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10. Rügen, Deutschland

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Der Stuhl unter ihr stellt einen harten unnachgiebigen Gegner, auf dem sie unruhig hin- und herrutscht. Der kalte Fliesenboden versucht ihre Füße noch kälter und steifer werden zu lassen, als sie es ohnehin schon sind. Die Luft lähmt, durch den starken Desinfektionsgeruch und die Kälte des Raums, ihre Nase. Das Surren der Umgebung und die immerwährenden Durchsagen über die Lautsprecher betäuben ihre Ohren und das stetige Vorbeilaufen oder -rennen von in weiß gekleideten Gestalten hypnotisiert ihre Augen. Ihre Gedanken fühlen sich fremd an, so, als wären es die verzweifelnden Gedanken eines anderen, dem etwas Furchtbares passiert ist oder noch passieren wird. Ihr eigenes Bewusstsein muss unterdessen weit weg sein, irgendwo anders, wo es keine Luft zum Atmen, keinen Boden zum Stehen, keine Geräusche zum Hören, keine Düfte zum Riechen und nichts zu sehen gibt, was ihre Augen sehen könnten. Leise schwebt sie in diesem Nichts und versucht sich immer wieder klarzumachen, was in diesem seltsamen Moment, der über sie hineingebrochen ist, passiert.

Sie erinnert sich daran, wie sie mit ihrer Mutter auf dem Bett gesessen hat, auf die Gemälde ihres Bruders gestarrt und sich vorgestellt, was für schlimme Dinge einem Mann auf dem Nachhauseweg passieren können. Ihre Mutter hat zu ihr heruntergesehen, während ihr Bruder in seinem Zimmer spielte, und sie haben sich zusammen versucht einzureden, dass bestimmt alles gut ist und dass sie sich nur umsonst verrückt machen. Einige Minuten haben sie dagelegen und dem Meer in der Ferne gelauscht, bis sie das Geräusch hörten, das sie so abrupt aufspringen ließ, dass ihre Beine weich wurden und das Blut in ihren Köpfen pochte. Sie waren die Treppen hinuntergestürmt und beobachteten gemeinsam, wie die Tür aufgeschlossen wurde und ein Mann in das schwache Licht des Windfangs stieg. Für einen Moment hielten sie die Luft an und warteten bang darauf, dass der Mann aus dem Schleier des Windfangs heraustreten würde. Alle Logik ignorierend schienen sie sich nicht sicher sein zu wollen, dass es vielleicht doch nicht der Mann war, den sie erwarteten.

Der Mann, der vor Evelin und ihrer Mutter steht, ist sehr viel kleiner und schmächtiger als Paul, seine Hände wirken weich und unbearbeitet und seine Haare sind nicht dunkel, sondern hell. Der Mann hält immer noch den Hausschlüssel in der Hand und als er die zwei Frauen entdeckt, stutzt er und senkt den Kopf. Evelins Mutter versucht verzweifelt die Augen des Mannes zu erhaschen, der es jedoch kaum wagt aufzusehen. Evelin sieht im Licht des Flurs, dass Oliver geweint haben muss, seine Augen sind rot unterlaufen und seine Unterlippe bebt immer noch. Da weiß Evelin, dass etwas sehr Schlimmes passiert sein muss. Oliver öffnet den Mund und seine Worte klingen gefasster, als es sein Ausdruck vermuten lässt. „Mona“, ein tiefes Einatmen, „es geht um Paul.“ Die Frau reißt die Hand nach oben und presst sie gegen ihren Mund, um den Schrei zu fangen, der ihr sonst entronnen wäre. Mit der anderen greift sie so fest um Evelins Arm, dass sie glaubt ihre Mutter könne ihn abreißen. Oliver fährt fort. „Es gab einen schlimmen Brand in der Werkshalle und Paul und Felix konnten nur sehr knapp den Flammen entkommen.“ Nun beginnt auch seine Stimme zu beben. „Die beiden sind jetzt im Krankenhaus. Mona, hole Oskar, wir können zusammen hinfahren.“ Die Frau, die immer noch fest an Evelins Arm hängt, gleitet auf ihre Knie. Oliver, der das anscheinend schon hinter sich hat und so ruhig bleibt, legt Evelin die Hand auf die Schulter, sieht ihr tief in die Augen und lächelt ihr beruhigend zu: „Evelin mein Schatz, holst du bitte deinen Bruder von oben und achtest darauf, dass er eine Jacke mitnimmt.“ Evelin wendet sich von ihm ab, um, einem Roboter gleich, den Befehl auszuführen, als er ihr nochmal hinterherruft: „Alles wird gut werden.“ Und etwas halbherziger: „Ich bin mir ganz sicher.“ Jedoch redet irgendwas auf sie ein, dass gar nichts gut werden würde und dass das nur der Anfang ist. Von was, kann sie zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen.

