Читать книгу Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel - Nadine Erdmann - Страница 7

Kapitel 1

Оглавление

Dreizehn Jahre später

1. September

Ein Sonntagabend

Camren Hunt starrte in den Spiegel und zwei dunkelblaue Augen starrten zurück – aus einem schmalen Gesicht mit bleicher Haut, umrahmt von einem schwarzen Haarschopf, der sich nie richtig bändigen ließ, völlig egal, was er damit anstellte. Manche Totenbändiger wurden mit krassen Haarfarben geboren. Sue hatte schneeweißes Haar, das sie an Sky und Jules weitervererbt hatte. Ellas Haare hatten einen blaugrünen Farbton. Gabriels dagegen waren einfach nur dunkelblond, doch er hatte einen Freund, dessen Haare zartrosa und himmelblau waren.

Cam fuhr sich durch seinen eigenen struppigen Haarschopf und war froh, dass ihm so ein Farbwunder erspart geblieben war. Ella behauptete zwar steif und fest, dass seine Haare nicht einfach nur pechschwarz waren, sondern im Sonnenlicht einen mitternachtsblauen Schimmer hatten, doch ganz ehrlich, den hatte er noch nie gesehen.

Aber solange seine Haare nicht rosa und hellblau waren, war ihm alles egal.

Nur nicht auffallen.

Er betrachtete sich prüfend.

Er sah weder besonders gut noch schlecht aus.

Normal halt.

Durchschnittlich.

Für seine geschätzten siebzehn Jahre war er eher klein und laut Granny zu dürr, doch das war okay. Besser, als ein muskelbepackter Riese mit rosablauen Haaren. Klein und dürr konnte man unsichtbar in der Menge untertauchen. Oder zumindest hätte er das gekonnt, wenn da nicht die schwarzen Linien an seiner linken Schläfe gewesen wären. Die machten es ihm unmöglich, morgen, an seinem ersten Schultag in einer öffentlichen Schule, unsichtbar zu bleiben.

Bei jedem Totenbändiger zeichneten die Linien ein etwas anderes Muster und manche trugen sie rechts, andere links, doch immer gingen sie von der Schläfe aus und schlängelten sich hinunter bis zum Ohr.

Sie zu verstecken, war strengstens verboten.

Trotzdem gab es immer wieder Totenbändiger, die es taten. Auch wenn sich in den letzten Jahren in London einiges zum Besseren geändert hatte, gab es noch immer zu viel Ablehnung und dumme Vorurteile. Entgegen der Vorstellungen mancher ihrer Mitbürger ernährten Totenbändiger sich nämlich weder von der Energie der Toten noch von der der Lebenden. Sie brauchten die gleiche Nahrung wie alle anderen Menschen und für die mussten sie Geld verdienen. Genauso wie für die Miete, denn auch wenn Totenbändiger den Geistern und Wiedergängern nicht so schutzlos ausgeliefert waren wie der Rest der Bevölkerung, waren sie weder immun gegen sie noch unsterblich, was ein sicheres Zuhause äußerst erstrebenswert machte. Und dafür brauchte man einen Job. Doch es gab nur wenige Arbeitgeber, die Totenbändiger einstellten, deshalb blieb vielen oft keine andere Wahl, als ihre Zeichen zu verstecken, um Geld verdienen zu können.

Cam hatte noch keine Ahnung, wie er später sein Leben finanzieren wollte. Aber er wusste definitiv, dass er sein Zeichen dafür nicht verstecken würde. Früher oder später flog es immer auf und die Strafe dafür waren bis zu sechs Wochen Gefängnis. In eine enge Zelle gesperrt zu werden, war schlimmer als zu hungern oder auf der Straße leben zu müssen. Allein die bloße Vorstellung, irgendwo eingesperrt zu sein, ließ ihm schon kalten Schweiß ausbrechen und es fühlte sich an, als würde irgendetwas seine Brust zusammenquetschen und ihn kaum atmen lassen.

