Читать книгу §4253 - Nathalie D. Plume - Страница 12
8. Rügen, Deutschland
ОглавлениеEin stechender Schmerz. Er blinzelt. Einmal. Zweimal. Eine leichte Drehung zur Seite. Wieder ein stechender Schmerz. Was war passiert? Da sind keine Geräusche, eine schreiende Stille oder ist da doch etwas? Da ist doch ein Klopfen? Oder ist es nur sein eigenes Herz, das er hört? Nein, da ist es wieder, viel zu unregelmäßig für einen Herzschlag. Vorsichtig versucht Paul seine Augen zu öffnen, doch irgendetwas hält ihn davon ab. Oder hat er die Augen offen und ist es nur dunkel, so dunkel, dass er es nicht unterscheiden kann? Wo ist er überhaupt? Liegt er oder steht er? Wieso kann er da keinen Unterschied machen? Wieder ein Klopfen, nun unterstützt durch ein Beben. Bebt er? Oder ist es der Boden? Dann plötzlich und vollkommen unerwartet löst sich etwas von ihm, etwas sehr Schweres scheint sich von seinem Körper zu entfernen, es scheint fast so, als würde jemand einfach ein Teil von Paul wegnehmen und es mit sich nehmen. Es folgt eine Erleichterung, er fühlt sich leicht und endlich so, als würde er wieder Luft bekommen. Gierig saugt Paul die Luft um ihn in seine Lungen, doch anstelle des erhofften Sauerstoffs atmet er nur den heißen Rauch ein, der sich um ihn herum auszubreiten scheint. Dem Schmerz durch die Hitze, dem panischen Versuch den heißen Rauch wieder auszuhusten und dem darauffolgenden verzweifelten Ringen nach frischer Luft folgt die Erinnerung, die sich wie eine Explosion in seinem Kopf Platz zu machen versucht. Die Firma, ein Feuer, der § 4253, das Produktionsende, der Schlag auf seinen Hinterkopf und die darauffolgende Dunkelheit. Die Erkenntnis über seinen Aufenthaltsort lässt Paul panisch werden, verzweifelt versucht er Helligkeit zu erlangen, doch mehr als das rote Licht der Flammen dringt nicht durch Pauls geschlossene Lider. Wieso bekommt er seine Augen nicht auf? Hustend und nach Luft ringend rollt er auf dem heißen Boden hin und her und versucht panisch seine Beine auf den Boden zu stellen und sich zu erheben, doch sein Kopf will es nicht zulassen. Alles dreht sich, er kann einfach nicht herausfinden, wo oben und wo unten ist. Wenn er nur endlich Luft bekommen würde. Da, wieder dieses Klopfen, aber das ist kein Klopfen, da ist Paul sich mit jedem Mal sicher, es ist eine Stimme, eine tiefe schreiende Stimme. Sie muss zu einem Mann gehören. Da war doch jemand. Wieder ein Rufen, jemand ruft seinen Namen. Dann hebt er vom Boden ab, für einen Moment scheint es, als würde er fliegen, doch dann spürt er die zwei Hände unter seinen Axeln, die an ihm zerren. „Paul, Paul, Paul, Paul, bitte, bitte, komm doch zu dir, ich bekomme dich nicht hoch, Paul, bitte.“ Er kennt diese Stimme, langsam wie in Zeitlupe versucht er die Lippen voneinander zu lösen und etwas zu sagen. „Peeelix?“ ist das Einzige, was er herausbekommt, bevor er wieder hustend zu Boden fällt. „Ja Paul, ich bin es. Oh bitte, bitte, wir müssen hier weg, die Stahlträger können das Gebäude nicht länger aufrecht halten, noch ein paar Sekunden und wir sind zerquetscht, bevor wir verbrannt sind.“ Zerquetscht. Verbrannt. Hier weg. Die Worte schallen in Pauls Gehörgang. „Ugen, Ugen, nicht psehen.“ „Ugen? Oh Paul, ich versteh dich nicht.“ Unter all seiner Kraftanstrengung versucht Paul, seine Hände vor sein Gesicht zu halten, der Bewegung folgen jedoch nur weitere Schmerzen, die ihn zusammenzucken lassen. Felix, der die Andeutung, jetzt endlich verstanden hat, reagiert nur mit noch mehr Panik in seiner Stimme. „Ah, deine Augen, du kannst nichts sehen! Bitte Paul, das ist jetzt erst mal egal, ich führe dich, aber bitte erhebe dich doch.“ Wieder ein Zerren unter seinen Axeln. Noch einmal versucht Paul seine Kraft zu bündeln. Warum ist nur alles so anstrengend? Unter entsetzlichen Schmerzen hilft er seinem Freund ihn vom Boden zu stemmen. Es kostet ihn all seine Kraft den Boden zu verlassen, doch diesmal gelingt es den beiden Männern. Leicht auf seinen Freund gestützt, setzt Paul einen Schritt vor den anderen und sie setzen sich endlich in Bewegung.