Die Wendeltreppe hinaufhuschend, wirft sie noch einmal einen Blick auf ihre Mutter. Oliver hat sich zu ihr heruntergebeugt und sie in seine Arme geschlossen, dicke Tränen rollen in Olivers graues Hemd und lassen es immer dunkler werden.


Die Autofahrt zum Krankenhaus kommt Evelin länger als ein ganzes Leben vor; obwohl Oliver viel zu schnell fährt und die Ampeln gerne noch in einem Kirschorange überfährt, zieht sich die Zeit träge wie ein Kaugummi dahin. Jedes Mal, wenn sie an einer Ampel eine Vollbremsung hinlegen, zuckt sie zusammen, als wäre sie von dem Auto getroffen worden. Der Dukjon Q7 ist zwar für schnelles Fahren und Abbremsen gebaut worden, aber auch dieser Wagen kann Olivers Fahrstil nur sehr schwer ertragen und immer wieder riecht es im Innenraum beißend nach verbranntem Gummi oder gequälten Zündkerzen. Als sie dann endlich auf dem Krankenhausparkplatz zum Stehen kommen und aus dem Wagen stürmen, scheint es bereits ein anderes Jahrhundert zu sein. Die Vier rennen über den asphaltierten Parkplatz. Mona hat den kleinen Oskar an der Hand, der ein wenig ahnungslos hinter ihr herfliegt und immer wieder droht unter der Geschwindigkeit seiner Mutter hinzufallen. Oliver, der während der gesamten Fahrt kein einziges Wort gesprochen hat, wischt als Erstes durch die Drehtür des Haupteinganges, seine ganze Erscheinung wirkt nun nervös und ängstlich und Evelin erschreckt der Anblick des sonst so ausgeglichenen Mannes. Immer noch rennend stolpern sie durch die leere Eingangshalle zum Informationsschalter. Oliver hält sich mit beiden Händen an dem Tresen fest und bohrt seine Fingerkuppen so stark in die Glasplatte, dass sie weiß anlaufen. „Wir …, wir …“, es fällt ihm schwer unter der immer noch aufgebrachten Atmung einen klaren Satz herauszubringen, also übernimmt Mona das Wort. „Wir wollen zu Paul Barens und Felix Mending, sie sollten hier eingeliefert werden.“ Während sie spricht, rollen ihr Tränen über die Wangen und tropfen von ihrem Kinn auf die polierte Glasscheibe des Tresens. Die Dame hinter der Anmeldung verändert ihren leicht genervten Gesichtsausdruck während Monas gesamter Ausführungen kein einziges Mal, sie zupft lediglich nach ihrem Satz einige Taschentücher aus einer Box neben ihrem Bildschirm und reicht sie Mona ohne Kommentar. „Name?“, ist ihre knappe Antwort. „Mein Name ist Mona Barens.“ Sie deutet auf den immer noch schwer atmenden Oliver und wischt sich eine weitere Träne vom Gesicht. „Und sein Name ist Oliver Mending.“ Die Frau nickt knapp, tippt einige Sätze in ihre Tastatur und erhebt, mit derselben monotonen Stimme, das Wort: „Nehmen Sie bitte noch einmal im Wartezimmer Platz, es wird Sie gleich jemand über den Zustand Ihrer Angehörigen unterrichten.“

