Читать книгу §4253 - Nathalie D. Plume - Страница 13

9. Greifswald, Deutschland

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Jalma runzelt fragend die Stirn, wie kann so etwas sein? Ungläubig und mit der absoluten Sicherheit, sich trotz des dritten Mal Lesens doch verguckt zu haben, liest sie die Mail ein viertes und ein fünftes Mal, selbst als sie die Mail ein sechstes Mal überfliegt, wollen sich die Worte nicht ändern. Nervös schiebt sie den Schreibtischstuhl auf dem Linoleumboden hin und her. Ihre Augen sind eisern auf den Bildschirm gerichtet. Nach dem siebten Mal Lesen löst sich ihre Hand wie eigenständig von der Tastatur und gleitet zielsicher in die Aktentasche, die neben dem Schreibtisch steht. Einige Sekunden später scheint sie gefunden zu haben, nach was sie gesucht hat, und kehrt aus den Tiefen der braunen Tasche zurück. Anstatt auf die Tastatur fliegt die Hand weiter an der Schreibtischplatte vorbei in Richtung Jalmas Gesicht. Gekonnt platziert sie eine Zigarette in ihren Mundwinkel und fliegt erst dann wieder auf die Tastatur zurück. Jalma, die ihre Augen immer noch starr auf den Computerbildschirm richtet, zündet die Zigarette mit dem Feuerzeug, das die andere Hand bereits aus der Schreibtischschublade gefingert hat, an und nimmt einen tiefen Zug in ihre Lungen. Erst als die Wirkung des Nikotins einsetzt, lösen sich ihre Augen vom Bildschirm und sie bläst den Rauch an die Bürodecke, dem Feuermelder entgegen. Desinteressiert beobachtet sie, wie der Rauch sich an der Decke verteilt. Nach einem weiteren, genießerischen Zug entspannen sich ihre Augen allmählich; um ihnen weitere Ruhe zu gönnen, lehnt Jalma ihren Kopf auf die Rückenlehne und schließt ihre Augen. Leider hält die erhoffte Entspannungsphase nur wenige Sekunden, bevor ihre Anwaltsgehilfin die Ruhe durchschneidet und sie zwingt ihre Augen wieder zu öffnen. Mit einem Lächeln öffnet sie die Tür und sprudelt in den Raum herein. „Herrgott, Herrgott, die Fusionsanwälte gehen einem ja tierisch auf die Nerven, du wirst nicht glauben, was ich von …“ Ihr Gesprudel verstummt schlagartig, als sie die Zigarette sieht. „Jalma!“, ruft sie ärgerlich durch den Raum hindurch und wischt auch sogleich hustend und wild mit den Armen gestikulierend an dem Schreibtisch vorbei zu dem hinter Jalma liegenden Fenster. Mit einem beherzten Ruck und der Entschlossenheit eines Feuerwehrmanns zieht sie das Fenster auf und hustet in die heiße Luft hinaus. Anschließend greift sie hektisch nach einer auf dem Schreibtisch liegenden Akte und fächert damit in der Luft herum. Jalma, die das Ganze ohne eine Regung ihres Körpers beobachtet, nimmt einen weiteren Zug und stößt die Luft durch ihre Nase in den Raum, dann drückt sie den Stummel auf der Schreibtischplatte aus und schiebt die Asche mit der Maus in den Papierkorb. Angespannt lehnt sie sich in ihrem Lederstuhl zurück und dreht sich zu der dürren, immer noch wild fuchtelnden Gehilfin um. „Jalma, Herrgott, du kannst hier doch nicht rauchen, nicht nur, dass das natürlich streng verboten ist, denk doch mal daran, wenn der Feuermelder angegangen wäre, diesen Einsatz hättest du dann bezahlen müssen, und dieser scheußliche Geruch.“ Mit gerümpfter Nase sieht sie an die Decke zu dem Feuermelder hinauf. „Der ist aus“, entgegnet Jalma mit völligem Desinteresse an den Sorgen ihrer Anwaltsgehilfin. „Wie aus? Was ist aus?“, bekommt sie auch sogleich die Antwort. „Na ja, der Feuermelder, den habe ich ausgemacht. Weiß ich ja selber, dass der sonst angehen würde.“ Die hektische Frau schnappt nach Luft. „Du hast was bitte? Oh Gott, oh Gott, weißt du eigentlich, was das für Konsequenzen gehabt hätte, wenn ein Feuer ausgebrochen wäre, nicht auszumalen.“ Mit einer Hand hält sich die dürre Frau, die Jalma oft an ein Erdmännchen erinnert, ihren Kopf, die andere hält symbolisch die Nase zu. „Wilma, jetzt mach mal einen Punkt, lass diesen Gott aus dem Gespräch heraus und mach dich locker. Wenn es in meinem Büro anfängt zu brennen, ist es doch egal, ob mein Rauchmelder funktioniert, bis sich die Flammen durch die Tür gefressen haben, hätte es entweder einer gemerkt oder der Rauchmelder im Flur wäre angegangen, aber jetzt genug von diesen Banalitäten, lies das!“ Noch genervter als zuvor dreht sie den Computerbildschirm in die Richtung ihrer immer noch japsenden Kollegin und steht auf, um ihr ihren Platz anzubieten. Verdutzt über die viel zu entspannte Antwort ihrer Chefin setzt sie sich auf den unter ihr viel zu breit wirkenden Lederstuhl und setzt, nicht ohne Jalma noch einmal einen ernsten Blick zu schenken, die Brille auf. Bevor sie sich interessiert zum Bildschirm hinüberbeugt, versucht sie noch einmal an Jalmas Vernunft zu appellieren. „Ich verstehe eh nicht, warum du so viel Geld für diese Totmacher ausgibst, ich meine, wie viel Geld kostet eine Packung, 40 Euro?“ Jalma rollt angespannt mit den Augen und schiebt den Stuhl näher an den Schreitisch heran. „Es sind 32 Euro, wir sterben eh alle, hast du in letzter Zeit Nachrichten gesehen, die Polkappen sind nahezu weg, es gibt mehr Klimaflüchtlinge, als irgendein Land der Welt versorgen kann, und der Regenwald brennt zum dritten Mal dieses Jahr. Also könntest du mich und meine Nikotinsucht bitte einmal ignorieren und dich dieser, meiner Meinung nach, völlig merkwürdiger Mail, widmen?“ Den verdutzten erdmännchenartigen Blick analysiert Jalma als Ja und deutet mit einem gequälten Lächeln auf den Bildschirm. Die Gehilfin lässt ein eingeschnapptes „Hm“ erklingen und beginnt die Mail zu überfliegen.

