Читать книгу §4253 - Nathalie D. Plume - Страница 7
3. Rügen, Deutschland
ОглавлениеLangsam und mit zittrigen Fingern entfaltet Felix den kleinen Papierball, der schwer wie Blei in seiner Hand liegt. Er macht es sorgfältig und langsam, darauf bedacht das kleine Papier nicht zu zerreißen. Es ist schwierig, weil seine Finger sich anfühlen, als hätte man Drähte in sie gebohrt, so schwerfällig bewegen sie sich. Allmählich kommt der Briefkopf zum Vorschein und dann folgt, immer schneller, der Rest der DIN-A4-Seite.
Sehr geehrte Damen und Herren des Autokonzerns Dukjon,
dies ist ein Rundbrief, der an alle Mitarbeiter und an die gesamte Führungsriege geschickt wird. Dieser Brief muss an alle Mitarbeiter weitergeleitet werden. Sollte Ihnen ein Kollege oder Mitarbeiter einfallen, der diesen Brief auf Grund von zum Beispiel Krankheit oder einer Geschäftsreise nicht bekommen kann, muss dieser umgehend an diesen weitergeleitet werden. Die folgenden Zeilen treffen umgehend ein und sind durch den neu zugelassenen § 4253 Absatz 1, der besagt, dass Verkehrsmittelkonzerne, die in jeglicher Weise schädliche Gase und/oder in der Natur nicht innerhalb von fünfzig Jahren abbaubare Teile enthalten und verbauen (hierbei ausgenommen sind wiederverwendbare Rohstoffe wie Metalle, Glas etc.), sofort und ohne Weiteres ihre Produktion einstellen müssen.
Da unser Konzern in den Verkehrsmittelbereich fällt und wir ebenfalls die von § 4253 verbotenen Güter herstellen, müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass unser Konzern Sie nicht mehr weiter anstellen kann und hiermit eine ab heute gültige und fristlose Kündigung ausspricht. Sie haben kein Recht auf Entschädigung, da Dukjon ab dem 03. Mai Insolvenz angemeldet hat. Alle weiteren Unterlagen werden Ihnen im Laufe der nächsten Wochen zukommen. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an die untenstehende Hotline, stellen Sie sich bitte auf einige Stunden Wartezeit ein, damit unsere Mitarbeiter Ihre Fragen auch zufriedenstellend beantworten können.
Mit freundlichen Grüßen
Walter Dukjon
Nachdem er die letzten Zeilen gelesen hat, streicht Felix mit dem Finger über die unten genannte Telefonnummer. Als er die Nummer in den kleinen Bildschirm tippt, schlägt sein Herz bis zum Hals. Jede Zahl, die im Display erscheint, klingt wie ein Schrei in seinen Ohren. Mit starrem Blick zieht er das bebende Telefon zum Ohr, als es gegen seine drahtigen Haare kommt, raschelt es drohend, so, als wollten sie ihn warnen, dass manche Wahrheiten besser nie an Licht kommen sollten. Ein Tuten, dann meldet sich eine piepsige Frauenstimme. „Willkommen im Servicecenter von Dukjon, wenn Sie eine Reklamation melden möchten, drücken Sie bitte die Eins, wenn Sie eine Beratung zu einem unserer Produkte möchten, drücken Sie bitte die zwei, wenn Sie Mitarbeiter unseres Konzerns sind, dann drücken Sie bitte die Drei.“ Vorsichtig wandert Felix’ Finger zu der kleinen Drei, die hinten auf dem kleinen Gerät in seiner Hand ist. Wieder ein Tuten, die piepsige Frauenstimme erklingt erneut. „Vielen Dank, dass Sie sich bei uns gemeldet haben, leider sind bereits alle verfügbaren Mitarbeiter im Gespräch, wenn Sie die Wartezeit von“, eine Computerstimme ertönt, „32 Stunden“, wieder die Frauenstimme, „nicht in Kauf nehmen wollen, dann rufen Sie doch gerne zu einem späteren Zeitpunkt wieder an, wir helfen gerne.“ Wie erstarrt lässt Felix den Hörer sinken. Es dauert einen Moment, bis er realisiert, was da gerade passiert ist. Im Umdrehen gleitet ihm der Hörer aus der Hand und landet mit einem unsanften Klirren auf den Fliesen, doch davon bekommt er nichts mehr mit, er wandelt die Treppen hinunter, ohne sie wirklich zu registrieren, denn diese Treppen würde er auch mit verbundenen Augen hinunterlaufen können. Wie oft war er sie schon rauf- und runtergegangen, mal mit einem guten, mal mit einem schlechten Gefühl. Seit Herr Bikkens, sein alter Chef, versetzt worden war und sein Arbeitskollege und Freund die Stelle übernommen hat, geht er sie mit sehr viel weniger Unwohlsein nach oben. Er mochte Herr Bikkens nicht und er ihn bestimmt auch nicht, da ist er sich ganz sicher. Zwar wunderte es Felix damals, dass sein Chef versetzt worden war, weil er trotz alledem einen guten Job machte, aber seit vor zwei Jahren Paul den Posten als Werksleiter übernahm, sind die Dinge sehr viel entspannter geworden. Viele hatten endlich die lang ersehnte Gehaltserhöhung bekommen und neben dem Mitarbeiter des Monats gibt es jetzt auch den zweit- und drittbesten Mitarbeiter des Monats. Nicht dass so eine Kleinigkeit einen Unterschied macht, viele sagen sogar, dass es den Stellenwert des besten Mitarbeiters verringern würde, aber Felix, der zweitbeste Mitarbeiter des Monats, trägt diese Ehre mit Stolz.
