Читать книгу §4253 - Nathalie D. Plume - Страница 11

7. High York, USA

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Es war ein Scheißtag! Philippe konnte sich auch gar nicht erklären, wie ein eigentlich so schöner Tag so rasant schnell so aus dem Ruder laufen konnte. Vielleicht lag es an dem Anruf, den er so früh morgens erhalten hatte, obwohl er doch seinen freien Tag hatte. Vielleicht lag es an den Worten, die sein Chef ins Telefon gebrüllt hatte, ohne einmal Luft zu holen, oder es lag an dem Kaffee, der trotz des sechsten Stücks Zucker immer noch schmeckte, als wäre er zum dritten Mal in der Mikrowelle erhitzt worden. Vielleicht lag es auch an den ganzen anderen Dingen, die an diesem Tag folgten, dass Philippe sich abends auf die kleine Stufe vor dem Department setzte, in den wolkenlosen Nachthimmel starrte und sich wünschte einfach im Bett liegen geblieben zu sein.


Philippe wacht langsam auf, es fällt ihm schwer seine Augen zu öffnen, sein Mund ist trocken und klebrig, mehrmals blinzelt er, um seine Augen zum Aufwachen zu überreden. Immer noch halb in dem Traum, in dem er vor wenigen Minuten noch gesteckt hat, versunken, richtet er sich schwerfällig aus dem Bett auf. Es dauert, bis er begreift, was ihn geweckt hat. Das kleine schwarze Gerät, das neben seiner Matratze auf einem kleinen Hocker liegt, blinkt heftig, wechselt dabei völlig übermotiviert die Farbe und schrillt so laut, dass Philippes Ohren sich wie betäubt anfühlen. Immer noch schlaftrunken greift er nach dem kleinen ellipsenförmigen Gegenstand. 4:12 a.m. steht auf dem Display. Während er genervt das Gerät zum Ohr zieht, nimmt er den Anruf an, der sich zuvor so laut angekündigt hat. Da sein Mund immer noch der Trockenheit erlegen ist, bekommt er nur ein knappes „Mmh“ heraus. „Lafin! Herrgott! Wie lange muss ich eigentlich klingeln lassen, bis Sie sich mal bereit erklären den Anruf auch anzunehmen?“ Die Stimme des Captains schrillt wie eine feine Nadel durch den Hörer und bohrt sich schmerzhaft in seinen Gehörgang. Bevor Philippe, immer noch im Dämmerzustand, antworten kann, bohrt die Nadel sich bereits weiter durch sein schmerzendes Ohr. „Na ja, ist ja jetzt auch nebensächlich, ich weiß, dass Sie sich für heute eigentlich freigenommen hatten, letztendlich ist es aber so, dass ich Sie hier brauche, am besten umgehend. Hier bricht gerade ein Sturm los und ich brauche jemanden, der bereit ist sich diesem Sturm zu stellen. Es ist mir egal, wie Sie es machen, ob Sie hierher fliegen, schwimmen oder fahren, aber ich möchte Sie in einer Stunde in Uniform im Department sehen!“ Und bevor Philippe überhaupt begreift, was er da gerade gehört hat, ist nur noch ein Tuten in der Leitung. Er wirf das Telefon, das er ja bereits eh schon mehrere Zentimeter von seinem Ohr weggehalten hat, irgendwo auf den Hocker neben seiner Matratze. Erschöpft von der Lautstärke, der Uhrzeit und seinem immer noch trockenen Mund lässt er sich zurück in die Kissen fallen. Mit einer ruckartigen Bewegung zieht er sich die Decke über den Kopf. – Das war ein Traum Philippe, ganz sicher, das war nur ein ganz beschissener Albtraum, den du dir eingebildet hast, trotzdem will ich aber mal wissen … – Vorsichtig schiebt er einen Arm unter der dünnen Decke hervor und tastet erneut nach dem Telefon auf dem Hocker. Unter der Decke betrachtet er ein zweites Mal das Display. 4:17 a.m. Mit dem Daumen scrollt er zur Anrufliste. Letzter Anruf 4:12 a.m., Captain, steht da. Stöhnend pfeffert er das Telefon aus dem Bett und schält sich aus der wohlig warmen Decke, die ihn immer noch umgibt. Genervt richtet er sich von der Matratze auf, streckt sich, lässt seine Gelenke knacken und atmet mit nach oben gerichteten Armen tief ein. Sein Blick fliegt an die hohe Decke des alten Lofts, in dem er schon seit einer Ewigkeit wohnt. Er hatte es gekauft, als diese alten Fabrikhallen noch in den schlechten Teil der Stadt gehörten und sie als Schandfleck bezeichnet worden waren. Oft hatte Philippe sich gegen einen Abriss wehren müssen und wurde um unmenschliche Uhrzeiten von Räumungsdiensten aus dem Schlaf geklingelt. Doch Philippe konnte sich immer durchsetzen, das war eine Stärke, die er schon als Teenager besessen hatte. Während also neben ihm die alten Fabrikhallen weggerissen wurden und die Abrissbirnen und Bagger tage- und nächtelang Lärm verbreiteten, blieb er standhaft und schützte die letzte alte Fabrikhalle mit allem, was er bekommen konnte. Irgendwann, nach zahlreichen Petitionen und geplanten Demonstrationen, schaffte er es die alte Fabrik unter Denkmalschutz stellen zu lassen.

