Читать книгу Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel - Nadine Erdmann - Страница 8

Kapitel 2

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Egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, das Polizeirevier von Camden glich immer einem quirligen Ameisenhaufen. Einsatzteams kamen und gingen, Verdächtige wurden verhört, Zeugen befragt und überführte Täter warteten auf den Abtransport ins Gefängnis.

Geleitet wurde das Revier von Commander Jonathan Pratt, einem energiegeladenen Mitfünfziger, der zu den besten Polizisten ganz Londons zählte. Seit einer Schießerei, bei der ihn eine Kugel in den Rücken getroffen hatte, saß er im Rollstuhl und hatte deshalb den Dienst auf der Straße quittieren müssen. Jetzt ging er dafür ganz in seiner Rolle als Leiter des Camdener Polizeireviers auf und führte seine Leute mit harter, aber fairer Hand.

»Hi Betty!«

Gabriel, Connor und Sky stürmten zum Empfangstresen, an dem eine ältere Polizistin mit Argusaugen den Eingang des Reviers bewachte und sowohl für die Mitarbeiter als auch für die Besucher den Begrüßungszerberus gab.

»Die Sergeants Hunt und Fry.« Mit hochgezogener Augenbraue schüttelte Betty den Kopf. »Mal wieder gerade so auf den letzten Drücker pünktlich zum Dienst eingecheckt.« Sie vermerkte die Ankunft der drei in ihrem Computer.

»Das lag nur an den ganzen Sonntagsfahrern, die heute Abend unterwegs waren«, verteidigte Sky sich und war eigentlich sehr stolz darauf, dass sie es trotz dieser Schnecken auf den Straßen noch pünktlich hergeschafft hatten.

»Na, wow. Diese Entschuldigung hab ich ja schon ewig nicht mehr gehört«, meinte Betty sarkastisch. »Ich sollte mir ein Bingofeld mit typischen Ausreden zulegen und sobald ich eine Reihe voll habe, schuldet ihr mir Tee, Sandwiches und Scones. Und zwar die guten von Fred’s. Nicht irgendeinen ungenießbaren Fließbandmüll.«

»Ehm … Granny lässt dich schön grüßen«, lenkte Gabriel das Gespräch schnell in eine andere Richtung und schenkte ihr ein charmantes Lächeln. »Sie freut sich auf euer Squashspiel am Dienstag.«

»Lenk nicht ab, junger Mann! Die Bingo-Idee ist brillant.« Eifrig gab Betty etwas in ihren Computer ein. »Und dieses Lächeln ist bei mir sinnlos«, schob sie hinterher, doch alle drei sahen, dass ihre Mundwinkel verräterisch zuckten. »Aber bestellt eurer Granny einen lieben Gruß zurück. Ich freue mich auch.«

Sie betätigte den Buzzer, der die Tür in der schusssicheren Glasfront öffnete, die den Empfangsbereich vom Rest des Reviers trennte. Panzerglas hielt irdische Kugeln ab, eiserne Schwellen an den Türen und Gitter vor den Fenstern schützten gegen paranormale Eindringlinge. Das Revier war gut gesichert und in den knapp drei Jahren, in denen Gabriel und Sky hier arbeiteten, hatte es noch nie irgendwelche Zwischenfälle gegeben. Thaddeus Pearce, der beste Freund ihres Vaters, hatte sich damals für sie stark gemacht. Die Polizei hatte zwar eigene Mittel und Wege, Geister und Wiedergänger einzufangen und unschädlich zu machen, doch Totenbändiger mit an Bord zu haben, wenn man Tatorte von Gewaltverbrechen untersuchen musste, war ein ungemeiner Vorteil. Frisch entstandene Geister zu eliminieren war für einen Totenbändiger keine große Herausforderung und so sparte ihr Einsatz eine Menge Steuergelder, denn die Mittel zum Einfangen und Vernichten von Geistern waren sündhaft teuer.

Fast jedes Polizeirevier in der Stadt hatte eine Einheit, die sich um Angriffe von Geistern und Wiedergängern kümmerte. London war kein einfaches Pflaster. Viele Menschen auf engem Raum, da stieg die Anzahl der Toten, die durch Verbrechen oder Unfälle gewaltsam aus dem Leben gerissen wurden, stetig an. Geister entstanden, die ebenfalls Menschen töteten und so für noch mehr Geister sorgten. Dem konnte man nur mit genügend Personal entgegenwirken, daher hatte die Polizei schließlich die Zustimmung des Stadtrates bekommen, auch Totenbändiger für diese Aufgabe einstellen zu dürfen.