Seine Abneigung gegen geschlossene Räume war so schlimm, dass er selbst Nebeltage, an denen es zu gefährlich war, das Haus zu verlassen, nur schwer aushielt. Phil hatte ihm erklärt, dass seine Klaustrophobie vermutlich daher rührte, dass man ihn als kleines Kind in einer engen Kiste eingesperrt hatte. Irgendein Irrer hatte ihn und fünf andere Kinder gefangen gehalten und gequält, weil er Totenbändiger hasste. Gefasst worden war der Mistkerl leider nie.

Cam schaute sich im Spiegel in die Augen und versuchte wie so oft, irgendeine Erinnerung an damals zu finden.

Doch da war nichts.

Selbst an die erste Zeit hier bei den Hunts konnte er sich kaum erinnern.

Sue, Phil und Granny hatten ihm erzählt, dass er lange mit einer schweren Lungenentzündung krank gewesen war und schreckliche Angst gehabt hatte. Doch wovor er sich so sehr gefürchtet hatte, wusste Cam nicht. Selbst damals hatte er es nicht sagen können. Auch nicht, wenn er nachts schreiend aufgewacht war.

Irgendwann waren diese Träume zum Glück seltener geworden und quälten ihn nur noch bei Nebel oder Vollmond. Und garantiert in jeder Unheiligen Nacht. Immer, wenn die Toten rastloser und gefährlicher waren als ohnehin schon, machte ihn das unruhig und das schien seine Albträume zu begünstigen. Er konnte sich noch immer nicht daran erinnern, was er träumte. Er wachte zwar nicht mehr schreiend auf, dafür aber meist nassgeschwitzt und mit solcher Todesangst, dass er in den ersten Momenten nach dem Aufwachen wie gelähmt war.

Absolut ätzend.

Vor allem, weil der Mist wieder deutlich schlimmer geworden war.

Seit Beginn dieses verfluchten Unheiligen Jahres suchten die Albträume ihn wieder häufiger und ohne erkennbares Muster heim. Schlafen war die Hölle und die Schatten unter seinen Augen verrieten das ziemlich schonungslos.

Auch die verdammte Unruhe, die er sonst nur in Unheiligen Nächten spürte, war in den letzten Monaten ein zu häufiger Begleiter, der sich oft nur durch drastische Maßnahmen abschütteln ließ.

Aber hey, es hatte ja niemand behauptet, dass das Leben was für Weicheier war.

Seufzend drehte Cam den Wasserhahn auf und klatschte sich ein paar Ladungen kaltes Wasser ins Gesicht. Mit nassen Fingern fuhr er sich durch die Haare, änderte damit an ihrer Strubbeligkeit allerdings rein gar nichts. Sie standen jetzt bloß in andere Richtungen ab. Pechschwarz und kein bisschen mitternachtsblau.

Er schnitt sich selbst eine Grimasse, zog sein Handtuch vom Haken und trocknete sein Gesicht.

Es hätte wahnsinnig geholfen, wenn der Sommer nicht so kalt und verregnet gewesen wäre. Ein bisschen Sonnenbräune und schon wären die dämlichen Schatten unter seinen Augen jetzt vielleicht nicht ganz so auffällig.

Vielleicht sollte er sich von Sky oder Ella einen Eyeliner ausleihen. Dann konnte er auf coolen Gothic Boy machen. Da er eh nur schwarze Klamotten trug, wäre der Rest der Verwandlung wahrscheinlich gar nicht so schwer.

Mit der Schuluniform, die er ab morgen tragen musste, funktionierte der tolle Plan allerdings nicht wirklich und hätte ihn vermutlich eher wie einen trashigen Zombie aus irgendeinem peinlichen B-Movie aussehen lassen.

Außerdem war er einfach kein Goth.

Und er wollte auch gar keiner sein.

Er wollte einfach nur, dass man ihn morgen in Ruhe ließ.

Es klopfte.

