauen Todeszeitpunkt zu bestimmen. Und um die Kinder wird sich vermutlich gar keiner kümmern.«

Sofort schüttelte Thad den Kopf. »Du kommst auf keinen Fall mit mir. Und es darf niemand wissen, dass ich hier gewesen bin.« Er beugte sich vor und blickte ernst von einem zum anderen. »Der Junge ist der einzige Zeuge dieses Massakers. Ich weiß, er ist noch sehr jung. Vermutlich zu jung, als dass er eine Aussage machen könnte, die uns helfen würde, den Täter zu finden. Aber das weiß dieser Irre nicht. Sollte er erfahren, dass eins der Kinder überlebt hat, wird er sicher alles daransetzen, den Kleinen zum Schweigen zu bringen.«

Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann sagte Sue: »Du willst, dass wir ihn in unserer Familie verstecken.«

Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

Thaddeus atmete schwer durch. »Ich weiß, ich bitte euch damit um sehr viel. Aber ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um euch zu unterstützen. Außer mir und meinem Boss weiß niemand, dass der Kleine überlebt hat, und Oswald können wir hundertprozentig vertrauen. Er setzt sich genauso für die Gleichstellung von Totenbändigern ein wie ich. Offiziell ist der Kleine mit den anderen Kindern gestorben. Da es keinerlei Vermisstenanzeigen gibt, die auf ihn oder eins der anderen Kinder passen, gehen wir davon aus, dass sie nicht aus Totenbändigerfamilien stammen. Vermutlich hat dieser Irre sie als Babys irgendwelchen Müttern abgenommen, die froh waren, sie so schnell wie möglich loszuwerden. Dann hat er die Kinder großgezogen, um mit ihnen im Unheiligen Jahr irgendwelche kranken Experimente zu machen. Aber das ist nur meine Vermutung. Noch wissen wir so gut wie gar nichts, außer dass der Kleine mit Sicherheit in Gefahr ist, wenn der Täter erfährt, dass er noch lebt und reden könnte.«

Thaddeus blickte zu Phil. »In ein paar Tagen könntest du sagen, dass jemand den Jungen in deiner Notfallambulanz abgegeben hat. Erzähl allen, die fragen, dass seine Mutter eine Totenbändigerin war, die als Wächterin an den Grenzen des Vergnügungsviertels im West End gearbeitet hat. Dort ist sie heute in der Unheiligen Nacht gestorben. Zu viele hungrige Geister, zu wenig Personal. Das glaubt jeder sofort. Sie war alleinerziehend und hat ihren Sohn während ihrer Schichten zu Hause gelassen. Nachbarn hatten ein Auge auf ihn, und als die Mutter nicht zurückkam, haben sie den Kleinen zu dir in die Ambulanz gebracht, weil sie wissen, dass du schon zwei Totenbändigerkinder in deiner Familie aufgenommen hast. Sollten Rückfragen kommen, unterstützen Oswald und ich diese Geschichte und wir besorgen euch alle nötigen Papiere. Obwohl ich nicht glaube, dass irgendjemand nachfragen wird. So traurig wie es ist, es wird niemanden interessieren, wo ein kleiner Totenbändiger herkommt und was ihm widerfahren ist.«

Wieder sah Thaddeus zwischen seinen Freunden hin und her. »Wie gesagt, ich weiß, ich bitte euch um sehr viel. Aber der Junge hat niemanden, ihr seid fantastische Eltern und diese Familie hält zusammen wie Pech und Schwefel. Nach allem, was der Kleine durchgemacht haben muss, hat er ein Zuhause wie dieses hier verdient, und ich weiß, dass er bei euch in Sicherheit wäre.«

Sue und Phil tauschten einen Blick und sahen dann zu Edna. Doch bevor die etwas sagen konnte, erklang eine Stimme vom Durchgang zum Flur.

»Wir können ihn nicht wegschicken.«

Alle fuhren herum und Phil seufzte, als sein Ältester ins Wohnzimmer kam, jenen sturköpfigen Ausdruck im Blick, den er in den letzten Monaten perfektioniert hatte.