Die Vier setzen sich erschöpft und bedrückt auf einige der Stühle und beginnen zu warten. Selbst Oskar versteht, auf seine Weise, dass die Menschen um ihn herum irgendwie anders sind als sonst, und widersteht dem Bedürfnis herumzuwandern. Stattdessen zieht er das Plüschokapi, das er mitgenommen hat, näher an sich heran und beginnt die Mähne mit seinen kleinen Fingern zu kämmen. Mona hat sich neben Oliver gesetzt und hält seine Hand so fest umklammert, wie sie kann; ob sie es für sich oder für Oliver tut, kann Evelin, die ihnen mit Oskar gegenübersitzt, nicht sagen. Wieder ziehen sich die Minuten unnachgiebig dahin, Menschen kommen, Menschen gehen, aber niemand kommt, um die vier zu erlösen. Evelin rast ein Gedanke durch den Kopf, sie beugt sich zu Oliver hinüber und tippt ihm aufs Knie. „Oliver, was ist denn mit Lila?“ Der Mann legt den Kopf schief und sieht Evelin an, als wäre ihm erst jetzt eingefallen, dass er eine Tochter hat, dann entspannen sich seine Gesichtszüge wieder. „Sie ist zu Hause geblieben, um auf ihre Schwester aufzupassen, ich konnte sie in der Eile nicht mitnehmen, sie wartet darauf, dass meine Eltern kommen und sie ablösen können, dann kommt sie mit einem Taxi nach.“ Evelin nickt gequält und tippt schnell eine Nachricht an ihre Freundin in ihr Handy – Hey Lila, hab gehört du musst auf deine Schwester aufpassen, hab die Nachricht von unseren Vätern auch gerade erfahren, habe Angst, kannst mich anrufen, wenn du magst, hoffentlich wird alles wieder gut –. Während die Nachricht ihren Bildschirm verlässt, schluckt Evelin heftig und kämpft verzweifelt gegen das Gefühl an zu weinen. Der Kloß in ihrem Hals wird von Minute zu Minute dicker und es fühlt sich an, als wollten ihre Tränen sie erwürgen, aus Rache gefangen gehalten zu werden. Ihre betäubten Sinne fühlen sich gequält an und die Sorge um ihren Vater bringt sie beinahe um den Verstand. Auch dass sie immer wieder die Abläufe durchgeht, von dem Zeitpunkt als sie den Anruf ihres Vaters weggedrückt hat, zu Oliver, der aus dem Windfang trat, bis jetzt, wo sie immer noch wartend in der Eingangshalle des Krankenhauses sitzt.

Wahrscheinlich sind es nur zwanzig Minuten gewesen, die sie hatten warten müssen, aber alle Vier erheben sich steif, wie nach Tagen im Sitzen, als ein Mann im weißen Kittel auf sie zusteuert. Mit Besorgnis sehen sie dem Mann entgegen, der langsam und bedacht auf sie zukommt. „Herr Mending?“, stellt er seine Frage in die Runde. Oliver, dessen Beine zittern, nickt dem Weißkittligen nur knapp zu und presst ein „ja“ über die bebenden Lippen. „Ihrem Mann geht es den Umständen entsprechend gut. Seine Atemwege sind stark verbrannt und er hat eine heftige Rauchgasvergiftung, außerdem hat er Verbrennungen dritten Grades an seinem linken Arm. Er wird aber durchkommen. Wir haben ihm Flüssigkeit, Schmerzmittel und etwas zur Beruhigung gegeben, Sie können jetzt zu ihm, er hat auch schon nach Ihnen gefragt.“ Ein erlöster Seufzer, ein „Oh, Gott sei Dank“ an die Krankenhausdecke und alle Drei sehen sich für einen Moment lachend an, bis sie sich wieder daran erinnern, wo sie sind, und zurück in Ernsthaftigkeit verfallen. Oliver, dem die Erleichterung ins Gesicht geschrieben steht und dessen Sorgenfalten, die zuvor so tief in sein Gesicht gekratzt waren, langsam erblassen, richtet sich noch einmal an den Arzt. „Vielen Dank für die Information, Sie wissen nicht, wie glücklich Sie mich damit gemacht haben, aber was ist mit Paul, Paul Barens?“ Der Mann sieht kurz zu Boden, bevor er sich Mona zuwendet. „Im Augenblick kann ich leider noch nichts zu seinem Zustand sagen, Frau Barens. Es tut mir leid, Sie müssen sich noch ein wenig gedulden.“ Mona schluchzt in die Ruhe der Eingangshalle. „Oh, bitte, bitte, bitte“, wimmert sie der Decke entgegen und weint zum zweiten Mal an diesem Tag in Olivers graues Hemd. „Mona, es tut mir so leid, aber es wird bestimmt alles gut werden“, versucht Oliver verzweifelt die weinende Frau zu beruhigen. Dann drückt sie ihn von sich weg und starrt ihm ins Gesicht. „Gehe jetzt Oliver, du musst zu Felix gehen, ich komme schon zurecht.“ Ein paarmal macht Oliver abwinkende Handbewegungen und drückt die Frau fester an sich, doch der Arzt deutet ihm zu folgen. Evelin, die die ganze Szenerie immer noch durch den Vorhang ihrer betäubten Sinne beobachtet und noch immer krampfhaft versucht ihre Tränen herunterzuschlucken, hechtet den beiden Männern noch hinterher, bevor die hinter der Schwingtür verschwinden können. Trotzig zieht sie dem Arzt am Kittel, richtet sich zu ihrer vollen Größe auf und räuspert sich, um den Kloß beiseitezuschieben, der ihr die Luft abzwängt. „Was ist mit meinem Vater? Ich meine, wie geht es ihm, Sie werden doch schon etwas wissen, Sie können es mir ruhig sagen.“ Der Mann im weißen Kittel schaut Evelin ernst entgegen. Sein Blick wandert zu Oliver, der ihm mit geschlossenen Augen kurz zunickt. „Wie ist denn dein Name?“ „Evelin Barens.“ „Okay Evelin, du darfst dir keine zu großen Sorgen machen, ja?“ Evelin nickt ihm tapfer entgegen. „Es sieht sehr schlecht aus, aber wir tun alles, was in unser Macht liegt, damit alles wieder gut wird, und ich darf sonst kein Versprechen machen, aber dieses Versprechen gebe ich dir.“ Der Mann lächelt, drückt auf den Schalter der Tür und verschwindet dahinter. Oliver bleibt noch einen Moment stehen und beugt sich ein wenig herunter, um Evelin besser in die Augen sehen zu können. „Es tut mir sehr, sehr dolle leid, aber du musst wissen, dass ich mir auch schreckliche Sorgen mache und dass es vollkommen in Ordnung ist zu weinen.“ Evelin hält seinem Blick stand. „Meine Oma hat immer gesagt, wenn man weint, besiegelt man das Schicksal.“ Oliver sieht sie noch einen Moment besorgt an, dann folgt er dem Arzt durch die Türen, die sich hinter ihm schließen, und Evelin bleibt alleine zurück.