Es ist das Einzige, auf das er sich konzentrieren kann. Immer wieder wird das rot-gelbe Licht hinter Pauls Lidern intensiver, hier und da ist die Hitze, die an Haut und Haaren leckt, kaum aushaltbar, aber egal was, Paul setzt immer wieder einen Schritt vor den anderen. Manchmal krallen sich Felix’ Finger fester in seinen Arm und hier und da wimmert Felix neben ihm unverständliche Wortfetzen. Irgendwann scheint es Paul, als würden die Schritte leichter, als würde die Hitze um ihn herum einer angenehmen Wärme weichen, und der Wärme folgt, wieder ein wenig später, eine Kühle. Ja, es wird fast schon kalt um ihn, auch das rote Licht hinter seinen Lidern weicht schlagartig der Dunkelheit. Felix Fingernägel lösen sich aus seinem Arm und Pauls Stütze klappt abrupt darauffolgend nach unten. Durch den plötzlichen Stützverlust bricht auch Paul zusammen, seine Knie schlagen auf dem Boden auf, sein Oberkörper kippt nach vorne und zum zweiten Mal an diesem Tag verliert er das Bewusstsein.
Es ist schwer gewesen. Felix kann im Nachhinein auch gar nicht sagen, wie die Situation in der Werkshalle so plötzlich außer Kontrolle geraten konnte. In einem Moment hatte Paul mit seiner Rede alles im Griff und im anderen Moment brannte ein großer Teil der Werkshalle lichterloh in Flammen. Das Einzige, was er noch weiß, ist, dass, nachdem die Arbeiter die Treppe gestürmt haben und in die oberen Stockwerke eingedrungen sind, nichts mehr so ist, wie er es kennt. Er ist auch mehr als nur entsetzt über das Bauverbot und den damit zusammenhängenden Produktionsstopp, er ist auch sauer und hätte am liebsten die ganze Welt dafür verantwortlich gemacht, er hätte genauso gerne irgendetwas Greifbares kleingehackt, aber dass es so weit kommen würde, nein, damit hat niemand rechnen können. Die Meute, die die Treppe stürmt, sind alles Menschen, mit denen Felix jahrelang zusammengearbeitet hat, und von einem Moment auf den anderen verwüsten sie die Einrichtung, prügeln, stehlen und zündeln. Ist es das, was Unwissenheit und Ungerechtigkeit mit Menschen macht? Felix weiß es nicht. Nachdem er aber nach dem groben Sturz auf die Treppe zu sich kommt, sieht er genau das überall um sich herum.
Er reibt sich seinen schmerzenden Ellbogen, Kopf und Rücken, streckt die Gelenke und versucht die Verspannung aus seinem Nacken zu lösen, die sich durch das Nach-hinten-Fallen und den harten Aufprall festgesetzt haben. Dann steht er auf und beäugt die komplett leere Werkshalle. Keiner ist da. Das hat Felix noch nie gesehen, normalerweise laufen die Maschinen und Roboter Tag und Nacht und selbst während des Schichtwechsels alle neun Stunden bleiben die Maschinen nicht stehen. Doch jetzt läuft keine einzige Maschine und kein Einziger seiner Kollegen bevölkert die Halle. Hinter ihm zerspringt eine Glasscheibe, dem Klirren folgen ein freudiges Lachen und der dumpfe Schlag eines größeren Gegenstands. Als hätte dieses Geräusch seine Sinne geschärft, hört er jetzt auch die Rufe der anderen, die aus den oberen Büroräumen kommen. Hastig und mit großen Sprüngen eilt er mit seinen langen Beinen die Stufen nach oben und betritt das Stockwerk, in dem auch Paul zuvor verschwunden ist. Vor seinen Augen tobt das reinste Chaos, angsterfüllt über die Situation bleibt er in dem Gang stehen und erstarrt durch den Schock des Anblicks. Das große Kopiergerät liegt neben der Kaffeemaschine in einem Scherbenhaufen, der wohl von der Glasscheibe des Aufenthaltsraums kommt. Zwei Männer, die normalerweise zwei Stationen vor Felix arbeiten, treten auf den Kopierer ein, der als solcher kaum noch zu erkennen ist. Unter seinen Schuhen knirscht das Glas, das überall im Flur liegt. „Mending! Komm her und hilf uns die Faxgeräte zu holen“, ruft