Philippe verließ das Fabrikgebäude nicht, auch nicht als die Polizei kam, um die Gegend zu evakuieren, weil sie beim Bau des neuen Parks gegenüber ein illegales Trisalpetersäureglyzerinester-Lager fanden. Philippe blockte auch damals ab und blieb auf eigene Gefahr. Mit der Zeit folgten dem neuen Park neue Häuserblöcke, die auf dem alten Fabrikgrund gebaut wurden, und die „letzte überlebende Fabrikhalle der Stadt“, wie es die Presse gerne nannte, wurde kernsaniert und zu neuen, hippen Loftwohnungen umgewandelt. Heute leben hier Modeblogger, Fernsehreporter, Zahnärzte und alle die, die es sich leisten konnten, in dem nun angesagtesten Viertel der Stadt eines der beliebten Lofts zu mieten oder sogar zu kaufen. Viele Male wurden Philippe schon horrende Summen geboten und auch seine Freunde rieten ihm immer wieder zum Verkauf seines über die Jahre um das 400-Fache im Preis gestiegenen Lofts. Philippe ist es aber egal, wie viel Geld er haben könnte, Geld ist ihm nicht wichtig, ist es ihm nie gewesen. Solange er Brot und Butter kaufen kann, reicht es ihm. Wenn er sich von der Matratze erhebt, um sich zu strecken und seine Muskeln zu dehnen, knarzen die alten Dielen, die das kleine Loft säumen, gerade so, als wollten sie ihn begrüßen. Das kann kein Geld der Welt ersetzen. Auch an diesem Morgen knarzen sie leise und beschwichtigend, als spürten sie die angespannte Stimmung, die sich auf ihnen breitgemacht hat. Nachdem er sich nicht mehr ganz so steif wie zuvor fühlt, tragen ihn seine Beine über die Dielen bis ins kleine Badezimmer. Hier ist der einzige Platz im Haus, an dem Philippe eine Tür hat, die er schließen kann. Meistens ist ihm aber nicht danach die schwere Eichentür hinter sich zuzuziehen, er fühlt sich in geschlossenen Räumen schnell eingesperrt, schnell gefangen, so, als würde da ein Gewicht auf seiner Brust sein, jedes Mal, wenn eine Tür hinter ihm geschlossen wird. Also lässt er auch an diesem Tag die Tür des Badezimmers offen. Er wäscht sich mit kaltem Wasser den Schlaf aus den Augen und nimmt einen großen Schluck aus dem kühlen, nach Chlor riechenden Nass, um seinen immer noch trockenen Mund zu besänftigen. Als er den Kopf vom Wasserhahn hebt und sich mit dem grauen Handtuch durchs Gesicht wischt, sieht ihm im Spiegel, der über dem Waschbecken mit einer Lederschnur befestigt ist, ein Mann entgegen. Das dunkelbraune, fast schwarze Haar ist von feinen grauen Härchen durchzogen, die sich an den Schläfen verdichten und immer mehr von dem einst braunen Haar verschlucken. Die Augen sehen trotz der leichten Falten, die sie umgeben, wachsam aus, so als gehörten sie einem Kind, das noch nicht genug gesehen hat und immer noch wissbegierig Neues aufsaugt wie ein durstiges Tier das Wasser. Die schmale Nase, die über den ebenfalls schmalen Lippen thront und hie und da eine mal neue, mal ältere Narbe zeigt, und der Mund, der trotz der Schmalheit sympathisch wirkt. Außerdem sind da noch die kantigen Wangenknochen, die Philippes Gesicht einrahmen und es manchmal fast so aussehen lassen, als würden sie es zusammenhalten wollen.