In den Armen ihrer Mutter wartet sie noch eine weitere Stunde. Als der Arzt, der Oliver zuvor weggebracht hat, zurückkommt, sieht Mona aus, als wäre sie um Jahre gealtert. Ihre sonst vollen Wangen sind eingefallen und die sonst so golden schimmernden braunen Haare haben ihren Glanz verloren. Selbst ihr Gang, der sonst mehr einem Tanz gleich ist, wirkt wie der einer alten Frau. Sie erhebt sich trotzdem erstaunlich schnell und läuft dem Arzt entgegen. Sie greift nach seinen Händen und versucht verzweifelt aus dem Ausdruck des jungen Arztes schlau zu werden. Einige der Menschen, die ebenfalls im Wartezimmer sitzen, beobachten die kleine Familie aufmerksam, die nun um den jungen Mann herumsteht und gebannt an seinen Lippen hängt. „Frau Barens, wenn Sie mir kurz folgen wollen“, ist das Einzige, was er entgegnet. „Nein, bitte, bitte sagen Sie mir erst, wie es meinem Mann geht. Wie geht es Paul?“ Der Mann greift nach Monas Hand, drückt sie einmal und wiederholt seinen Satz. „Ich bitte Sie, Frau Barens, kommen Sie erstmal mit mir mit. Sie bekommen die Antworten auf Ihre Fragen.“ Wie Gift sickert die Erkenntnis in Evelins Unterbewusstsein und vergiftet die Hoffnung, die sie sich so verkrampft bewahren will. Nur der Körper ist es, der den drei einsamen Gestalten den Schmerz vorbehalten will.