Während sie interessiert Zeile für Zeile abfliegt und dabei immer wieder murmelnd mitliest, löst Jalma ihre Hand von der Armlehne und wendet sich zum Fenster. Die heiße brennende Luft, die ihr entgegenschlägt, verursacht ihr sofort Kopfschmerzen, trotzdem greift sie nach dem Fenstersims und lehnt sich in die Hitze des Nachmittages hinaus. Tief saugt sie die Luft in ihre immer noch nikotinisierte Lunge und genießt das Gefühl, wie die Hitze um ihre Nasenflügel brennt. Sie mag dieses Gefühl, es erinnert sie an Zuhause, es erinnert sie an die Zeit, in der sie mit ihrer Schwester nach der Schule an den Strand fuhr, sie sich ihre Kleider vom Leib rissen, um möglichst schnell nach den Surfbrettern zu greifen und in den kühlen Nachmittagswellen zu verschwinden. Die Luft war damals heiß, aber die Kühle der Wellen ließ sie erträglich werden und wenn sie oder ihre Schwester eine Welle bekamen und das Privileg genossen sie bis zum Ende zu reiten, war es das mächtigste Gefühl der Welt. Gerade so mächtig, dass man das Gefühl hatte nichts auf der Welt könnte schlimmer sein, als das Ende dieser Welle zu erreichen. Nachdem sie ihre Arme nicht mehr spürten und ihre Beine von den Riffen aufgeschnitten waren, ließen sie sich in den Sand fallen und lachten so lange über die vielen Male, die sie vom Bord gerutscht waren oder eine Welle sie heruntergespült hatte, bis die Sonne auf das Wasser hinabgesunken war. Dann war die Zeit gekommen sich aufzumachen, nach Hause zu fahren, die Bretter in den Truck zu verladen, sich den Sand vom Körper zu reiben, in die engen Kleider zu schlüpfen und in die Hitze des Wagens zurückzukehren. Genau da war dieses Gefühl, die Luft im Auto war jedes Mal so heiß, dass es an den Nasenflügeln brannte, das machte aber nichts, denn die Hitze wurde durch den Fahrtwind herausgeweht und die kühle, feuchte Luft der hawaiianischen Inseln strömte herein, gerade so, als wollte er den Tag herauswehen, um die Nacht anzukündigen.

Ein Räuspern reißt Jalma aus ihren Erinnerungen und bringt sie in die Gegenwart des Bürokomplexes zurück. Sie richtet ihren müden Blick in die Tiefe der Häuserschlucht und beobachtet kurz die Autos, die sich auf der Straße vorbeischieben, bevor sie in die klimatisierte Luft ihres Büros zurückkehrt und das Fenster hinter ihr schließt. „Also Jalma, auch ich habe diese Mail ein paarmal lesen müssen, um es zu glauben, aber jetzt bin ich mir ganz sicher. Ja, da möchte wirklich einer seinen Arbeitgeber verklagen, weil er von heute auf morgen seinen Job verloren hat.“ Jalma kann die Trockenheit ihrer Gehilfin nicht fassen. „Ja Wilma, das habe ich selbst gelesen, aber der Grund, der Grund ist das, was mich so sprachlos macht, hast du den Grund überhaupt gelesen?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen starrt sie ihre Gehilfin an. „Ja, ja natürlich habe ich den gelesen, das macht mich etwas skeptisch, wenn du mich fragst, würde ich das erstmal überprüfen. Ich glaube ich habe noch die Nummer einer Führungskraft von Dukjon, ich werde da gleich mal anrufen.“ Jalma winkt ab. „Nein vergiss es, gib mir die Nummer, um diese Angelegenheit möchte ich mich selbst kümmern.“ Hektisch schiebt sie das verdatterte Erdmännchen zur Seite, das sich gerade noch rechtzeitig erheben kann, um aus dem Raum komplimentiert zu werden. In Jalmas Augen funkelt die Vorfreude auf diesen spannenden Fall, den sie gerade kommen spürt, und sie ruft ihrer Anwaltsgehilfin noch hinterher: „Stell mir das Gespräch dann bitte in die Leitung“, bevor sie die Glastür hinter ihr schließt.


Das Gespräch mit einem Herrn Kron ist für Jalmas ohnehin schon erregtes Gemüt wenig zutunlich. Der Mann am anderen Ende der Leitung scheint unter einem enormen emotionalen Druck zu stehen und es ist sehr schwer seine Erläuterungen zu verstehen, da immer wieder Leute in sein Büro stürmen. Vermutlich ist das in Anbetracht der Tatsache, was da gerade vor sich geht, keine Besonderheit. Marcel Kron, der stellvertretende Geschäftsführer von Dukjon, bestätigt Jalmas schlimmste Vermutungen. Nach einer Viertelstunde angespannten Gesprächs wirkt es, als würde in ihm eine Reißleine bersten und alles, was er noch sagen kann, bevor es in der Leitung piept, ist, dass er dringend mit irgendeinem Paul Barens reden muss und er jetzt leider, so unhöflich das auch wäre, dieses Gespräch beenden müsse. Er entschuldigt sich noch ein paar Mal, dann wird die Verbindung unterbrochen, ob durch Marcel Kron oder eine andere Person, das kann Jalma nur vermuten.