Er wendet sich von dem Spiegelbild ab, das ihm wie jeden Morgen entgegenblickt, und wandelt durch die offene Holztür, über die knarrenden Dielen zum Kleiderschrank, der von einem Vorhang verdeckt in einer der Ecken platziert ist. Sein Weg führt ihn an dem Hundekorb vorbei, der neben der Matratze auf einem kleinen Holzpodest liegt. Die dürre Windhunddame hebt verschlafen ihren Kopf. Mit schiefen Lefzen blinzelt sie ihm entgegen, so, als wundere sie sich, was ihr Herr so früh am Morgen auf den Beinen macht. Sanft streicht Philippe ihr über den zierlichen Kopf und flüstert ihr besänftigend etwas ins Ohr. Beruhigt durch seine Stimme schiebt sie ihren Kopf wieder unter ihre Vorderläufe und atmet einmal kräftig aus, erst jetzt kann sie sich wieder entspannen, jetzt, wo sie weiß, dass alles okay ist. Vorsichtig zieht Philippe die kleine Hundedecke über den dünnen Hund und tritt vom Hundekorb weg ans Fenster. Immer noch müde lässt er seine Augen über die noch schlafende Stadt streifen, die sich vor dem großen, hohen Fenster erstreckt. In der Ferne kriecht langsam das Licht des Morgens unter dem Smog der Straßen hervor. Bis hier oben auf die kleine Anhöhe, auf der Philippes und die vielen anderen Wohnungen thronen, reicht der Smog nicht, es wirkt fast so, als traue er sich nicht weiter nach oben, als wolle er im Schutz der Hochhäuser eingebettet bleiben.

Mit den Augen immer noch aus dem Fenster gerichtet dreht sich Philippe zu dem Vorhang um, der den kleinen Kleiderschrank verbirgt und so einen Raum ohne Tür schafft. Er schüttelt seinen Kopf, um seinen starren, müden Blick vom Fenster abwenden zu können, und greift nach der Uniform, die auf einem der Bügel an der alleinstehenden Kleiderstange hängt. Mit gewohnter Routine steift er sich die Hose über die Boxershorts und befestigt sie mit dem schwarzen, schweren Ledergürtel, der immer an der Hose hängt und seinen Platz nur für die Reinigung verlässt. Über die dunkelblaue, fast schwarze Hose zieht er das steife Hemd, mit den Schulterklappen, auf denen das Abzeichen mit dem einen goldenen Balken zu sehen ist, der seinen Rang markiert, darüber legt er die schwarze Krawatte. Seine Hände formen den Knoten trotz des wenigen Lichtes mühelos und legen anschließend den steifen Kragen darüber. Die schwarzen, langen Socken nimmt er aus einer kleinen Kommode, die unter einem modernen Bilderrahmen, der mit einem Nagel an der Backsteinmauer befestigt wurde und nicht mehr als einen schwarzen Fleck zeigt, steht. Die Socken stopft er sich in die tiefen Hosentaschen und läuft immer noch barfuß in die Küche, die gegenüber dem Schrank liegt und das andere Ende des Lofts markiert. Mit der einen Hand greift er zu der großen silbernen Kühlschranktür und mit der anderen zur Armbanduhr, die auf der Kücheninsel in einer Schale liegt. Die kühle Luft des Kühlschranks schlägt ihm entgegen und jagt ihm Gänsehaut über die Arme. Mit einem Knie hält er die schwere Tür offen und befestigt mit geübten Fingern die Uhr an seinem linken Handgelenk. Das flache Display leuchtet zur Bestätigung einmal kurz auf und nachdem es sich der Raumhelligkeit angepasst hat, springt Philippe der Ziffernblock entgegen: 4:30 a.m. Sich das Frühstück aus dem Kopf schlagend, schiebt er die Kühlschranktür mit dem Knie zu und greift stattdessen zu der Hundefutterdose, die neben der Kaffeemaschine steht. Er soll nicht als Einziger ohne eine ordentliche Mahlzeit enden. Hastig füllt er frisches Wasser in den einen und das Trockenfutter in den anderen Napf und hechtet zur Eingangstür. Schnell streift er die Socken aus der Hosentasche über und greift gestresst hinter die Tür, die seine wenigen Schuhe verbirgt. Zum Vorschein kommen die schweren schwarzen Stiefel, die zur Uniform noch fehlen. Kurz hält er inne und beäugt sie sorgfältig auf Dreck und Risse, dann schnürt er sie aufmerksam um seine Füße. Ein schneller Blick auf die Armbanduhr: 4:35 a.m. Wenn er es noch durch den dichten Verkehr pünktlich zur Arbeit schaffen will, muss er jetzt los. Seine rechte Hand, die er angespannt und gestresst durch den Zeitdruck zur Faust geformt nach unten hält, wird auf einmal kalt und nass. Erschrocken zieht er sie ruckartig nach oben und stößt dabei die spitze Hundenase beiseite, die zuvor sanft gegen die Hand gedrückt wurde. Die Windhunddame fiepst empört und springt verwundert zur Seite. „Oh Rina, das wollte ich nicht!“ Mit schlechtem Gewissen kniet Philippe sich auf den alten Dielenboden zu der Hündin herunter, langsam hält er dem immer noch erschrockenen Tier seine Hand hin und säuselt beschwichtigend. Dann schlingt er seine Arme um ihren dünnen Körper und klopft ihr im Aufstehen liebevoll auf die Seite, als Ausgleich leckt sie ihm den Handrücken und verschwindet anschließend wieder im Dämmerlicht des Lofts. Immer noch von schlechtem Gewissen geplagt, schnappt Philippe sich Auto- und Haustürschlüssel und schiebt die wuchtige Industrietür auf. Zur Begrüßung schlägt ihm die feuchte, warme Luft des Treppenhauses entgegen, die ihm die Entscheidung gegen den dicken Mantel schnell abnimmt.