Der Bodenbelag wandelt sich von Fliese in Beton und ohne einen Blick nach unten zu wagen, erkennt er, dass das Ende der Treppe erreicht ist. Jetzt, wo er in der großen Halle steht und die Geräusche der riesigen Maschinen, das Surren der Bohrmaschinen und Schrauber, das zischelnde, fast merkwürdige, Geräusch der Lackierer und das Klappern der kleinen Hilfsroboter hört, die eifrig von einem Teil der Halle in die nächste fahren, um Schrauben, Bolzen und hie und da mal eine Wasserflasche zu holen, löst er sich langsam aus der Trance, die ihn seit dem Scheppern der Tür befallen hat. Endlich schalten sich auch seine Augen zurück in Betriebsbereitschaft, sein Kopf wandert nach oben und er sieht hoch zu den weit oben gelegenen Schrägfenstern, die je nach Tageszeit einen Sonnenstrahl hereinlassen oder im Sommer, wenn wieder einmal die Klimaanlage versagt, einen kühlenden Luftzug nach unten und über die Schienen und Tische hinweg zu den Arbeitern bringen. Er zieht einen kräftigen Zug der Luft in seine Lungen, fast so, als könnte er den Luftzug wirklich spüren, doch anstatt die von ihm erhoffte kühle Luft folgt nur der chemische Geruch der Lackierer und der dicken Gummireifen. Hustend und verzweifelt versuchend die dicke Luft aus seinen Lungen zu drücken, macht er einen Schritt nach vorne, nur um in letzter Sekunde einem wie wild hupenden Gabelstapler auszuweichen, der wenige Meter weiter strauchelnd zu stehen kommt. Der Fahrer beugt sich wütend aus dem Fenster und pöbelt Felix etwas Unverständliches zu, was wie „Pass doch auf du herumwatschelnder Vollidiot!“ klingt, dann steigt er wieder in die große Maschine und braust davon. Seltsam, wie normal sich alle verhalten, denkt Felix, als er sich die schmerzende Seite reibt. Während er gerade beginnt weiter die Halle zu durchqueren, rollt ihm einer der kleinen Hilfsroboter klappernd hinterher. Felix stoppt und dreht sich zu ihm um, doch leider begreift der kleine Kerl das zu spät und rammt unsanft gegen Felix’ Bein. „Oh, entschuldigen Sie mich Herr Felix Mending, so etwas kann bestimmt nicht meine Absicht gewesen sein. Ich wollte Herrn Felix Mending nur fragen, ob er den Gabelstaplerfahrer mit der Kennnummer 4839, aufgrund der Verletzung seiner Würde, gerne melden möchte.“ Auf dem kleinen Display, das er im Greifer träft, erscheint ein dickes rotes Fragezeichen, das im Sekundentakt seine Größe ändert und so von sehr klein zu sehr groß und wieder zurückspringt. Felix starrt wie hypnotisiert auf das Fragezeichen und lässt sich in seinen Bann ziehen. Wieder meldet sich der Roboter zu Wort. „Wenn Herr Felix Mending eine Empfehlung von mir möchte, ist das auch gerne möglich.“ Nun schüttelt Felix den Kopf, halb um sich von dem immer noch auf seiner Netzhaut tanzenden Fragezeichen zu lösen, halb um dem Roboter zu signalisieren, dass er auf gar keinen Fall eine Beratung von einem Hilfsroboter möchte. „Nein, nein ich möchte niemanden melden und auch keine Beratungen, jetzt belästige mich nicht mehr weiter.“ Nachdem der kleine Roboter sich gedreht hat und klappernd davonrollt, fühlt sich Felix nur noch schlechter den kleinen Kerl so wüst davongeschickt zu haben. Eilig bewegt er sich weiter, ohne ihm hinterher zu blicken. Wenn er wüsste, dass das einer seiner letzten Hilfsfahrten sein sollte, dann würde er bestimmt nicht so eilig ans andere Ende der Halle klappern. Felix versucht diesen Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen, der ihn wie ein Stein immer weiter nach unten zieht und wie tonnenschwere Gewichte an seinen Beinen klebt. So würde es nicht sein, so nicht, das konnte es nicht wirklich gewesen sein.