Jalmas Vorfreude, die vor zwanzig Minuten noch ihren ganzen Körper in Vibration versetzt hat, ist verschwunden. Das Einzige, was sie nun bis in die Tiefe ihrer Knochen spüren kann, ist Angst. Angst davor, dass sich alles ändern würde, sie hat schon vor einigen Wochen davon gehört, dass es eine neue Abstimmung geben soll, aber genau wie all die anderen Menschen um sie herum, die morgens einen Kaffee beim Bäcker holen oder im Supermarkt die Lebensmittel auf die Kasse heben, hat auch sie abgewunken und laut über die Banalität einer Weltpartei gelacht. Wie man sich doch irren kann. In Trance landet die zweite Zigarette des Tages in ihrem Mundwinkel. Nachdem sie einige schnappartige Züge genommen hat, springt sie auf, eilt mit der Zigarette im Mund um ihren Schreibtisch, zieht an der schweren Glastür und stolpert in den Vorraum ihres Büros. Die Anwaltsgehilfin lugt verdattert über ihren Computerbildschirm und reißt schockiert die Augen auf. Jalma ignoriert die empörten Rufe und eilt durch die zweite Glastür. Ihr Partner, der mit dem Hörer am Ohr zum Fenster gerichtet steht, schnellt herum und sieht verwundert auf die schnell atmende Jalma. Für einen Moment glaubt sie zu hören, wie am anderen Ende der Leitung jemand Hindi spricht, verwirft den Gedanken jedoch wieder. Entsetzt über die Respektlosigkeit des unaufgeforderten Eindringens bedeutet er ihr mit hektischen Bewegungen seiner freien Hand den Raum umgehend wieder zu verlassen. Jalma, die ihm nur einen rebellischen Blick entgegnet, nimmt ihre Zigarette aus dem Mundwinkel, fixiert ihren Partner mit den Augen und drückt seinen Anruf auf dem Gerät weg. Noch bevor der Mann seiner Wut Luft machen kann, kommt Jalma dem mit aufgeblasenen Wangen hochrot werdenden Mann zuvor. „Sie haben den ersten Absatz veröffentlicht, es scheint, als hätte sich die Weltpartei wirklich gebildet und du und ich wissen beide, dass da mehr als nur ein Absatz auf uns zukommt.“ Der Mann entlässt die Luft aus seinen Wangen und starrt konsterniert in Jalmas braune Augen. Dann beugt er sich über den großen Schreibtisch, nimmt ihr die Zigarette aus der Hand, lässt sich rückwärts in den klobigen Schreibtischstuhl fallen, lockert die Krawatte seines Maßanzuges und inhaliert den Rauch. Lange hält er den Rauch in seinen Lungen und stößt ihn erst nach einiger Zeit über den Schreibtisch hinweg. Starr und ohne eine Regung sieht er dem in Schleiern durch den Raum wabernden Rauch hinterher. Jalma wagt es nicht sich von der Stelle zu bewegen, angespannt beobachtet sie ihren sonst so gefassten Kollegen. Herr Kaiser, der das wohl als Aufforderung versteht, erhebt sich aus dem knarzenden Stuhl, zieht seine Krawatte wieder an seinen Platz, fährt sich durch die gegelten Haare und räuspert sich noch, bevor er sein Wort erhebt. „Jalma, ich danke dir sehr für diese Information, aber ich weiß nicht, was ich deiner Meinung nach jetzt damit anfangen soll.“ Mit dieser Reaktion hat Jalma nicht gerechnet. „Herrgott Nikolas, das ist deine Antwort? Wach auf und komm auf den Boden der Tatsachen zurück, wir wissen beide, dass der erste Absatz nur der Anfang ist, denk doch mal an den zweiten Absatz oder noch schlimmer den dritten oder vierten, wenn das alles so in Kraft tritt, wie es geplant wurde, ist das das Ende unser modernen Welt, vielleicht sogar das Ende dieser Epoche.“ Einen Moment sieht es so aus, als würde Jalmas Partner einen Neustart in seinem Gehirn vornehmen. „Jalma, dass eines mal klar ist, dass wir den § 4253 bereits lesen durften, ist ein Privileg gewesen, dass wir im jetzigen Augenblick wohl eher als ein Geheimnis handhaben sollten. Nicht vorstellbar, wenn die Bevölkerung zu früh davon erfährt. Im Augenblick sollten wir erst einmal die Füße stillhalten und in Erfahrung bringen, ob das hier nicht alles ein riesiges Missverständnis ist. Ich werde versuchen den Bundespräsidenten zu erreichen oder den Kanzler, ich denke ich habe hier noch irgendwo die Nummern. Entweder du wartest hier oder du gehst dich irgendwo einmal abregen; wenn du dich für hier entscheidest, bitte ich dich aber den Mund zu halten.“ Mit diesen Worten nimmt der attraktive Mann den Hörer vom Schreibtisch, tippt einige Zahlen hinein und hält sich den Finger vor den Mund, um Jalma noch einmal Ruhe zu gebieten. Während er mit einer Sekretärin nach der anderen redet, spürt Jalma ihre Knie, die allmählich unter ihrem Gewicht zusammenbrechen wollen. Mit einem tiefen, aber leisen Seufzer lässt sie sich auf das harte Sofa vor dem Bücherregal fallen und schließt die müden Augen. Für einen Moment versucht sie sich vorzustellen immer noch bei ihrer ersten Zigarette im Büro zu sitzen, dass sie eingeschlafen sein muss und dass alles nur ein kurzer, aber sehr realistischer Albtraum ist.