Als er endlich, leicht außer Atem, auf dem Gehweg vor der großen Halle steht und sich nach seinem Auto umschaut, lässt ihn das Gefühl nicht los, heute nicht pünktlich im Department zu sein. Genervt von dem Gedanken findet er den alten Jeep gegenüber einem Baum, der trotz Sommer keine Blätter trägt und dessen kahle Äste abgebrochen auf dem Dach des Jeeps liegen und den Bürgersteig säumen. Beim Überqueren der Straße fällt seine Aufmerksamkeit auf eine alte Frau, die einen Einkaufswagen befüllt mit Decken, Dosen, einem kleinen Kofferradio und allerlei anderem Gerümpel vor sich herschiebt. Ihre Kleider sehen abgenutzt, aber gepflegt aus, die Löcher der Hose sind hie und da mit Stoffstücken überdeckt und an manchen Stellen von Fäden geflickt worden. Das alte, über die Zeit grau gewordene Hemd ist sorgfältig in die Hose gesteckt und die vielen Flecken mit Blumen und Herzen übermalt. Die Schuhe sind abgenutzt und rissig, trotzdem sorgfältig abgebürstet. Ihre langen, grauen Haare hat sie mit einem alten Bleistift aus dem Gesicht gesteckt und um ihren Hals trägt sie eine Kette aus alten Holzperlen, die als Highlight einen alten Bierdeckel als Brosche zeigt. Man sieht ihr an, dass sie viele Nächte an schlechten Orten verbracht hat und an den tiefen Falten unter Augen und Mund sieht man die harten Zeiten, die sie durchleben musste. Dennoch unterscheidet sie sich, in ihrer gepflegten Art, von den anderen Obdachlosen, die um die Sommerzeit gerne in dem kleinen Park gegenüber Philippes Wohnung unter einem großen Baum schlafen.

Philippe unterbricht seine schnellen Schritte und lenkt sie in Richtung der alten Dame mit ihrem Einkaufswagen. Verlegen grinsend hält er ihr den Haustürschlüssel mit dem Messinganhänger hin. Die alte Frau schlägt ihm kopfschüttelnd gegen die Schulter und schiebt den quietschenden Wagen weiter über die Straße. Philippe hechtet ihr mit schnellen Schritten hinterher und hilft den schweren Wagen auf der anderen Seite über den Bordstein zu heben. „Irma, bitte, ich brauche dich.“ Wieder versucht er ein verlegenes Grinsen. „Weißt du was, Philippe?“, ohne stehen zu bleiben, geht sie weiter, „ich glaube, du musst dein Leben mal selbst in den Griff bekommen, außerdem, hast du mal auf die Uhr gesehen?“ Erschrocken fliegen Philippes Augen auf sein Handgelenk: 4:42 a.m. „Ja, wo du das gerade ansprichst, ich habe kaum Zeit und bin eigentlich schon viel zu spät dran.“ Die alte Frau hebt ihren Zeigefinger und legt ihn über Philippes Lippen, dann fährt sie über die Buchstaben, die auf der rechten Ärmelseite eingraviert sind und ihn als Polizisten auszeichnen. „Philippe, du bist ein guter Mensch, aber du bist wirklich zu jung, um immer so viel Stress zu haben. Ein Mann sollte Zeit für seinen Hund haben und auch für andere Dinge, die wichtiger als Hunde sind.“ Besorgt streift sie ihm über die Wange und nimmt vorsichtig den Schlüssel aus Philippes Hand. „Außerdem sollte ich mich nicht so oft mit der Polizei sehen lassen.“ Sie lacht, sieht sich verstohlen um und beugt sich über den Wagen näher zu ihm heran. „Nachher denkt noch jemand ich sei ein schlimmer Finger.“ Mit diesen Worten wendet sie sich von ihm ab und schiebt ihren Wagen weiter den Gehweg nach oben. „Danke Irma, du weißt, wie dankbar ich dir dafür bin und Rina hat auch schon ihr Futter bekommen“, ruft er ihr nach, bevor Irma noch einmal ihre Hand hebt und ohne sich umzudrehen hinter einer Häuserecke verschwindet.