Als er endlich das andere Ende der Halle erreicht hat und über die, meist offene, Laderampe nach draußen klettert, entdeckt er seinen Freund nur wenige Meter weiter auf dem kleinen Grasstück, das vor der Dürre einmal mit gelben Butterblumen und saftig grünen Grashalmen übersät gewesen war. Beim Überqueren der gelben Wiese knistert das Stroh unter seinen Schuhen.
Bevor Paul seinen Freund sehen kann, hört er ihn bereits. Sein unverkennbarer Gang kann von keinem Menschen der Welt imitiert werden. Während er das Gras überquert, sieht Paul ihn vor seinem inneren Auge, die dunkle Haut, seine langen Arme und Beine, der schlaksige Oberkörper, seine zwar kurzen, aber wüsten Haare verteilen sich wild und vollkommen unkontrollierbar über seinem Kopf und die perfekt geschnittenen Ränder rahmen die hohe Stirn ein. Die große Nase und die dazu passenden vollen Lippen, die sich sehr schnell und oft beiseiteschieben, um den Zähnen Platz zu machen. Überhaupt lacht Felix wahnsinnig oft und gerne herzhaft über viele Dinge, die anderen wohl immer ein Rätsel bleiben, für die, die sich auf sein Lachen einlassen, aber eine ganz neue und viel weniger ernste Welt bieten. Paul denkt oft, wenn Felix wieder einmal mit seinen leicht watschelnd wirkenden Schritten auf ihn zukommt, dass er mit einer Trompete und einer Schlaghose bewaffnet jeden Jazzclub für sich gewinnen würde. Bei dem Gedanken daran muss Paul grinsen und Felix, der nun endlich seinen großen Freund eingeholt hat, blickt ihm zum zweiten Mal an diesem Tag verwirrt entgegen. „Findest du nicht, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, kichernd auf einer Wiese zu stehen?“ Paul kichert noch mehr. „Findest du nicht, dass dir Schlaghosen ausgesprochen gut stehen würden?“ Das breite, neckische Grinsen kennt Felix nur zu gut und spöttisch erwidert er: „Wenn du schon wieder den Jazzclub-Gedanken im Kopf hast, muss ich dir leider mitteilen, dass das eine im höchsten Maße rassistische Äußerung ist, die ich umgehend melden werde. Außerdem spielen auch weiße Menschen Trompete und tragen Schlaghosen.“ Paul hält sich gespielt seine Hand vor den Mund. „Okay, dann lass dich mal zu diesem Thema ausgiebig beraten und teile mir dann mit, was dir empfohlen wurde.“ Die beiden sehen sich an und fast gleichzeitig fangen sie an laut zu prusten.
Etwas später, als sich die heitere Stimmung wieder gelegt hat und die Realität wie ein Schlag ins Gesicht zurückkehrt, fällt ein tiefer Schatten auf Pauls Gesicht und auch Felix’ herzhaftes Lachen erstickt. „Ist es wahr Paul? Hat die Regierung es wirklich getan? Haben sie den Autobau verboten? Das können sie doch nicht Paul, oder? Ich meine, die gesamte Wirtschaft und die ganzen Arbeitsplätze? Was soll denn jetzt aus uns werden?“ Die Besorgnis, die sich auf Pauls Gesicht breitmacht, spricht Bände und die einzige Antwort, die er Felix an diesem Tag noch gibt, bevor sein Blick wieder am Horizont festhält, schießt Felix so in die Knochen, dass er sich auf das trockene Gras fallen lässt und sich wünscht es nie mehr verlassen zu müssen. „Nein Felix, sie haben nicht verboten, dass Autos gebaut werden dürfen, sie haben den gesamten Beförderungsmittelbau verboten. Das heißt, es werden keine Containerschiffe, keine Flugzeuge, keine Kranken- oder Polizeiwagen und keine Elektroautos oder Hubschrauber mehr gebaut. Die gesamte Verkehrsmittelproduktion wurde gerade verboten und wir können vorerst nichts tun, um dies zu verhindern.“