Leider ist es jedoch kein Albtraum, zumindest keiner von der Sorte, aus dem man irgendwann wieder erwacht. Eher einer, der auf einmal und vollkommen unerwartet zu einer Realität wird, der man sich auch nicht im Schlaf entziehen kann, denn als Nikolas den Hörer zurück auf den Schreibtisch senkt, macht er nicht den Eindruck, als wäre alles nur ein großes Missverständnis gewesen. Statt eines freudigen, erleichterten Gesichtsausdrucks legt sich ein dunkler Schatten auf das Gesicht des Mannes. Er schaut vom Schreibtisch auf und fixiert Jalma einen Moment, bevor auch er sich am Schreibtisch vorbei­schiebt und neben Jalma auf das Sofa fallen lässt. „Alles nur ein Missverständnis, mmh?“, bricht Jalma zuerst das Schweigen. Nikolas hebt seine Hand und legt sie sanft auf Jalmas Knie. „Nein, leider nicht“, erwidert er niedergeschlagen, ohne Jalma anzusehen. „Den Bundeskanzler konnte ich nicht erreichen und auch den Bundespräsidenten nicht, allerdings ging sein Stellvertreter ans Telefon.“ Ein Räuspern. „Er bestätigte mir die Bekanntmachung des ersten Absatzes und wird mir in der nächsten halben Stunde den genauen Wortlaut per E-Mail zuschicken.“ Langsam nimmt er seine Hand von Jalmas Knie. „Außerdem habe ich ihn unter einem Vorwand dazu bekommen mir zu berichten, was da im Landtag jetzt eigentlich vor sich geht. Die Antwort kam leider auch schon schneller, als ich mich hätte drauf einstellen können. Er sagte, er wüsste selbst nicht, warum er es noch länger verschweigen sollte, da er ja ohnehin seinen Job verloren hätte und er niemandem mehr Rechenschafft schuldig sei.“ Mit ernstem Ausdruck wendet er sich Jalma zu, die gespannt an seinen Lippen hängt. „Jalma, der Bundespräsident ist nicht erreichbar, da er sich seit vier Wochen im US-Bundesstaat Nevada aufhält. Nevada ist die politische Hauptzentrale der neuen Weltpartei GPA und wird es auch unanfechtbar bleiben.“ Jetzt muss auch Jalma ihrer Verzweiflung Luft machen und grätscht ihrem Partner ins Wort. „Moment mal Nikolas, bist du es nicht immer, der sagt für einen guten Anwalt gibt es das Wort unanfechtbar nicht?“ Ein tiefes Ausatmen. „Ja, das sage ich immer, aber Jalma, hier geht es nicht um irgendeinen Rechtsverstoß oder ein Verbrechen, hier geht es um einen weltweiten Zusammenschluss, der … wie sage ich das jetzt am besten? Einen weltweiten Zusammenschluss, der politischen Meinungen, ich meine, es gibt keine einzelnen Parteien mehr. Aus jedem Land ist unter den jeweiligen Politikern des Landes ein Kandidat gewählt worden, der sein Land vertritt. Das bedeutet, dass aus jedem Land ein Politiker und sein jeweiliger Stellvertreter dieser Weltpartei beitreten. Also egal, ob aus Japan, den USA, Deutschland, den Philippinen oder Burundi, in jedem Land werden alle Politiker entmachtet, außer den zwei gewählten Kandidaten.“ In Jalmas Kopf sprudeln die Rechtsverstöße gegen mindestens hundert Menschenrechte. Stotternd wendet sie sich Nikolas zu. „Abbb...er , wie, kkk…ann, denn so ettt…was.“ Sie stoppt, um sich zu fassen und versucht es erneut. „Aber, wie kann so etwas denn überhaupt funktionieren, ich meine wir leben doch in einer Demokratie, alleine das Bundeswahlgesetz wird hier in nahezu allen Abschnitten gebrochen, angefangen mit Abschnitt 1 § 1!“ Nikolas stoppt seine Partnerin. „Ja Jalma, das ist mir auch klar, ich habe auch Jura studiert. Viel drastischer finde ich Artikel 20 Absatz 2.“ Einen Moment muss Jalma nachdenken. „Ja, du hast recht, alle Staatsgewalt geht vom Volk aus. Wir müssen dagegen vorgehen.“ Nikolas springt auf, rauft sich durch seine Haare und dreht sich, nachdem er zweimal energisch in seinem Büro auf und ab gelaufen ist, abrupt zu Jalma um und schreit durch den Raum. „Ja, das ist richtig Jalma, aber es scheint so, als wäre unser gesamtes Rechtssystem mir nichts dir nichts aus den Angeln gehoben und im nächsten Abfluss versenkt worden, also könntest du bitte aufhören zu denken, dass das geändert werden kann. Das ist unanfechtbar, selbst der beste Anwalt könnte nicht den Entschluss der ganzen Welt umkehren. Es gibt jetzt eine neue Weltordnung und wir müssen wohl die nächsten Tage abwarten, um herauszufinden, welche Gesetze unseres Grundgesetzes immer noch in Kraft bleiben.“ Er legt etwas mehr Zärtlichkeit in seine Stimme. „Ich würde dir auch gerne mehr sagen, wirklich, das kannst du mir ruhig glauben, aber nicht nur deine Welt, sondern auch meine stürzt gerade in sich zusammen.“