Der Verkehr ist wie immer unausweichlich. Kilometerweit schlängelt sich Auto für Auto durch die vollgestopften Straßen. Vor Philippes Augen fallen die Minuten wie in einer Klappzahlenuhr schneller und schneller und er kann nichts dagegen tun, um sie aufzuhalten. In Gedanken fährt seine Hand mehrmals zum Handschuhfach, in dem das mobile Blaulicht auf seinen nächsten Einsatz wartet, aber die Vernunft hält ihn immer wieder davon ab. – Nein Philippe, das ist kein Notfall, oder doch? – Immer wieder richten sich seine Augen auf die Armbanduhr. 4:50 a.m. 4:52 a.m. 4:53 a.m. 4:59 a.m. Ständig dieser nervige Verkehr, der rund um die Uhr, den ganzen Tag, die ganze Nacht, lärmend durch die engen Straßen zwischen den Häuserschluchten führt. Die Fenster der Autos sind alle geschlossen, um den dicken Abgaswolken zu entgehen. Schleppend rollen sie Reifen für Reifen, Stoßstange an Stoßstange weiter. Egal wie lange die Wartezeit ist, egal wie lange eine Rotphase dauert, die Motoren dröhnen weiter und die vielen Menschen, die alleine und gelangweilt hinter den Lenkrädern eingeklemmt sitzen, genießen mit ausdruckslosen Gesichtern die Klimaanlagen, die sie die Hitze der Luft vergessen lassen. Die wenigen, die ihren Motor abstellen, die es ohne Klimaanlage und ohne gefilterte Luft wagen einzuatmen, die mit schweißnasser Stirn abwägen doch einmal das Fenster herunterzufahren, weil sie für einen kurzen Moment vergessen, dass durch heruntergefahrene Fenster schon lange keine kühle, frische Luft mehr hereindringt, sondern nur dicke Wolken von monatealtem Smog und Abgasen. Diejenigen, die das wagen, werden von lauten Hupkonzerten begleitet, weil sie es versäumt haben ihr Auto rechtzeitig zu starten, weil sie versäumt haben den Zündschlüssel rechtzeitig zu drehen und nicht schon vor der Gelbphase nervös loszurollen.

Auch Philippe gehört zu den Verkehrsteilnehmern, die ihren Wagen abstellen, sobald das Auto vor ihm mit blinkenden Bremslichtern zum Halten kommt. Er gehört zu denen, an denen man sich vorbeidrängelt, um sich vor sie zu setzen, sobald der Sicherheitsabstand zu groß wird, sobald die Lücke nur groß genug für das eigene Auto ist. Philippe hasst das Autofahren, er verflucht jede einzelne Sekunde davon, er hasst es, sich eine Maske aufziehen zu müssen, die die Luft filtert, bevor sie in seine Lunge dringt, weil er es nicht aushalten kann, in dem engen Jeep zu sitzen, ohne jedes einzelne Fenster aufzukurbeln. Er hält die Enge nicht aus, diesen entsetzlichen geschlossenen Raum, in den er sich fünf bis sechs Tage die Woche begeben muss, um zur Arbeit zu fahren. Nur wenn er die zierliche Hündin mal zum Arzt fahren muss, hält er die Fenster geschlossen, damit sie nicht den Abgasen ausgesetzt ist, nur dann kann er es, nur wenn er es wirklich muss, hält er es in dem engen Jeep mit geschlossenen Fenstern aus. Der alte Jeep besitzt zwar eine Klimaanlage, jedoch schaltet Philippe sie nie an, er versteht nicht, warum die Menschen sich zu teure Klimaanlagen in zu teure Autos bauen lassen, nur um sich für wenige Stunden ihres Tages falsche Temperaturen vorgaukeln zu lassen. Der Schock, den der Körper hat, jedes Mal, wenn er das klimatisierte Auto verlässt, war es Philippe wirklich nicht wert.