Der junge Mann läuft mit ihnen durch die grellen Korridore des Krankenhauses, bis er eine Tür erreicht, sie öffnet und erst wieder schließt, als die drei in dem gemütlich eingerichteten Raum stehen. „Wollen Sie sich kurz setzen?“, fragt er Mona und deutet auf das braune, gemütlich aussehende Sofa. „Nein, das will ich nicht!“, entgegnet Mona wütend und verzweifelt fügt sie hinterher: „Ich möchte nur wissen, wie es meinem Mann geht.“ Der Arzt richtet seinen Blick auf den Boden vor ihm, sammelt sich und schaut dann genau in Monas grüne Augen. „Es tut mir sehr leid Frau Barens, wir haben alles in unserer Macht Stehende getan, aber wir konnten nichts mehr für ihn tun. Ihr Mann ist heute um 02:45 Uhr gestorben.“ Ein Schrei erfüllt den Raum und Evelins Mutter sinkt zum zweiten Mal in dieser Nacht auf die Knie. Sie vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen und schluchzt so laut, dass es weh­tun muss. Auch Evelins Standhaftigkeit versagt und sie stolpert rückwärts auf das braune Sofa. Es ist weich und warm und es wirkt fast so, als ziehe sie das Mädchen tiefer in sein weiches Polster, um sie zu halten. Aus Evelins Mund kommt kein Ton, der Knoten in ihrem Hals platzt schmerzhaft auf und dicke Tränen laufen ihr über die Wangen. Sie sind heiß und es fühlt sich an, als wollten sie Evelins Gesicht verätzen, aber sie weint immer weiter. Oskar, der sich dem Griff seiner Mutter entrissen hat, stürmt dem Arzt entgegen und wirft ihm mit seiner ganzen fünfjährigen Kraft das Okapi entgegen, danach fingert er an der Tür herum, bis er den Griff zu fassen bekommt, hebt das Okapi vom Boden auf und stürmt in den grellen Flur hinaus. Der junge Mann will ihm noch hinterher, wird aber von Mona, die sich so weit gefasst hat, um zu sprechen, aufgehalten. „Lassen Sie ihn, er versteht das nicht, er ist nur sauer, weil er sieht, dass Sie uns traurig gemacht haben.“ Der junge Arzt schiebt die weit offen stehende Tür zu, lässt aber einen Spalt offen, falls Oskar beschließt wiederzukommen. Langsam beugt er sich zu der immer noch am Boden knienden Mona hinunter und reicht ihr wortlos seinen Arm. Mona zieht sich mit seiner Hilfe nach oben und sinkt neben Evelin auf das Sofa. Immer noch rollen dicke Tränen aus den verquollenen Augen. Der Arzt zieht unterdessen einen Stuhl heran und richtet das Wort an die beiden Frauen. „Er ist bereits mit schweren Verbrennungen eingeliefert worden, seine Atemwege waren stark verbrannt und er hatte eine ziemlich starke Rauchgasvergiftung, die ihm das Atmen schwer gemacht hat. Im Laufe der Operation mussten wir feststellen, das große Teile seines Brustkorbes zertrümmert waren, wir haben alles Menschenmögliche versucht, konnten aber nichts mehr für ihn tun. Um 02:45 Uhr erlag Ihr Mann dann seinen schweren Verletzungen. Er ist bereits bewusstlos eingeliefert worden, was heißt, dass er in seinen letzten Stunden nicht mehr leiden musste.“ Als der Mann seine Ausführungen beendet hat, hält er inne und lauscht respektvoll in den schluchzenden Raum hinein. Etwas verunsichert und hilflos beißt er sich auf seine Unterlippe und fixiert den Boden vor ihm. Auch für ihn ist das keine alltägliche Situation. Nach einigen Minuten erhebt er sich von seinem Stuhl, schiebt ihn zurück an seinen ursprünglichen Platz und legt einen kleinen schwarzen Gegenstand auf einen der Beistelltische neben dem Sofa. „Wenn Sie so weit sind, piepen Sie mich gerne an und wir können die nächsten Schritte besprechen, lassen Sie sich aber ruhig Zeit.“ Dann verlässt er leise und bedacht keinen unnötigen Lärm zu machen den Raum. Zurück bleiben nur die zwei Frauen, die sich, sobald er den Raum verlassen hat, in die Arme fallen und einander Trost geben.