Was ein merkwürdiger Tag das gewesen ist und alles hat mit dieser einen Mail angefangen, die alles veränderte. Als sie nach dem Gespräch mit ihrem Partner aus seinem Büro tritt, sind die meisten bereits gegangen. Erschöpft schlendert sie durch den Vorraum und durchquert langsam die Glastür, die in ihr Büro zurückführt. Sie betätigt ihre Schreibtischlampe und den Schalter des Oberlichtes und setzt sich auf den Schreibtischstuhl, um das E-Mail-Programm zu schließen. Weil das natürlich nicht so klappt, wie sie sich das vorgenommen hat, beantwortet sie noch die nächsten drei Stunden Mails, die komplett unerwartet heute unbedingt noch beantwortet werden müssen. Nachdem sie die letzte Zeile geschrieben und die Mail mit ihren Initialen versehen hat, drückt sie den kleinen „Senden“-Knopf, der unter der Mailzeile bereits darauf wartet den Feierabend antreten zu dürfen. Mit einem erleichtert klingenden „wischsch“ verabschiedet sich die Mail in die Tiefen der Mailübermittlung. Jalma drückt die Fäuste in die schmerzenden Augen, vermutlich hat sie es heute ein wenig übertrieben, aber in Anbetracht der Tatsache, dass es vermutlich der letzte Tag sein würde, an dem alles so war, wie es sein soll, ist sie froh noch ein wenig länger geblieben zu sein. Erschöpft löst sie die Hände vom Gesicht, fährt den Computer herunter und klappt den Laptop, den sie manchmal als zweiten Bildschirm nutzt, zu. Während der Laptop in ihrer braunen Aktentasche verschwindet, tippt sie eine Nachricht für ihren Neffen in ihr Handy – Bin im Büro aufgehalten worden, komme jetzt aber nach Hause, um diese Uhrzeit sollte ja auch nicht mehr so viel Verkehr sein, freue mich auf dich –, dann folgt auch das Handy dem Laptop in die Tiefen der Tasche. Im Gehen schaltet Jalma die Schreibtischlampe aus, greift nach ihrer Tasche und verschwindet, nicht bevor sie das Deckenlicht löscht, durch die Glastür in den Vorraum. Langsam schlendert sie durch ihn hindurch zu den Fahrstühlen. Im Vorbeigehen wirft sie einige Akten auf den Schreibtisch ihrer Gehilfin und begibt sich in eine der Fahrstuhlkabinen, als ihr das Licht auffällt, das aus dem Büro ihres Partners scheint. Einen Moment ringt Jalma mit sich. Da sie ja eigentlich versprochen hat nicht immer so lange zu arbeiten, entscheidet sich dann aber doch dafür, der Ursache auf den Grund zu gehen. Im letzten Moment wischt sie durch den Spalt der sich schließenden Fahrstuhltür, klemmt ihre Tasche unter den Arm und schreitet erneut durch den Vorraum. Im schwachen Licht des Computerbildschirms betrachtet sie ihren Partner, seine blonden Haare stehen ihm in alle Richtungen, die Kontaktlinsen sind der Brille gewichen und die Krawatte liegt glattgestrichen auf der steifen Couch. Einige der Bücher haben ihren Weg anscheinend nicht zurück in das Bücherregal gefunden und liegen, mal offen, mal zu, quer durch das Büro verteilt. Sanft klopft sie an die Glastür und lächelt ihrem Kollegen aufmunternd entgegen, als der seine Augen vom Bildschirm löst und Jalma verdattert durch die dicken Gläser seiner Brille entgegenschaut. Beschämt springt er auf und fängt unbeholfen an seinen Anzug zurechtzuzupfen und hie und da einige Papiere und Akten zu ordnen. „Jalma, du bist noch hier?“, spricht der große Mann zu ihr, die durch die Tür ins Büro schlüpft. Bevor Jalma den Schreibtisch erreichen kann, was in Anbetracht des Minenfelds aus Büchern und Akten keine leichte Sache ist, reißt er sich noch schnell die schwere Brille vom Gesicht. „Das Gleiche könnte ich auch über dich sagen“, entgegnet sie verschmitzt, greift nach der Brille und setzt sie liebevoll zurück auf Nikolas’ Nase. „Ich weiß, wie du damit aussiehst, also keine falsche Scheu, außerdem weiß ich sehr wohl, dass du ohne das Ding nahezu blind bist.“ Jalma meint eine leichte Röte im bläulichen Licht des Bildschirms erkennen zu können und schmunzelt ein wenig über den sonst so ernsten Anwalt. „Ja, ich bin nur hier, weil ich …, ich also …, ich noch einen Fall vor morgen durchgehen muss“, druckst Nikolas herum und nickt dabei ein wenig zu bestätigend. „Nikolas, ich weiß, warum du hier bist, mach mir doch nichts vor, hast du denn schon was Brauchbares gefunden?“ Bestürzt sinkt sein Kopf ein wenig tiefer zu Jalma herunter. „Nein“, ein leichtes Kopfschütteln, „ich habe leider noch nichts Brauchbares finden können, es gibt zwar einen ganzen Haufen von Gesetzen, die gebrochen wurden, die man auch nicht durch Ausnahmeregelungen brechen darf, aber keine ist ausschlaggebend genug, um ein so drastisches Urteil zu mildern oder sogar rückgängig zu machen. Ich habe in den Gesetzgebungen vieler Länder nachgeschlagen und da ich mich nicht so gut mit anderen Rechtssystemen auskenne, auch mit befreundeten Anwälten telefoniert. Die meisten wussten noch gar nichts von dem Zusammenschluss und konnten sich deswegen noch nicht in das Thema einarbeiten; die, die es wussten, denen ging es genau wie mir, sie sind ratlos. Auch in ihren Ländern müsste man mehr als ein Dutzend Gesetze brechen, um so etwas durchzubekommen.“ Jalmas Augen blitzen für einen kurzen Moment auf. „Aber Nikolas, das bedeutet ja, dass wir vielleicht doch eine Chance haben, ich meine, Gesetze dürfen ja nicht einfach außer Kraft gesetzt werden.“ Ein mitleidiger Blick wandert Jalma entgegen. „Jalma, wenn alle Regierungen der Welt offenbar, ohne mit der Wimper zu zucken, ihre Macht abtreten und sich mit vorher verfeindeten Ländern zusammenschließen, dann steckt da etwas in einem Ausmaß hinter, das niemand aufzuhalten vermag, erst recht nicht eine mittelgroße deutsche Anwaltskanzlei.“ Jalma hat das Ende von Nikolas’ Ausführungen kaum mehr mitbekommen, in ihrem Kopf drehen sich die Informationen, wie in einem Kaleidoskop und fallen wie bunte Steine zu immer neuen Horrorszenarien zusammen, die es nicht zulassen einen klaren Gedanken zu fassen. Ihre Beine werden zu Gummi und der Boden wird ihr unter den Füßen weggerissen. Nikolas, der erst jetzt richtig mitbekommt, dass seine Gesprächspartnerin immer weniger aufmerksam wirkt, bekommt im letzten Moment noch ihren Arm zu fassen, fängt sie, kurz bevor sie auf einen der Bücherstapel fallen kann, ab und stemmt die kleine Frau nach oben in seine Arme. Vorsichtig, mit Jalma im Arm, kraxelt er über die vielen Bücher hinweg, hin zu seinem Sofa. Mit einer der Akten wedelt der Anwalt ihr ein wenig Luft zu, da das Fenster zu öffnen keine besonders erfrischende Alternative gewesen wäre.