»Ja?«

Gabriel streckte seinen Kopf zur Tür herein. »Hey Kleiner, will ich wissen, was du hier drin so ewig machst?«

Gabriel war der Einzige, der ihn noch Kleiner nennen durfte. Weil es nie abwertend gemeint war. Es war eher wie ein Spitzname, der haften geblieben war, weil Kleiner sein Name gewesen war, bevor Cam einen richtigen bekommen hatte.

Wie immer sah Gabriel verdammt gut aus – auf seine typisch lässig coole Art. Mit Jeans, Longsleeve, Boots und seiner schwarzen Lederjacke, ohne die er nie das Haus verließ.

»Ich übe schon mal für morgen, wenn ich mich vor den Mobbern der Schule auf dem Klo verstecken muss«, gab Cam sarkastisch zurück. »Ich hab nämlich keine Lust, mich in den nächstbesten Müllcontainer werfen zu lassen, weil irgendwelche Vollidioten die Vorstellung nicht ertragen können, dass jetzt ein paar Totenbändiger mit auf ihre Schule gehen.«

Gabriel hob eine Augenbraue. »Wow. Es geht doch nichts über eine optimistische Erwartungshaltung.«

»Optimismus ist total out. Der wurde eh immer überbewertet. Realismus mit einem ordentlichen Schuss Zynismus – das ist das Must-have, wenn man mit dem Leben klarkommen will.«

Blitzschnell nahm Gabriel ihn in den Schwitzkasten und strubbelte ihm durch die Haare. »Es erfüllt mein Herz immer wieder mit unbändiger Freude, zu sehen, wie du zu einem echten Sonnenschein heranwächst.«

Geschickt befreite Cam sich aus dem Griff mit ein paar Tricks, die Gabe ihm bei ihrem Selbstverteidigungstraining beigebracht hatte.

»Gut gemacht.« Anerkennend klopfte Gabriel ihm auf die Schulter. »Siehst du, du musst dich morgen nicht auf dem Klo verstecken. Wehr dich, wenn dir jemand blöd kommt.«

Sicher. Kommt bestimmt super an, wenn einer der Totenbändiger-Freaks gleich am ersten Tag in eine Schlägerei gerät. Vermutlich überlebe ich dann nicht mal bis zum Mittagessen.

Laut sagte Cam: »Musst du nicht zur Nachtschicht?«

Der abrupte Themenwechsel ließ Gabriel die Stirn runzeln, doch er ging trotzdem darauf ein. »Yep. Aber bevor ich mich um unsere ungeliebten paranormalen Mitbürger kümmere, wollte ich dir noch schnell viel Spaß für deinen ersten Schultag wünschen.«

»Ich glaube, unsere Definitionen von Spaß liegen Lichtjahre auseinander.«

Gabriel betrachtete ihn einen Moment lang und ließ seine flapsige Art dann fallen. »Hey, das wird schon. Das, was morgen passiert, ist ein riesiger Schritt für ein gemeinsames Miteinander ohne Angst und Diskriminierung. Stell dir nur mal vor, dass ein Totenbändigerkind, das morgen geboren wird, in ein paar Jahren ganz selbstverständlich mit allen anderen Kindern eingeschult werden kann, weil du, Jules und Ella bewiesen habt, dass gemeinsam unterrichtet zu werden, keine Gefahr darstellt. Damit bist du Teil von etwas unglaublich Wichtigem.«

Cam seufzte. »Ja, schon klar. Ich finde es ja auch super, dass Sue, Phil und Granny sich so für die Rechte der Totenbändiger einsetzen. Und für uns.«

»Aber?«

»Aber ich bin nicht scharf darauf, einer der Beweise zu sein, der zeigen soll, dass wir total harmlos und keine Gefahr für die Allgemeinheit sind.«

»Aber du bist total harmlos und keine Gefahr für die Allgemeinheit.«

Missmutig wandte Cam sich ab und kickte gegen den Korb, in dem sie ihre dreckige Wäsche sammelten. »Das weißt du nicht.«

Gabriel fasste ihn an der Schulter. »Hey, sieh mich an.«

Widerwillig drehte Cam sich zu ihm um und hob den Blick.