Irgendwann löst sich Mona aus der Umarmung, streicht ihrer Tochter über den lockigen Kopf, tippt ihr mit einem leichten Lächeln auf die schmal gewordenen Lippen, auf die Nase und öffnet den trockenen Mund, um die Stille zu brechen. „Evelin, du darfst traurig sein, du darfst auch wütend sein oder dich verraten fühlen, aber du darfst niemals vergessen, dass dieser Mann dich geliebt hat. Auch wenn er in letzter Zeit viel zu sehr mit der Arbeit beschäftigt war, er liebt dich trotzdem. Du denkst jetzt vielleicht, dass das ungerecht ist, dass es noch nicht Zeit war, aber auch, wenn du das Gefühl hast die Zeit ist stehen geblieben und du nicht weißt, wie du weitermachen sollst, denk einfach immer daran, dass die Uhr da oben auf dem Schrank“, sie deutete auf einen kleinen Wecker, der auf einem der Schränke des Raums steht, „diese Uhr ist, seit wir es erfahren haben, schon dreißig Minuten weiter gesprungen und das wird sie immer tun, egal was passiert. Die Zeit wird dich immer daran erinnern, dass es auch jetzt noch ein Morgen gibt.“ Sie erhebt sich aus der Umarmung des Sofas. Es scheint ihr schwerzufallen, als könnte sie ihre alt gewordenen Knochen nicht mehr so bewegen, wie sie es sonst getan hat, und sie fügt noch hinzu: „Ich werde jetzt zu Felix und Oliver gehen und es ihnen sagen, sie haben ein Recht darauf zu erfahren, was passiert ist.“ Evelin, die immer noch in ihrer Trauer gefangen auf dem Sofa sitzt, will ihrer Mutter noch hinterherlaufen, aber irgendwas lähmt sie und macht es ihr unmöglich auch nur einen Finger zu krümmen. Sie will nicht allein in diesem schrecklichen Raum sitzen und diesem entsetzlichen Wecker lauschen, wie er die Zeit weiter drängt, er soll auf der Stelle stehen bleiben und die Zeit anhalten, so wie auch ihre eigene Zeit angehalten wird, er hat nicht das Recht zu entscheiden weiter zu ticken. So sitzt sie einfach nur da, starrt ins Leere und lauscht einem Wecker, der nicht ticken sollte.


Das Auto seiner Tante ist schnell, sehr schnell, um genau zu sein, es fegt über die trockenen Straßen und legt sich geschmeidig in die engsten Kurven, in die Kaleo es zwingt. Die Reifen heften sich gut an die Straße und treiben es stetig voran, einige Male wird die Geschwindigkeit von Ampeln oder Fußgängerüberwegen unterbrochen, aber das spornt Kaleo nur noch mehr an, die verlorene Zeit wieder aufzuholen. Seit er vor drei Monaten achtzehn geworden ist, hat er nicht viele Möglichkeiten gehabt seine neu errungene Freiheit auch zu nutzen und so genießt er, trotz seiner besorgten Stimmung, das Fahr­erlebnis in vollen Zügen. Ab und zu kommt ihm ein schlechtes Gewissen, weil er seiner Tante versprochen hat vorsichtig zu fahren, aber dann redet er sich einfach ein, dass er nur versprochen hatte vorsichtig, aber nicht langsam zu sein. Er rast vorbei an den Wasserspeichern der Stadt, die auch dieses Jahr wieder zu wenig Wasser tragen, und jagt um die Ecke des alten Obstladens, der aufgrund der schlechten Ernte frühzeitig geschlossen hat. Als der Wagen auf dem Parkplatz des Krankenhauses mit quietschenden Reifen zum Stehen kommt und Kaleo den gequälten Motor abschaltet, bleibt er noch einen Moment auf dem kalten Lederpolster sitzen und lauscht der Kühlanlage des Motors. Durch sein Gewissen getrieben, tippt er eine Nachricht an seine Tante in den ellipsenförmigen Gegenstand: Bin heil angekommen, mir und dem Auto geht es gut oder sollte ich lieber sagen dem Auto und mir, je nach dem, auf was du eben mehr Wert legst, schreibe dir, wenn ich etwas erfahren habe, ich hoffe du schläfst schon, es ist ja schon fast der nächste Morgen. Bevor er die Nachricht verschickt, lugt er noch kurz auf seine Armbanduhr, 03:51 Uhr, und steigt aus dem tiefliegenden Wagen auf den Krankenhausparkplatz. Ein leichter Wind weht über die Dächer der Autos und obwohl es weder der Wind ist noch die Luft, die wirklich kalt sind, fröstelt er. Irritiert über die Kälte, die in ihm aufsteigt, zieht er sich die Sweatshirtjacke über und macht sich auf den Weg zum Haupteingang. In der Eingangshalle angekommen bleibt er einen Augenblick stehen, etwas hilflos blickt er sich in der hohen Halle um, bevor seine Augen auf den Informationsschalter fallen. Zielgesteuert geht er auf den Glastresen zu und legt etwas verunsichert eine Hand auf das kühle Glas. „Guten Abend, oder Morgen, keine Ahnung wie man das hier nennt, vermutlich eher Morgen, aber na ja, ist ja auch egal.“ Ein verstohlenes Lächeln. „Ich möchte gerne zu Paul Barens oder Felix Mending.“ Die Frau hinterm Tresen, die erst jetzt ihren Kopf hebt, um Kaleo eines genaueren Blickes zu würdigen, schaut gelangweilt drein. Als sie ihre Begutachtung des Jungens abgeschlossen hat, richtet sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Computerbildschirm zu. „Name?“ Kaleo runzelt die Stirn. „Oh, keine Ahnung was der Ihnen bringt, aber mein Name ist Kaleo McDonahue.“ Die Frau hinterm Tresen sieht verwundert auf, als sie Kaleos Namen hört und kräuselt die Lippen. Kaleo, der ihren verwirrten Gesichtsausdruck richtig deutet, schmunzelt über die Reaktion der so bieder aussehenden Frau. „Ich bin Amerikaner, in Hawaii geboren, deswegen der Name, soll ich Ihnen den buchstabieren?“ Ein knappes Nicken bestätigt Kaleos Vermutung. Nachdem alle Missverständnisse beseitigt sind, bedeutet ihm die Frau im Wartezimmer Platz zu nehmen, da er nicht zur Familie gehöre. Kaleo, der mit so einer Antwort natürlich gerechnet und nichts anderes erwartet hat, schlendert links am Tresen vorbei in den Wartebereich.