ihm einer der Männer zu. Felix, der sich erschrocken aus seiner Erstarrung löst, starrt angeekelt in Richtung der Männer, dreht sich auf dem Absatz um und rennt wortlos die zweite Treppe zu den Büros nach oben. Hier ist es fast noch schlimmer als im Gang zuvor, offenbar hat die Meute am Flur zuvor ihren Spaß verloren und begonnen die oberen Büroräume zu zerfetzen. Einige der Frauen, die sonst in der Lackiererei arbeiten, tragen den schweren, klobigen Schreibtisch aus Pauls Büro und versuchen ihn, unter tosendem Beifall, die Treppe hinunterzuschieben, die Felix gerade nach oben gekommen ist. Schnell weicht er dem schweren hölzernen Schreibtisch aus, der mit einem gewaltigen Poltern die Treppe heruntersegelt. In Felix beginnt Hass zu brodeln. Es ist purer Hass, der sich in Felix’ Körper ausbreitet. Sollten die sich doch an ihren eigenen Sachen vergreifen. Wütend packt er eine der Frauen, um sie zur Rede zu stellen, doch noch bevor er seinem Ärger Luft machen kann, segelt eine Faust gegen seine Schläfe. Er taumelt. Der Schmerz, den sein Körper vorausschickt, tritt schneller ein als die Erkenntnis, was gerade geschehen ist. Die Frauen und Männer um ihn herum schreien und jubeln, als er zu Boden geht. „Das hast du jetzt davon, Felix, wenn du immer mit den Obrigkeiten in die Pause gehst.“ Ein heftiger Tritt fährt in Felix’ Magengrube und lässt ihn sich auf dem Boden krümmen. „Na Felix, wie gefällt dir das? Jetzt ist nicht mehr der große, starke Paul Barens da, der dich beschützen wird, was?“ Ein zweiter Tritt folgt und dem ein dritter und vierter. Felix’ Kopf dröhnt und irgendetwas in ihm schaltet auf Automatik. Er schließt die Augen und lässt es geschehen. Doch nachdem der fünfte Tritt sein Schienbein trifft, hören die Schreie plötzlich auf, es scheint, als wäre einer aus der Meute hervorgetreten, um für Felix einzuspringen, als wäre einer gegen das, was da gerade geschieht, und würde nicht nur zusehen und es geschehen lassen. Die Kerle, die zuvor noch auf Felix eingedroschen haben, lassen von ihm ab und drehen sich in die Richtung, aus der der Einwand gekommen ist. Es folgen einige hitzige Worte, die Felix über das Dröhnen in seinem Kopf nicht verstehen kann. Dann ein wildes Wortgefecht und ehe er sich versieht, liegt er inmitten einer riesigen Schlägerei. Panisch beginnt er sich zwischen der trampelnden Horde nach vorne zu ziehen, immer ein kleines Stück weiter, ganz langsam, ganz vorsichtig. Hier und da tritt ihm jemand auf die schmerzenden Finger oder fällt versehentlich über ihn, aber irgendwann, nach einer schieren Ewigkeit, hat Felix die blaue Tür erreicht, durch die Paul früher am Tag mit dem zerknüllten Brief von Dukjon gerauscht ist. Mit zitternden, gekrümmten Fingern lässt er sie vorsichtig und so leise wie möglich ins Schloss fallen, lehnt sich mit pochendem Gesicht gegen sie, um sie wenigstens mit seinem Gewicht zuzuhalten, und hofft, so stark er kann, dass er als Einziger dieses Versteck wählen wird. Ihm wird schwarz vor Augen, der Raum um ihn herum beginnt sich zu drehen, schneller und schneller, bis er es nicht mehr schafft seinen Magen zurückzuhalten. Er lehnt sich zur Seite, eine Hand in der Magengegend, die andere zur Stütze auf den Boden, und erbricht sich. Nach der kurzen Erleichterung, die darauffolgt, überkommt ihn die Müdigkeit. Eine Müdigkeit, die so bleiern auf seine Augenlider drückt, dass es unmöglich scheint sich gegen den Drang zu wehren, die Augen nicht doch für einen kurzen Moment zu schließen. Kurz bevor sein Körper sich krampfhaft nimmt, nach was er verlangt, denkt Felix noch das Adrenalin lässt nach, doch dann ist er bereits zur Seite gekippt und fällt in einen unruhigen Schlaf, der wenig Erholung bringen soll.