»Kein Vierjähriger kann zig Leuten die Kehlen durchschneiden. Schon gar nicht, ohne sich mit Blut zu besudeln. Oder wenn er in eine Holzkiste eingesperrt ist. Klar?« Er bohrte seinen Blick in Cams. »Ich hab dich in der Nacht gesehen, als du zu uns gekommen bist. Du warst nur Haut und Knochen und so krank und schwach, dass du tagelang nur geschlafen hast. Und deine Muskeln waren von der verdammten Holzkiste so verkümmert, dass du dich kaum auf den Beinen halten konntest, als du endlich aufgewacht bist. Du hättest niemandem irgendetwas antun können. Weder mit einem Messer noch mit deinen Kräften. Also rede dir nicht irgendwelchen Schwachsinn ein, verstanden?«

Eine Antwort blieb Cam erspart, weil sich draußen auf dem Flur Schritte näherten.

»Gabe? Wir müssen los.« Sky steckte ihren Kopf zur Tür herein. Wie immer standen ihre kinnlangen Haare wuschelig in alle Richtungen ab wie Büschel schneeweißer Ausrufezeichen. Sie trug enge schwarze Jeans, ein helles Top, Boots und die dunkelrote Cordjacke, die Ella ihr genäht hatte. Ihren Augen hatte sie einen dicken schwarzen Lidstrich verpasst und bei ihr sah es kein bisschen wie trashiger Zombie aus, sondern einfach nur cool.

»Oh, sorry, störe ich gerade einen wichtigen Brüder-Moment?«, fragte sie, als sie Gabe und Cam zusammen sah.

Gabriel dolchte seinen Blick noch einen Moment länger in Cam, dann klopfte er ihm auf die Schulter und schüttelte den Kopf. »Nein. Wir waren gerade fertig.«

»Prima. Dann lass jetzt mal die große Schwester ran.« Sky schob Gabriel zur Seite und zog Cam in ihre Arme. »Ich wünsch dir für morgen alles und nichts.«

Unvermittelt musste Cam lächeln.

Alles, was dich glücklich macht.

Nichts, was dich verzweifeln lässt.

Es war das, was sich die Menschen gegenseitig zur Julzeit, der dunkelsten und gefährlichsten Zeit des Jahres, wünschten.

Sky hatte verstanden, was dieser verdammte Schulanfang für ihn bedeutete.

Dankbar erwiderte er die Umarmung.

»Kopf hoch, okay?« Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. »Sonst kann niemand deine hübschen Augen sehen. Und ich wette, mit denen wirst du in den nächsten Wochen so einige Herzen erobern.« Sie zwinkerte vielsagend.

Cam verzog das Gesicht.

Ja, klar. Funktionierte bei Jules ja auch ganz wundervoll – nicht.

Er strafte seine Schwester mit einem ironischen Blick.

Lachend boxte Gabriel ihm gegen die Schulter. »Okay, und falls das mit dem Herzen erobern nicht funktioniert, funkle sie einfach alle in Grund und Boden. Den Blick hast du nämlich perfekt drauf.«

Connor klopfte an die offen stehende Tür. »Hey Cam, alles Gute für morgen.« Er lächelte aufmunternd und nickte bedeutungsvoll Richtung Gabriel. »Und was immer dieser Chaot dir an tollen Ratschlägen mitgegeben hat – mach das Gegenteil.«

Empört wollte Gabriel einen passenden Kommentar zurückschießen, doch bevor er irgendwas sagen konnte, fuhr Connor ihm über den Mund und scheuchte ihn und Sky zur Tür.

»Spar dir den Atem, wir müssen los. Sonst kommen wir zu spät.«

Sky wandte sich zu ihm um, gab Connor einen Kuss und schnappte sich dabei den Autoschlüssel aus seiner Hand. »Nicht, wenn ich fahre.«

Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel

Подняться наверх