Immer noch angespannt, lässt er sich auf einen der Stühle fallen und beginnt Lila eine Nachricht zu schreiben, in der er ihr mit knappen und vorsichtigen Worten mitteilt, dass er im Wartebereich Platz genommen hat und da ist, wenn er gebraucht würde. Danach richtet er seine Aufmerksamkeit nach vorne, um die Halle und ihre Menschen genauer im Auge zu haben, bis er den kleinen Jungen sieht, der unter einem der großen Tische sitzt. Verwundert springt er auf und durchquert die Halle. Tatsächlich, er hat sich nicht verguckt, unter dem großen Tisch, der wohl sonst für Schreibarbeiten genutzt wird, sitzt Oskar. Mit seinen kleinen Armen umklammert er seine Knie und wippt zu einer unhörbaren Musik. Neben ihm liegt ein Plüschokapi. Kaleo, der Evelins Bruder noch nie so verunsichert gesehen hat, kriecht, ohne ein Wort zu sagen, mit unter den Tisch. Eine Zeit lang sitzen die beiden da und lauschen einer Musik, die nicht da zu sein scheint. „Das Okapi ist der Wahnsinn“, spricht er den kleinen Jungen an, ohne eine Antwort zu erwarten. „Ich denke, Sie sind der Besitzer dieses außergewöhnlichen, behuften Säugetiers, das weder Giraffe noch Zebra zu sein vermag.“ Der Junge hört auf zu wippen. „Dachte ich mir“, redet Kaleo unbeirrt weiter. „Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das Liegen auf kalten Fliesen unter einem Tisch in einem Krankenhaus das richtige Habitat ist, aber Sie, Herr Oskar, haben, wie ich ja weiß, sehr viel mehr Ahnung von Okapis als mein unwissendes Ich.“ Der kleine Junge mag den Ausführungen Kaleos zwar nicht lauschen, wendet seine Aufmerksamkeit aber doch nach oben, um seinen ungewöhnlichen Gast genauer zu mustern. Dabei achtet der Fünfjährige akribisch darauf, nicht Kaleos Augen zu kreuzen. Stattdessen greift er schweigend nach dem Okapi und zieht es zwischen Oberkörper und Beine. „Hey Oskar, da ich weiß, dass du viel, viel mehr weißt, als die meisten denken, weißt du bestimmt, warum ich hier bin“, führt Kaleo seinen Monolog ein wenig ernster fort. „Ich würde wirklich gerne wissen, was mit deinem und Lilas Vater ist, und ich möchte sehr gerne mit deiner Schwester sprechen. Weißt du, wo deine Schwester ist? Oder Lila? Oder vielleicht deine Mama?“ Oskar beobachtet Kaleos Mundbewegungen genau, es sind nicht die Worte, die ihn interessieren, sondern vielmehr, wer sie sagt und in welcher Geschwindigkeit sie gesagt werden. Kaleo legt respektvoll eine Pause ein und wartet, wie man es in einem Gespräch nun mal tut, darauf, bis sein Gegenüber mit seinen Ausführungen fertig ist. Dass Oskar dabei kein Wort sagt, stört den Jungen nicht. Eine Weile geht es so, ein Starren zwischen einem Fünfjährigen, der schweigt und einem Achtzehnjährigen, der seinen Ausführungen folgt. Dann, blitzschnell, springt der kleine Junge auf, kriecht flink unter dem Tisch hervor und rennt durch die große Eingangshalle zu der Tür, in der er zuvor mit seiner Schwester und seiner Mutter verschwunden ist. Kaleo, der mit dieser Reaktion nicht gerechnet hat, strauchelt nur mit Mühe unter dem, für ihn kleinen, Tisch hervor und versucht dem Fünfjährigen zu folgen.