Erst als sich das Kaleidoskop in ihrem Kopf beruhigt hat und sich ihre wirren Gedanken gelegt haben,

stemmt sie sich in eine aufrechte Position und wendet sich dem auf einem Bücherstapel sitzenden Nikolas zu. „Wenn die Regierungen der Welt so einen drastischen Zug wie diesen machen, muss es doch einen mindestens genauso drastischen Grund dafür geben. Ich verstehe nur nicht welchen. Ein Nuklearkrieg?“ Nikolas erhebt sich von seinem Stapel und beugt sich zu seinem Schreibtisch hinüber. Von der Tischkante zieht er einen Zeitungsbericht, das kleine gläserne Okapi, das seit Jalma Nikolas kennt, neben seinem Bildschirm steht, wäre dabei fast mitgerissen worden, wenn Nikolas es nicht am Wanken gehindert hätte. Langsam reicht er Jalma den Bericht. „Nein, kein Nuklearkrieg Jalma.“ Die dunkelhäutige Frau betrachtet ein wenig skeptisch das Titelblatt in ihren Händen. Dritter Brand des Jahres im Amazonas steht da. Verwirrt und skeptisch richtet sie ihr Wort wieder an Nikolas. „Das alles wegen des Regenwalds?“, erwidert sie mit Spott in der Stimme. „Mann, Jalma! Ich verbuche das jetzt mal auf die vorangeschrittene Stunde. Nicht der Regenwald, die gesamte Umwelt. Denk doch mal an den Umweltparagraphen und seine ziemlich drastischen Absätze. Das alles ist nur möglich, wenn sich eine Weltpartei bildet, die zusammen, ohne demokratische Entscheidungen treffen zu müssen, als Diktatur agiert und diesen Paragrafen veröffentlicht. Das alles würden sie nur machen, wenn sie etwas wüssten, was wir nicht wissen. Vermutlich etwas so Gewaltiges, das diese über den Maßen drastische Entwicklung rechtfertigen würde.“ Mit einem Finger tippt er auf den Zeitungsartikel, der immer noch in Jalmas Händen liegt. „Du meinst, sie wissen etwas über unseren Planeten, etwas so Drastisches, dass sie es der Menschheit nicht mitteilen?“ Nikolas zuckt mit den Schultern, für den Bruchteil einer Sekunde kommt es Jalma dabei so vor, als würde er seine Ahnungslosigkeit nur vortäuschen, doch als der Mann weiterspricht, vergisst sie ihren Gedanken rasch wieder. „Ja, das vermute ich zumindest, ich denke aber schon, dass sie es uns irgendwann sagen werden, um das alles zu rechtfertigen. Drastische Situationen verlangen drastische Maßnahmen.“ Jalma versucht ihren dicken Speichel herunterzuschlucken. „Du meinst, die Erde stirbt?“ Nikolas dreht sich aufgebracht herum. „Dieser Planet stirbt doch schon seit mehreren Jahren, wenn ich es mir genau überlege, seit ich geboren bin. Vielleicht ist das, was da passiert, das Richtige, wer weiß das schon.“ Für einen Moment bleibt es ruhig in dem großen Büro, keiner der beiden wagt es die Stille zu durchbrechen.

Aber wie mit allen endlos scheinenden Stillen bricht auch diese und Jalma erhebt sich vorsichtig vom Sofa, schreitet über die Bücher hinweg zum Schreibtisch und schaltet die Schreibtischlampe an. „Bleib nicht mehr so lange Nikolas und arbeite nicht im Dunkeln, das strengt die Augen zu sehr an.“ Der zerzauste Mann kneift die Augen fest zusammen und schirmt mit der freien Hand das Licht ab. Jalma, die sich auf eines der Bücher stehend zu ihm herüberbeugt, greift nach seiner Hand und drückt sie einmal aufmunternd. Bevor sie dann jedoch durch die Glastür verschwindet, dreht sie sich nochmal zu dem verloren wirkenden Mann herum. „Ich hoffe du irrst dich mit deinen Vermutungen.“ Eine knappe Erwiderung. „Das hoffe ich auch Jalma.“ Dann schlüpft die zierliche Frau durch die Tür und verschwindet ein wenig später in den Fahrstuhl, der sie in die Tiefgarage bringt.


In der Tiefgarage herrscht eisige Stille, nur die Luft ist es, die der gespenstischen Ruhe die Kälte raubt. Die Luft zwischen den Betonpfeilern ist so dick und heiß, als fordere sie Jalma heraus, sie auf der Stelle zu zerschneiden. Jalma wabert durch die heiße Luft hindurch. Ihr Auto steht ganz hinten in der letzten Reihe und ist neben dem windschnittigen Dukjon SR 5 das einzige auf der gesamten Etage. Jalma öffnet schnell die Tür des Mercedes, um der heißen Luft der stickigen Tiefgarage nicht länger ausgeliefert zu sein, und schlüpft auf den mit Leder bezogenen Fahrersitz. Leider bringt auch der saubere Innenraum des Autos keine Abkühlung und Jalma wirft stöhnend ihre Aktentasche auf den Beifahrersitz. Mit einer Hand greift sie nach dem Sicherheitsgurt, mit der anderen betätigt sie den Startknopf ihres Wagens. Mit einem Fuß auf der Kupplung wäre sie jetzt bereit loszufahren, aber irgendetwas tief in ihr hält sie davon ab den Fuß vom Pedal zu nehmen. Wie Blei liegt er auf der Kupplung und bewegt sich keinen Zentimeter vom Fleck. In Jalmas Unterbewusstsein steigen einige Worte auf, die Nikolas heute zu ihr gesagt hat „Dieser Planet stirb doch schon seit einigen Jahren“. – Mann Jalma, solltest du jetzt wirklich Gewissensbisse haben?–, spricht sie zu sich selbst, während sie versucht ihr schlechtes Gewissen beiseitezuschieben. Einen Augenblick hört sie dem Brummen des Motors zu und überlegt heute einfach die Straßenbahn zu nehmen, als die Klimaanlage anspringt. Wie erlöst rutscht der Fuß von der Kupplung und der Wagen rollt los. Als sie an Nikolas’ Sportwagen vorbeirollt, schmunzelt sie über sich selbst. Als sie den Wagen die Rampe herunterrollen lässt, die aus dem Tiefgaragendschungel hinausführt, spürt sie die Gewissensbisse nur noch leicht gegen ihre Brust klopfen und während sich der Wagen auf die mittlerweile leere Straße schiebt, ist das Gefühl bereits verschwunden.