Wieder lugt er auf die Uhr: 5:10 a.m., in zwei Minuten muss er bei der Arbeit sein, wenn er es seinem Captain recht machen möchte. Seine Augen fliegen über die verstopften Straßenblöcke, die er noch abfahren muss, vor sechs Uhr würde er nie auf dem Department sein. Genervt schlägt er seinen Kopf ein paar Mal gegen das Lenkrad und verharrt so einige Sekunden, bevor er erneut zum Handschuhfach greift, dann aber doch den Kopf schüttelt und die Aufmerksamkeit zurück auf die Straße richtet. Vor ihn schiebt sich gerade ein Auto in den zu groß gewordenen Sicherheitsabstand, schulterzuckend wischt er sich mit dem Handrücken über die nasse Stirn, zupft die Maske über Mund und Nase wieder gerade, lässt den Blick in die Fahrerkabinen der anderen Autos schweifen und versucht entspannt zu bleiben. Neben ihm, in einem uralt aussehenden Fiat Punto, schaut ihm die Fahrerin geradewegs in die Augen. Für einen flüchtigen Moment treffen sich ihre Blicke, für diesen Bruchteil eines Augenblicks betrachtet er sie. Die kurzen blonden Haare, die sie in einem dünnen Zopf aus dem Gesicht geflochten hat, die eine Strähne, die ihr immer wieder ins Gesicht rutscht und die sie dann, mit einer hastigen Handbewegung, wieder hinter ihr Ohr sperrt, und die frisch aussehende Prellung über ihrer Schläfe, die selbst das Make-up nicht verbergen will. Auch ihre Fenster sind geschlossen, trotzdem kann Philippe den älteren Song hören, der laut aus dem Innenraum schallt: „Brighter than the Sun“ singt sie dabei lautstark mit und als ihr und Philippes Blick sich treffen, grinst sie beschämt und sieht zu Boden. Lachend fliegen ihre Augen zurück auf den Mann im Jeep und mit ausgestrecktem Zeigefinger deutet sie auf das dritte Auto, das sich vor Philippes Wagen schiebt. Philippe, der ihrem Finger mit den Augen gefolgt ist, zuckt erneut mit den Schultern und lacht ihr entgegen. Sie lächelt mitleidig zurück und schießt sich mit einer Fingerpistole eine unsichtbare Kugel in den Kopf. Mit heraushängender Zunge simuliert sie dabei den Tod durch ihren Finger. Ein lautes Lachen schallt durch den Jeep, die Maske über Mund und Nase verrutscht dabei, so dass auch die Frau im Fiat Philippes Lachen sehen kann. Kopfschüttelnd wirft sie ihm noch ein Augenzwinkern zu, bevor sie die freie Lücke vor dem Jeep mit ihrem Fiat füllt.