Obwohl Oskar nicht ein einziges Mal nach hinten sieht, kommt es Kaleo so vor, als würde er doch darauf bedacht sein, dass er ihm folgt, und so bleibt der kleine Junge jedes Mal kurz stehen, bevor er durch eine Schwingtür wischt oder am Ende eines Korridors um die Ecke biegt. Kaleo rast ihm stetig hinterher, vorbei an Krankenhausbetten und Mehrbettzimmern, vorbei an Ärzten mit OP-Kitteln und Schwestern mit Bettpfannen, einmal muss er einem Patienten so schnell ausweichen, dass er beinahe mit ihm zusammengeprallt wäre. Der Patient zuckt aber zum Glück im letzten Moment zur Seite und droht Kaleo mit vorgehaltenen Krücken irgendwelche Maßnahmen hinterher. Sich stürmisch entschuldigend, rast er nur an ihm vorbei. Irgendwann soll die Raserei aber ein Ende finden, als Oskar mitten im Lauf vor einer mit Holz verkleideten Tür bremst und das Okapi vor den Türschlitz stellt. Kaleo, der noch viel zu viel Schwung hat, um neben dem Jungen zu halten, fliegt chancenlos an der Tür vorbei und nimmt die letzten Meter zurück im Gehen auf sich. Außer Atem steht er neben dem Fünfjährigen vor der Tür und betrachtet das billig aussehende Holz. „Was ist da drin Oskar?“, fragt er ihn verunsichert, aber der kleine Junge packt nur das Okapi am Hals, zieht es unter seinen Arm und rauscht mit derselben Geschwindigkeit, wie sie gekommen sind, um die nächste Korridorecke davon.

Gleichbleibend verunsichert greift Kaleo an den kalten Türgriff, er lässt seine Hand ein wenig auf dem kühlen Metall liegen, bevor er es leise nach unten drückt und die Tür in den Raum aufschiebt.

Im Raum ist es warm, viel wärmer als auf den eisigen Korridoren, selbst die Luft riecht hier nicht so stark nach Desinfektionsmittel und der Fliesenboden, der sich durch das ganze Krankenhaus zieht, weicht weichem Teppich. In der Mitte des Raums steht ein Sofa, es ist braun und sieht weich aus, außer einem Schrank und zwei Beistelltischen ist der Raum leer. Irgendwo scheint es einen altmodischen Wecker zu geben, denn das erste Geräusch, das er hört, ist ein leises Ticken. Auf dem Sofa sitzt ein Mädchen, ihre Beine hat sie an sich gezogen und ihre Hände liegen über dem mit Sommersprossen verzierten Gesicht. Ein leises Wimmern geht von der lockigen Gestalt aus, sonst ist da nichts Außergewöhnliches. Als das Mädchen den Eindringling bemerkt, lösen sich ihre Hände von ihrem Gesicht und Kaleo schauen rot verquollene Augen entgegen. Ihre Augenbrauen ziehen sich nach oben, nicht verwirrt oder besorgt, sondern dankbar. Kaleo wagt es nicht den Mund aufzumachen, er fühlt sich, als hätte man ihm einen Maulkorb angelegt, der ihm das Sprechen unmöglich macht, auch dem Mädchen geht es wohl ähnlich und so machen beide nur einen schnellen Schritt aufeinander zu und fallen sich in die Arme.

Evelin weiß nicht, warum Kaleo im Raum steht, sie weiß nicht, wer ihm gesagt hat, was passiert ist oder warum er gekommen ist, sie weiß nicht, warum er nicht wütend auf sie ist, obwohl er jedes Recht dazu hätte; das Einzige, was ihr glasklar ist und was sie in diesem Moment auch nicht hinterfragt, ist, dass er da ist, genau im richtigen Moment, dass er einfach nur dasteht und sie hält, ohne ein Wort, ohne eine Frage, ohne einen Vorwurf.

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