Seitdem waren fast drei Jahre vergangen und mittlerweile arbeitete in beinahe jeder Spuk Squad mindestens ein Totenbändiger. Es war ein harter Kampf gewesen, doch die meisten Polizisten hatten ihre Totenbändiger-Kollegen inzwischen schätzen gelernt oder respektierten sie zumindest insoweit, als dass sie froh waren, sich nicht selbst mit den Geistern und Wiedergängern herumschlagen zu müssen, die die Bürger von London bedrohten.

Connor, Sky und Gabriel traten durch die Glastür in den Hauptraum des Polizeireviers. Hinter dem Empfangstresen lag das zentrale Großraumbüro der Innendienstler, die Recherchen für die einzelnen Teams betrieben, jede Menge Papierkram für die Bosse erledigten und, falls nötig, die verschiedenen Einheiten und Einsätze koordinierten. Treppen führten hinauf zu den Büros der einzelnen Abteilungen und hinunter zu Arrestzellen, Verhörräumen und Ausrüstungskammer.

Sky wollte sich gerade zur Treppe wenden, um in den ersten Stock hinaufzusteigen, als eine Stimme sie zurückhielt.

»Hey, Sky! Wow! Du siehst heute ja wieder echt heiß aus.« Einer der jüngeren Innendienstler lehnte sich breitbeinig in seinem Schreibtischstuhl zurück, fasste sich in den Schritt und zwinkerte ihr bedeutungsschwer zu.

Sky rang sich ein müdes Lächeln ab. »Wow, Theo. Prince Charming. Wie immer.«

»Tja, wer kann, der kann. Heute mal Lust auf ein bisschen Spaß nach der Schicht?«

Er war hartnäckig, das musste sie ihm lassen. Trotzdem ging er ihr mit seinen plumpen Anmachversuchen mittlerweile tierisch auf den Keks.

»Hatte ich das jemals? Was genau braucht es, damit du endlich schnallst, dass ich mit Connor zusammen bin? Seit ungefähr einem Jahr. Er wohnt sogar bei mir und meiner chaotischen Familie. Viel ernster kann eine Beziehung kaum sein. Also, was brauchst du noch, um das zu kapieren? Eine Leuchtreklame? Oder soll ich es dir irgendwo eintätowieren?«

Theo blickte kurz zu Connor, hob dann aber nur leichthin die Schultern. »Ich hab kapiert, dass ihr zusammen seid. Na und? Ist doch kein Problem, oder? Ihr Totenbändiger treibt es doch mit jedem. Männlich, weiblich, inter, trans, fluid und was immer da draußen noch so rumläuft – ist euch doch alles egal. Also könnten wir zwei ja auch mal …«

Er bedachte sie mit einem Lächeln, das er vermutlich für unwiderstehlich hielt, und machte ein paar eindeutige Hüftbewegungen.

Sky rollte die Augen und fragte sich, warum ausgerechnet sie diesen widerlichen Trottel auf den Pfad der Erkenntnis führen musste. Sie stiefelte zu seinem Schreibtisch, kickte seinen Papierkorb zur Seite und setzte sich halbschräg auf die Tischplatte.

»Okay, erst mal: Bravo, Theo, gut gemacht.« Sie deutete auf seinen Computer. »Du hast erfolgreich gegoogelt, dass Totenbändiger pansexuell sind.«

Er grinste breit. »Oh, yeah. Und das klingt echt heiß.« Lüsternd ließ er seinen Blick über ihren Körper wandern.

»Nur leider hast du dabei überhaupt nichts verstanden.«

»Hä?«

Sie änderte ihren Tonfall, als würde sie mit einem unterbelichteten Dreijährigen sprechen. »Ja, Gender ist uns völlig egal und ja, das bedeutet, wir können prinzipiell mit jedem Spaß haben. Und das haben etliche Totenbändiger auch. Genauso wie manch andere Queers oder Heteros stehen einige von uns auf unverbindlichen Sex. Aber, Überraschung! Manche von uns ticken auch völlig anders. Die stehen nicht auf schnellen Sex, sondern auf feste Beziehungen. Ich zum Beispiel. Welche Genitalien ein Mensch hat, ist mir schnuppe, aber ich steh total auf Treue und Verlässlichkeit. Und ich verliebe mich in den Charakter, die Persönlichkeit und die Seele eines Menschen. Da steh ich voll drauf und wenn die passen, dann macht mich das so richtig an. Und weißt du, das ist genau der Grund, warum aus uns beiden selbst dann nichts werden würde, wenn du der letzte Mensch auf Erden wärst. Dein Charakter ist nämlich unterirdisch, deine Persönlichkeit widerlich und deine Seele hab ich noch nie gesehen.« Sie bohrte ihren Blick in seinen. »Message jetzt angekommen?«

Wutschnaubend sprang Theo von seinem Stuhl auf. »Bitch!«

»Gut, das nehme ich mal als ein Ja.« Sky rutschte vom Schreibtisch und stieß ihm ihren Finger gegen die Brust. »Und spar dir in Zukunft deine dämlichen Sprüche, klar?«

Damit ließ sie ihn stehen, ging zu Connor und schnappte sich dessen Hand.