»Wie lange hast du uns schon belauscht?«, fragte er den Elfjährigen und fühlte sich zu müde und ausgelaugt, um die eigentlich nötige Vaterstrenge in Blick und Stimme zu legen.

»Lange genug, um zu wissen, dass ein Irrer dem Kleinen wehgetan hat, weil er ein Totenbändiger ist.« Gabriel trat ans Sofa und betrachtete den bewusstlosen Jungen. Sofort ballte er wütend die Fäuste. »Er ist noch so klein. Warum hassen die Leute uns so sehr? Wir haben niemandem etwas getan!«

Sue stand aus ihrem Sessel auf und zog ihren Sohn in ihre Arme. Zärtlich streichelte sie ihm durch die vom Schlaf zerzausten Haare und fuhr mit dem Daumen über die schwarzen Linien an seiner Schläfe.

»Weil viele Menschen dumm sind und das fürchten, was sie nicht verstehen. Und sie vorverurteilen lieber andere, statt sich mit ihren eigenen Fehlern und Unzulänglichkeiten auseinanderzusetzen.«

Gabriel löste sich aus ihrer Umarmung, lehnte sich aber an sie und schaute von ihr zu seinem Dad und seiner Grandma. »Ihr werdet ihn nicht wegschicken, oder? Ella und mich habt ihr auch aufgenommen. Und Thad hat gesagt, der Kleine hat niemanden. Wo soll er denn dann hin? In die Akademie? Mum, du hasst die Akademie!«

Die drei Erwachsenen tauschten erneut einen Blick und waren sich wortlos einig.

»Nein«, sagte Sue entschieden. »Er kommt ganz sicher nicht in die Akademie. Er wird bei uns bleiben.«

Erneut ballte Gabriel die Fäuste, aber diesmal nicht aus Wut, sondern um mit ihnen triumphierend in die Luft zu boxen. »Yes!«

Sue fasste ihren Sohn bei den Schultern und drehte ihn zu sich um, damit sie ihm in die Augen sehen konnte. »Aber du hast gehört, was Thad gesagt hat. Niemand darf wissen, wer der Kleine wirklich ist. Das heißt, du darfst niemandem erzählen, was du heute Nacht hier gehört hast, verstanden?« Sie maß ihn mit ernstem Blick.

Gabriel nickte gewissenhaft. »Ja, ich weiß. Und ich verspreche, ich passe auf, dass ihm keiner mehr wehtut.« Dann wandte er sich zu dem Kleinen um. »Darf ich ihm was von meiner Lebensenergie geben, damit er schnell wieder gesund wird?«

Sue lächelte gerührt und gab ihm einen Kuss auf den strubbeligen Hinterkopf. »Okay. Aber ich zähle. Bis zehn, dann trennst du die Verbindung zwischen euch wieder.«

»Bis elf! Ich bin elf. Für jedes Jahr eine Sekunde. Das schaffe ich.«

Wieder musste Sue lächeln. »Okay. Bis elf. Aber keine Sekunde länger. Wenn der kleine Mann morgen aufwacht, braucht er einen großen Bruder, der fit ist, klar?«

Grinsend hob Gabriel den Daumen. »Glasklar.«

Dann setzte er sich neben seinen neuen kleinen Bruder und legte eine Hand auf seine Stirn und eine auf sein Herz.

Thaddeus sah noch einen Moment lang zu, wie Sue ihrem Ältesten Anweisungen gab, dann stand er auf und blickte zu Phil. »Ich muss zurück zum Tatort.«

Phil nickte und begleitete seinen Freund zur Haustür. »Halte uns auf dem Laufenden.«

»Natürlich. Ich komme wieder her, sobald ich kann.«

Bevor Thad über die Türschwelle trat, drückte Phil ihm die Schulter. »Pass auf dich auf. Die Kinder waren noch viel zu klein, um die Geister von all diesen Toten bändigen zu können. Sei also vorsichtig. In diesem Herrenhaus muss es vor Geistern jetzt nur so wimmeln.«

Thaddeus schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Wie, nein?«, hakte Phil stirnrunzelnd nach.

»Ich habe keine Ahnung, warum, aber trotz all der Toten gab es am Tatort nicht einen einzigen Geist.«

Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel

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