Der Weg nach Hause geht an diesem Abend tatsächlich sehr schnell, der Verkehr auf der Autobahn hält sich in Grenzen und die Luft wird, umso näher sie ans Meer kommt, immer kühler und die dicken Smogwolken der Stadt verziehen sich beinahe komplett, was heißt, es sollte eine klare Nacht werden. Ab und zu blinzelt Jalma durch das Panoramadach ihres Wagens und stellt sich vor die Sterne durch den Smog hindurch sehen zu können. Natürlich sieht sie keinen Einzigen der Sterne und als der Mercedes das kleine Küstendorf erreicht hat und der Smog nur noch in leichten Schleiern durch die Luft schwebt, sind dicken Wolken über dem Meer aufgezogen, die die Sterne vor ihren Augen verbergen. Sie stellt den Motor ab und greift nach ihrer in den Fußraum gerutschten Tasche. Einige der Papiere sind herausgefallen und während sie nach ihnen greift, gleitet ein kleines Foto aus einer der Akten und landet unter dem Beifahrersitz. Fluchend steigt sie aus dem Wagen, stampf um das Auto herum, reißt genervt die Beifahrertür auf und greift beherzt unter den Sitz. Für einen Moment schiebt sie ihre Hand in der Dunkelheit unter dem Sitz hin und her, bis ihre Finger plötzlich an etwas Kühles stoßen. Verwundert, was der unerwartete Gegenstand sein kann, zieht sie ihn hervor und hält ihn unter die Lampe der offenen Tür. In ihrer ausgebreiteten Handfläche liegt ein Ring. Der kleine Diamant, mit dem er besetzt ist, funkelt im Licht und Jalma schaudert über das glattpolierte Silber und die so fein gearbeiteten Verzierungen in der Innenseite. Ein Schmerz zuckt ihr durch die Brust und erinnert sie grob an den Mann, den sie geliebt und dem sie diesen Ring zu verdanken hat. Kurz fragt sie sich, ob sie ihn heute heiraten würde, doch auch jetzt, nach all den Jahren, die seitdem vergangen sind, kann sie sich nicht entscheiden, ob es die Liebe ist oder doch der Hass überwiegt. Mit geschlossenen Augen hält sie den Ring an ihre Brust und fühlt tief in den Schmerz hinein, dann wirft sie ihn achtlos in die Seitentür des Mercedes, klaubt ihre Dokumente und Unterlagen aus dem Fußraum, stopft sie zurück in die Aktentasche und schlägt die Autotür mit solcher Wucht ins Schloss, dass ihr Neffe die Haustür der großen Villa öffnet und verwundert seinen Kopf durch den Türspalt schiebt.

Der Junge steht im Lichtschein des Flurs, das Jalma so stark blendet, dass es ihr unmöglich ist ein klares Bild ihres Neffen zu erhaschen. Schützend hält sie die Hand vor die Augen und blinzelt in das grelle Licht hinein. „Kaleo, bist du es?“ Jalma meint, das Schmunzeln hören zu können, das über die Lippen des Jungen huscht. „Ich hoffe doch, dass ich es bin, oder erwartest du um diese nächtliche Stunde noch andere Männer in deiner Haustür?“ Langsam gewöhnen sich ihre Augen an das Licht und sie beginnt über die geschotterte Einfahrt zu laufen. Sie spürt den Kies unter ihren Füßen knirschen und das Knarren der alten hölzernen Treppe, die zur Veranda hinaufführt. Auf dem Treppenabsatz angekommen hält sie einen Moment inne und tut so, als wäre ihre Aktentasche so schwer, dass sie es kaum über die Veranda schaffen könne, dabei lugt sie immer wieder zu ihrem Neffen hinüber, dem ein breites Lächeln im Gesicht steht. „Auntie, ich bin aus dem Alter wirklich raus, wo ich so etwas lustig finde.“ Ihren Neffen erreicht, streicht sie ihm einmal liebevoll durch die wirren Haare. „Ich weiß, ich weiß, aber es kommt mir gar nicht lange her vor, da warst du noch ein kleiner Keiki und du warst so süß und hast über alles gelacht.“ Wieder ein Schmunzeln auf seinem Gesicht. „Jetzt lache ich eben über andere Dinge. Warum bist du eigentlich so spät, du meintest doch, es sei nicht mehr so viel Verkehr um diese Uhrzeit.“ Etwas genervt versucht er dabei seine Haare wieder in einen, aus seiner Sicht, vernünftigen Zustand zu bringen, nimmt seiner Tante die Aktentasche aus der Hand, tritt durch die Eingangstür, schiebt mit dem Fuß die Tür ins Schloss und folgt ihr durch den Flur ins Haus. „Ja, es war leider doch noch ziemlich viel Verkehr und ich stand lange im Stau“, lügt sie den Jungen an, denn heute ist nicht der Tag ihm die Wahrheit zu erzählen. Jalma drückt auf den Autoschlüssel, von der Einfahrt hört man ein Piepen, dann wirft sie den Schlüssel in die kleine Schale auf dem Esszimmertisch. Ihr Neffe legt währenddessen die schwere braune Tasche auf die Kommode im Flur, streift durch die Tür ins Wohnzimmer und schmeißt sich auf das große gelbe Sofa. Jalma greift nach den Briefen, die neben der Schale auf dem Esszimmertisch liegen, und läuft abwesend zu den Flügeltüren, die sie ins Wohnzimmer führen. Sie lehnt sich gegen den großen hölzernen Türrahmen und beobachtet ihren Neffen, der das Sofa anscheinend den ganzen Tag nicht verlassen hat. „Die Schulleitung hat heute bei mir angerufen“, nun beginnt sie den ersten der Briefe zu lesen, beobachtet ihren Neffen aber scharf über die Kante des Briefbogens hinweg, „sie sagten mir, dass du heute nicht in der Schule erschienen bist. Sie fragten mich auch, was der Grund dafür sei. Ich sagte ihnen, dass du heute krank bist und dass ich einfach noch nicht dazugekommen wäre die Schule zu informieren. So ist es doch, oder? Du bist doch krank? Warum solltest du denn sonst nicht zum Unterricht erscheinen.“ Mit leichtem Vorwurf in der Stimme sieht sie von dem Brief auf und fixiert ihren Neffen, um seine Reaktion auf das Gesagte zu beobachten. Der setzt sich etwas schuldbewusst auf und fängt an sich hinterm Kopf zu kratzen. „Na ja, also, du musst wissen, dass ich ..., ich …, eigentlich wirklich krank bin.“ Jalma lässt die Briefe sinken, läuft durchs Wohnzimmer und setzt sich neben ihren Neffen auf das gelbe Sofa. Liebevoll schlingt sie die Arme um ihn und drückt ihn so fest an sich, als könne sie so zumindest sein Leben zusammenhalten. „Kaleo. Liebeskummer ist keine anerkannte Krankheit, es mag sein, dass es sich genauso anfühlt oder sogar noch schlimmer, aber trotzdem darf man sich nicht auf einem großen gelben Sofa verkriechen und die Schule schwänzen. So reizvoll es dir auch erscheinen mag.“ Kaleo druckst weiter. „Mmh, ja so ist es ja nicht, also irgendwie ja schon, aber vielleicht war gestern ja wirklich irgendwas bei ihr los und sie hat das Kino nur vergessen. Sie hat mich bestimmt nicht versetzt, so ist sie einfach nicht. Ich will da irgendwie auch nicht drüber sprechen.“ Kaleo entzieht sich der Umarmung seiner Tante und rutscht auf die andere Seite des Sofas unter eine Decke. „Du hättest darüber auch nicht reden müssen, wenn du heute zur Schule gegangen wärst. Bist du aber nicht, ich habe für dich gelogen und das bist du mir schuldig.“ Genervt zieht der Junge die Decke über seinen Kopf und brummt Jalma entgegen: „Och, ja was willst du wissen?“ Jalmas Lippen kräuseln sich bei dem Versuch ihren Triumph zu überspielen. „Glaubst du nicht, dass sie dir geschrieben hätte, egal was los gewesen ist? Ich kenne dieses Mädchen nicht so gut wie du, aber meintest du nicht, dass sie deine Nachrichten sogar gelesen hat?“ Wieder ein Stöhnen. „Ja, sie hat sie gelesen, aber erst am nächsten Tag, keine Ahnung warum, ich bin kein Mädchen, du bist doch eins, sag du es mir.“ Nun muss Jalma doch lachen, sie erhebt sich von dem Sofa, gibt der Decke, unter der sich ihr Neffe immer noch verbirgt, einen Kuss, wandelt mit den Briefen zurück ins Esszimmer und antwortet im Gehen in einem leichten Singsang: „Ja, ja, unsere Wege sind unergründlich.“