Als sie gemeinsam die Treppen hinaufstiegen, rief Theo ihnen hasserfüllt hinterher: »Connor, dir ist schon klar, dass dieses Miststück dich irgendwann in den Wind schießt, weil du alleine ihr nie ausreichen wirst?«

Mitleidig schüttelte Connor den Kopf. »Der schnallt es wirklich nicht.«

Sky drückte seine Hand. »Solange die wichtigen Leute es schnallen, ist mir scheißegal, was so ein Vollidiot wie Theo denkt.«

Sie ignorierten ihn entsprechend und stiegen weiter die Treppe hinauf.

Gabriel sah den beiden hinterher und schlenderte dann zu Theos Schreibtisch.

»Hey, Horny. Da du ja bei Sky offensichtlich nicht landen kannst, wie wäre es denn nach der Schicht mit uns beiden?« Er zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Ich bin für unverbindlichen Spaß gerne mal zu haben und ich könnte Dinge mit dir anstellen, von denen du bisher nicht mal in deinen kühnsten Träumen fantasiert hast.« Er ließ seinen Blick über Theos Körper wandern und leckte sich provozierend über die Lippen. »Na? Wie wär’s?«

Angewidert wich Theo vor ihm zurück. »Spinnst du? Mann, ich steh nicht auf Kerle! Also guck weg und hör auf, mich so anzugraben. Das ist ekelhaft!«

Schlagartig änderte sich Gabriels Gesichtsausdruck. »Ach? Du findest es ekelhaft, wenn dich jemand mit widerlichen Blicken auszieht?« Schneidende Kälte lag in seiner Stimme. »Na, dann weißt du ja jetzt, wie Sky sich gerade gefühlt hat. Oder jede andere Frau, bei der du deine abartige Anmachtour ablässt.«

»Du bist ein verdammtes Arschloch«, fauchte Theo.

»Au contraire, das Arschloch bist du. Und wenn du meine Schwester noch einmal blöd anmachst oder auch nur ansatzweise schräg in ihre Richtung guckst, mach ich dich fertig, klar?«

Theo hob eine Augenbraue. »Ernsthaft, du willst mir drohen?«

»Auf jeden Fall.«

Sofort kehrte Theos Selbstsicherheit zurück und ein niederträchtiges Lächeln umspielte seine Lippen. »Du weißt, dass ich dich dann jetzt erschießen kann, du Freak. Jeder darf einen von deiner Sorte töten, wenn er sich von ihm bedroht fühlt. Völlig straffrei.«

Gabriel erwiderte das Lächeln unbeeindruckt. »Natürlich. Aber dir ist schon klar, dass ich zum Geist werde, wenn du mich tötest, ja? Bist du schon mal gegen den Geist eines Totenbändigers angetreten? Ach nein, warte. Hast du überhaupt schon mal gegen einen Geist gekämpft? Wahrscheinlich nicht, oder? Wird schließlich seine Gründe haben, warum du Sesselfurzer den sicheren Innendienst gewählt hast.« Er bedachte Theo mit einem letzten abschätzigen Blick, dann stand er vom Schreibtisch auf und lief zur Treppe, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Schöne Schicht noch, Theo.«

»Leck mich!«

»Nein, ich denke nicht. Ich stehe zwar auf unverbindlichen Sex, aber das heißt noch lange nicht, dass ich nicht wählerisch bin.«

Gabriel stieg die Stufen in den ersten Stock hinauf und öffnete die Tür zu dem Büro, das er sich mit Sky und Connor teilte. Vier Schreibtische standen sich jeweils zu zweit gegenüber. Außerdem gab es ein paar Aktenschränke und ein Sideboard mit Kaffeemaschine, Wasserkocher und einem kleinen Kühlschrank. Einen der Arbeitsbereiche teilten sich Connor und Sky, über die anderen beiden Tische hatte Gabriel sich großzügig ausgebreitet. Angeblich sollten sie irgendwann eine Verstärkung ins Team bekommen, doch bisher ließ die auf sich warten. Die Begeisterung von Absolventen der Polizeiakademie, sich den Einheiten zur Bekämpfung von paranormalen Bedrohungen anzuschließen, hielt sich in Grenzen. Kaum einer meldete sich freiwillig für den Dienst bei den Spuk Squads. Nicht einmal die Aussicht, schon nach einem Jahr auf den Rang eines Sergeants befördert zu werden, konnte locken. Der Job der Spuks galt als gefährlich, ständige Nachtdienste machten ihn unattraktiv und es gab immer noch zu viele Menschen, denen die Vorstellung nicht gefiel, eng mit Totenbändigern zusammenarbeiten zu müssen.