Um 5:56 a.m. stellt er den Jeep endlich in der dunklen Tiefgarage ab. Erschöpft zieht er sich die Maske vom Gesicht und hustet einige Male den Feinstaub aus, den der Filter nicht auffangen konnte. Schnell beugt er sich zum Beifahrersitz und kurbelt das Fenster nach oben. Nachdem er auch das Fahrerfenster geschlossen und sich vergewissert hat, dass er auch wirklich den Autoschlüssel aus dem Wagen in seine Tasche gesteckt hat, wirft er die Autotür zu. Während er auf seinem Handy die vielen E-Mails beantwortet, für die er am Morgen keine Zeit gefunden hat, läuft er durch das Grau der muffigen, nach Abgasen riechenden, aber immerhin kühlen Tiefgarage. Bevor er die Tiefgaragentür mit dem Fuß aufschiebt, wirft er noch einmal einen flüchtigen Blick auf die für diese Uhrzeit erstaunlich volle Tiefgarage und schlüpft dann, die dunklen Augen wieder auf sein Handy gerichtet, durch sie hindurch. Die steile Treppe durch das enge Treppenhaus spurtet er nach oben, um den schmalen, fensterlosen, engen Wänden möglichst schnell zu entkommen. Am Treppenabsatz angekommen, fliegt er hastig durch die Tür zu den Büros hindurch und kann gerade noch bremsen, bevor er seinem Chef in vollem Lauf in die Arme stürzt. „Lafin! Dass ich Sie heute nochmal hier antreffen darf“, grob packt ihn der Captain an den Schultern und schiebt ihn zurück auf den Abstand, den man zu seinem Chef einzuhalten hat, „haben Sie mal auf die Uhr geschaut?“ Ein Ziffernblatt wird ihm ins Gesicht gehalten. Philippe blinzelt, um seine Augen auf die ungewohnte Nähe, in der das Ziffernblatt schwebt, einzustellen. Es gelingt ihm nicht. „Oh! Und Lafin, kommen Sie mir jetzt nicht mit losen Ausreden wie dem Verkehr, das will ich mir jetzt gar nicht anhören, das Einzige, was ich nämlich sehe, ist Ihre Unfähigkeit es mir recht zu machen.“ Philippe schnappt einige Mal verlegen nach Luft, bevor er sich entschließt seinem Chef nur mit einem knappen Nicken Verständnis vorzugaukeln. „Sehr gut Lafin, immerhin wissen Sie, wann es sich zu schweigen lohnt! Hier sind Ihre Aufgabenbereiche.“ Zwei dicke Ordner fallen in Philippes Arme. „Sir, ich bitte um Entschuldigung für meine Unwissenheit, aber was ist denn überhaupt passiert?“ Der Captain hält mitten in seiner wilden Gestikulation inne, streicht sich über den vollen grauen Schnäuzer, räuspert sich, schiebt sich näher an Philippe heran und spricht etwas leiser, weniger gestikulierend, weiter. „Haben Sie den § 4253 noch im Kopf.“ Philippe wirkt verwirrt. „Sie meinen den unausführbaren Umweltparagrafen?“ Der Captain scheint erleichtert, nicht auf vollkommene Ahnungslosigkeit zu treffen. „Ja genau den. Leider hat sich herausgestellt, dass der gar nicht mal so undurchführbar ist, wie man sagt.“ Der volle Schnäuzer rückt noch ein wenig näher an sein Ohr und Philippe kann das Rasierwasser riechen, das sein Chef schon seit er ihn kennt benutzt. „Sie haben diesen Paragrafen nun verabschiedet. Zunächst wird nur der erste Absatz bekannt gemacht, aber glauben Sie mir Lafin, da kommt noch sehr viel mehr, da kommen Dinge, die wir nicht unter Kontrolle haben werden. In einer Kleinstadt in Deutschland hat es gestern Abend deswegen eine Massenschlägerei in der Spätschicht eines Autokonzerns gegeben. Lafin, es gab achtzehn Verletzte und sechs Tote, wovon vier verbrannt sind. Ich meine es ernst, ich brauche Sie hier. Was der erste Artikel ist und welche folgen werden, steht alles in den Unterlagen, aber bitte,“ sein Chef sieht sich verstohlen um, bevor er weiterspricht, „bitte behalten Sie die anderen Artikel erstmal für sich, diese Informationen sind nicht für alle Ohren hier bestimmt. Wenn die Öffentlichkeit zu früh davon erfährt, bricht eine Massenhysterie los, die keiner von uns aufzuhalten vermag.“ Mit diesen Worten wendet sich der Captain von Philippe ab und hastet in die Richtung, aus der er gekommen ist. Bevor er hinter seiner Bürotür verschwindet, ruft er dem immer noch verloren im Flur stehenden Philippe noch zu: „Ah und Lafin, vergessen Sie Ihre Waffe nicht, die werden Sie heute sicher brauchen!“ Dann zieht er die Milchglastür hinter sich ins Schloss und lässt Philippe mit den vielen Informationen zurück, die sich hinter den Deckeln der schweren Ordner verbergen.