Erschöpft überfliegt sie die restlichen Briefe, bevor sie sich hungrig über den Kühlschrankinhalt her macht. Da ihre letzte Mahlzeit schon eine Weile her ist, fällt sie über das Essen her wie eine Termitenschar. Als sie den letzten Joghurt verdrücken will, stürmt ihr Neffe in die Küche und hält ihr erschrocken sein Handy unter die Nase. „Hier, sieh, was mir Lila geschrieben hat!“ Etwas irritiert schiebt sie das Handy auf mehr Abstand zu ihren Augen und zwängt sie zusammen. „Kaleo, ich bin zwar kein Greis, aber ich kann auch in meinen so jungen dreißiger Jahren mit diesen neuartigen Dingern nicht umgehen, ließ es mir doch bitte vor.“ Kaleo räuspert sich. „Sie hat geschrieben, dass ihr und Evelins Vater im Krankenhaus sind, es gab wohl einen schlimmen Brand in der Werkshalle.“ Jalma fällt der Löffel aus der Hand, den sie gerade in ihrem Mund platzieren wollte, dabei verteilt sich der Löffelinhalt auf dem Fußboden. Kaleo, der sich direkt einen Lappen greift und den Joghurt von Jalmas Socken und dem Boden befreit, schaut fragend zu seiner Tante herauf. „Alles okay, Auntie?“ Jalma verfällt in ein merkwürdiges Starren. „Ja, das war nur ein Versehen, entschuldige. Wo sagtest du arbeitet Evelins Vater noch gleich?“ Kaleo erhebt sich und nimmt seiner Tante den Joghurt aus der Hand, um einem weiteren Unglück zu entgehen. „Bei Dukjon, warum ist das wichtig?“ Mit einem Kopfschütteln reißt sich Jalma aus ihren Gedanken, streicht ihrem Neffen über die Schulter und lächelt ihm mitfühlend zu. „Das ist nicht wichtig, nur aus Interesse. Wirst du hinfahren?“ Kaleo zuckt mit den Schultern. „Wenn du mich lässt, würde ich schon gerne. Darf ich den Wagen nehmen?“ Jalma schreitet an ihrem Neffen vorbei zurück ins Esszimmer, nimmt den Schlüssel des Mercedes aus der Schale und hält ihn fest in der Hand Kaleo hin. „Ich lasse dich fahren, unter der Bedingung, dass du trotz der Sorgen, die du dir machst, langsam und vorsichtig fährst. Hast du mich verstanden?“ Ein knappes „Ja“, und Jalmas Miene wandelt sich in Ernsthaftigkeit. „Hast du mich verstanden?“ Ein Augenrollen. „Ja Auntie, ich habe dich verstanden und werde vorsichtig fahren, obwohl ich aufgewühlt bin!“ Jalmas hartes Gesicht weicht wieder dem sonst so sanften und ihre Hand öffnet sich, um den Schlüssel frei zu geben. Kaleo greift nach dem nun offen daliegenden Autoschlüssel, streift seine Schuhe über und verlässt, nicht ohne seiner Tante noch einen Kuss auf die Wange zu geben, das Haus. Jalma läuft vom Esszimmer in die Küche und sieht ihrem Neffen besorgt durch das Küchenfenster hinterher. Die roten Rücklichter des Mercedes brennen noch einen Moment auf ihrer Netzhaut nach. „Ein Brand bei Dukjon,“ spricht sie zu sich selbst, „mag man nur hoffen, dass es nur ein Unfall war.“ Danach schlendert sie durch die Küche ins Esszimmer, durch die großen Flügeltüren ins Wohnzimmer und lässt sich erschöpft auf das gelbe Sofa fallen. Einen Moment sitzt sie da und sieht dem Tag nach, dann werden ihre Augen schwerer, ihr Körper ruhiger und Jalma gönnt ihm endlich die Ruhe, nach der er sich so sehr sehnt.

§4253

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