»Wow, nicht mal Zeit für einen Kaffee?«, fragte Gabriel mit einem bedauernden Seufzen, als er sah, dass Sky und Connor die Gürtel mit ihrer Ausrüstung umschnallten. Die bestand im Wesentlichen aus ihren Dienstwaffen, einem extra Magazin, Taser, Handschellen und einer speziellen Taschenlampe, die nicht nur auf gewöhnliche Weise leuchtete. Man konnte sie zusätzlich umschalten auf Magnesiumlicht, das Geister vertrieb, was ein nicht zu verachtender Vorteil war, wenn man von mehreren Seelenlosen gleichzeitig angegriffen wurde.

Spuks – wie die Polizisten der Spuk Squad genannt wurden – trugen zudem noch eine Spezialwaffe: eine Auraglue. Diese Pistolen waren den normalen Dienstwaffen recht ähnlich, enthielten aber keine Kugeln, sondern eine Kartusche mit einem flüssigen Gemisch aus Eisen- und Silberpartikeln, Salz, Zitronensäure und Extrakten verschiedener Bannkräuter.

Gabriel hatte keine Ahnung, wie die Wissenschaftler es hinbekommen hatten, doch schoss man Auraglue auf einen Geist, heftete sich die Substanz mit feinen Tröpfchen an die Aura des Seelenlosen, schwächte ihn und machte ihn im Idealfall bewegungsunfähig oder zumindest langsamer. Das hing allerdings stark von der Stärke des Geistes ab und war nur ein Nachteil von Auraglue. Ein weiterer waren die extrem hohen Herstellungskosten – und jede Kartusche reichte nur für einen Schuss. Außerdem ätzte das Zeug Löcher in Kleidung und Haut, wenn man damit in Berührung kam.

Deshalb tauschte Sky auch ihre Cordjacke gegen eine alte aus Leder. Ihre Kollegen aus anderen Einheiten trugen zumeist entweder Uniformen oder Anzüge. Spuks durften in einem angemessenen Rahmen tragen, was sie wollten.

»Nein, keine Zeit für einen Kaffee. Wir wurden angefordert.« Connor zog seine Jeansjacke aus, um seine Schutzweste darunter anzuziehen. Da er kein Totenbändiger war, musste er sich vor Geisterberührungen schützen.

Totenbändiger konnten sich gegen solche Übergriffe wehren. Griff ein Geist nach ihrer Lebensenergie, griffen die Totenbändiger nach der Todesenergie des Seelenlosen. Es war wie ein Tauziehen, das der Stärkere gewann. War es der Totenbändiger, vernichtete er den Geist. War es der Geist, starb der Totenbändiger. Griff ein Geist nach der Lebensenergie eines Menschen ohne Totenbändigerkräfte, hatte derjenige dem Seelenlosen nichts entgegenzusetzen. Silberschmuck half, um sich vor Angriffen zu schützen. Doch da Silber neben Eisen paranormale Wesen am effektivsten auf Abstand hielt, zählte es zu den wertvollsten Materialien der Welt, und nur die wirklich Reichen konnten sich diesen Schutz leisten. Bei der Polizei gab es für Spuks, die keine Totenbändiger waren, Schutzwesten mit eingewebten Silberfäden, die sie auf ihren Einsätzen vor Geisterangriffen schützen sollten.

Thaddeus erschien in der Verbindungstür, die vom Büro seiner Truppe in sein eigenes führte. »Wo zum Henker warst du so lange?«, fragte er, als er sah, dass Gabriel ihn endlich mit seiner Anwesenheit beehrte.

»Sorry, ich musste Theo noch kurz die Welt erklären.« Gabriel trat zu seinen Schreibtischen und holte seinen Ausrüstungsgürtel sowie einen Rucksack mit Silberboxen aus dem Safe.

Schnaubend schüttelte Thad den Kopf. »Dann sprich nächstes Mal schneller und benutz kürzere Sätze. Wir haben einen Tatort. Die Kolleginnen der Mordkommission aus Islington haben uns angefordert. Also schnapp dir deine Ausrüstung und dann avanti. Da draußen gibt es drei frische Geister.«

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