Als Philippe die Ordner auf seinen schmalen Schreibtisch fallen lässt, kommt es ihm vor, als würde mit dem dumpfen Schlag, den die schwarzen Deckel beim Aufprall auf die glatte Oberfläche erzeugen, auch in seinem Kopf ein dumpfer Schlag gegen seine Schläfen drücken und so unheilvolle Informationen ankündigen, die besser hinter den dicken Pappdeckeln versteckt geblieben wären. Beim Herabbeugen, um die Papiere aufzuheben, die durch den Aufprall vom Tisch geweht worden sind und zu deren Abarbeitung er vor dem eigentlich geplanten freien Tag nicht mehr gekommen ist, tritt einer seiner Kollegen in das winzige Büro. Geübt schiebt er sich an den Aktenschränken vorbei, auf denen immer noch unsortierte Papiere und Beweisfotos darauf warten zu ihren passenden Akten sortiert zu werden, und bringt hie und da einen zu hoch gewordenen Turm zum Schwanken. Mit einem schelmischen Lächeln sieht er auf Philippe herab, der nun gerade auf allen Vieren krabbelnd dabei ist unter seinem Schreibtisch zu verschwinden, um auch noch das letzte Blatt an seine Stelle zurückzulegen. „Na, suchst du auf dem Boden nach deinem geraubten Urlaubstag?“ Erschrocken springt Philippe auf, funkelt seinen Kollegen wütend entgegen und schlägt das wiedergefundene Blatt mit solcher Wucht zurück auf den Schreibtisch, dass die zuvor zusammengeklauten Papiere wieder vom Tisch segeln, gerade so, als wollten sie vor der Brutalität fliehen, die sich so rasant über das winzige Büro ausgebreitet hat. Sein Kollege, der nicht mit dieser Reaktion gerechnet hat, zuckt erschrocken zusammen, schlägt die Fersen aneinander und verschränkt demütig die Arme hinter dem Rücken. Für einen Moment ist es ruhig, die beiden Männer schweigen, ohne einander in die Augen zu sehen. Dann nach schier endlosen unangenehmen Sekunden, die mit der Langsamkeit vergehen, die Philippe sich am Morgen gewünscht hätte, räuspert er sich, um seiner Stimme die Härte zu nehmen, und erhebt das Wort. „Dorian, ich habe heute echt eine ganze Menge Arbeit vor mir.“ Dabei stellt er die Fingerspitzen auf einen der Ordnerdeckel, so, als vermeide er einen zu engen Kontakt zu den Geheimnissen, die sich darunter verbergen. „Die beiden Ordner muss ich unbedingt und schnellstmöglich durcharbeiten, bevor ich heute irgendetwas anderes machen kann. Sie kommen vom Captain.“ Der rothaarige Mann, der eingeschüchtert im Raum steht, redet leise und sehr viel distanzierter und respektvoller als zuvor. „Wenn er dich extra reinholt, um Akten zu bearbeiten, scheint es ihm aber wirklich wichtig zu sein. Ich verstehe das auch, Philippe, aber du bist immer noch für uns zuständig und wir würden alle gerne wissen, was da draußen los ist und warum wir heute in aller Herrgottsfrühe im Department sein sollten.“ Auf den fragenden Ausdruck, den Philippe anscheinend als ungewollte Antwort entgegnet, hält ihm der Mann sein Funkgerät hin und dreht es am Regler lauter, damit Philippe den Sturm in voller Stärke hören kann, der sich in seinem Büro sofort ausbreitet und wütend, ohne eines der Blätter aufzuwirbeln, verbreitet.

Die Unglücksnachrichten reihen sich dicht an dicht aneinander, die Zentrale kommt kaum hinterher die vielen Streifenwagen an die Einsatzorte zu schicken und viele der Funkrufe, die von den Kollegen auf Streife zu hören sind, die Verstärkung bei Raubüberfällen, Bränden und Plünderungen brauchen, gehen in den vielen neuen Meldungen und Einsatzorten zumeist einfach unter. Philippes Augen sind zusammen mit denen seines Kollegen auf das Funkgerät gerichtet, wieder schweigen beide Männer, diesmal aus Entsetzen, und starren, von Meldung zu Meldung, von Funkspruch zu Funkspruch, besorgter auf das Funkgerät. Erst als Philippe es nicht mehr ertragen kann, schnappt er sich das Gerät, dreht es mit bebenden Fingern aus und beugt sich, ohne dabei ein Wort an Dorian zu richten, zu dem kleinen grauen Safe herunter. Flink tippt er den Code ein, lässt eine Hand in den Innenraum gleiten und greift respektvoll zu dem Gegenstand, der sich hinter den dicken Wänden versteckt hält. Das schwere Metall der Pistole ist kalt. Geübt lädt er eine Patrone nach der anderen in das leere Magazin und befestigt Holster und Waffe an seinem Gürtel, vergewissert sich noch einmal nach dem richtigen Halt und lässt dann erst die Schnalle über den kühlen Griff schnalzen. Anschließend sieht er zum ersten Mal an diesem Morgen in die hellbauen Augen seines Freundes. „Dorian, wir müssen einen Sturm aufhalten, die Bevölkerung hat den ersten Absatz erfahren und wer weiß, was uns da draußen heute erwartet. Die Ordner müssen warten.“ Nachdem Philippe das ausgesprochen hat, klopft er auf den Deckel der dicken Ordner, ganz so, als würde er den Geheimnissen dahinter den Kampf ansagen, bevor er mit dem noch immer verwunderten Dorian das staubige Büro verlässt.

§4253

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