Ist es der stechende Qualm oder dieses erschreckend laute Geräusch? Er kann es nicht sagen, aber irgendetwas reißt ihn aus seinem Schlaf. Abrupt stemmt er sich vom Boden hoch und stellt sich auf seine Beine. Sein Körper, der auf das unsanfte Erwachen und das damit einhergehende plötzliche Erheben nicht vorbereitet ist, schickt Felix sogleich die Quittung. Seine Augen rollen nach oben, ihm wird wieder schwarz vor Augen, sein Magen krampft sich schmerzend zusammen und versucht sich erneut zu entleeren. Felix hustet die Galle auf den Boden des Büros, mit einer Hand hält er sich an der Kleiderstange fest, die ohne Pauls Jacke erstaunlich viel Stabilität bietet. „Scheiße!“, ruft er. „Verdammte Sch…“ Er verstummt, irgendetwas stimmt nicht, im Flur ist es still, viel zu still für Felix’ Geschmack. Er stolpert leicht hinkend auf den mit Rauch gefüllten dunklen Flur und fällt beinahe über den Körper, der regungslos vor der Tür am Boden liegt. Schockiert beugt er sich zu ihm herunter. Auf den ersten Blick sieht er unverletzt, beinahe schlafend aus, wenn da nicht das viele Blut wäre, das aus seinem Rücken dringt und von einer Wunde stammen muss, die Felix nicht lokalisieren kann. Vorsichtig tippt Felix dem Mann mit seinem Zeigefinger auf die Wange und fährt erschrocken zur Seite. Die Wange des Mannes ist trotz der Hitze des Flurs eiskalt. Felix, der sich konzentriert versucht zusammenzureißen, schiebt den Arm des auf dem Rücken liegenden Mannes unter seinen Bauch und zieht dann von der anderen Seite kraftvoll an seinem Handgelenk. Dank Hebelwirkung rollt der Bewusstlose erst zur Seite, dann auf seinen Rücken. Seine Augen sind merkwürdig aufgerissen. Einer Vorahnung folgend schiebt Felix Zeige- und Mittelfinger unter das Kinn des Mannes und tastet nach seinem Puls. Vergebens greift er auch nach Schläfe und Knöchel, doch auch dort fühlt er nicht das erhoffte Pochen. Die Erkenntnis seiner Informationen folgt sogleich und lässt Felix gefrieren. Der Mann hat keinen Puls und der Körpertemperatur nach ist das schon eine ganze Weile so. Wieder krampft sich Felix’ Magen unangenehm zusammen, dieses Mal widersteht er aber dem Bedürfnis sich zu übergeben und presst sich stattdessen eine Hand auf den Mund. „Hilfe! Hilfe, ich brauche Hilfe!“, schreit er in den dunklen Rauch hinein, so laut, dass er fühlt, wie seine Stimmbänder beben. Er schreit weiter, noch lauter als zuvor, aber keiner kommt die schmale Treppe nach oben, keiner wird ihm helfen. Keiner. „Okay Felix, behalte die Nerven, es wird keiner kommen, aber hey, egal, wer braucht schon Hilfe? Ich? Nein. Ich brauche …, ich brauche …, ja ich brauche Licht“, wispert er hysterisch zu sich selbst. Vorsichtig erhebt er sich und läuft mit dem Blick zum Boden gerichtet den Flur entlang, bis er die schmale Treppe erreicht. Mit zitternden Knien, die bei jedem Schritt drohen unter seinem Gewicht nachzugeben, nimmt er Stufe für Stufe, bis ihn der klobige Schreibtisch am Weitergehen hindert. Der untere Flur ist noch dichter vom Rauch durchzogen und schickt immer wieder dicke Rauchwolken über Felix’ Kopf hinweg den Treppenaufgang nach oben. Mit seinen Händen stützt er sich bedacht auf den Schreibtisch und rüttelt einige Male fest an ihm. Er bewegt sich keinen Zentimeter, er bleibt fest eingekeilt zwischen Holzgeländer und Wand. Langsam und immer noch skeptisch zieht er seine Knie auf die schräge Tischplatte und lässt sich langsam über die akten- und papierlose Platte gleiten. Auf der anderen Seite angekommen, versucht er auf den letzten Stufen Halt zu gewinnen und betet inständig zu einem Gott, an den er nicht glaubt, dass Paul seine seit Jahren gleiche Ordnung nicht geändert hat. Mit schweißnassen Fingern und halbwegs stabilem Stand greift er zu der schweren Holzschublade und zieht sie mit einem kräftigen Zug zu sich heran. Mit einem Scheppern folgt sie dem Zug und kracht, dank Felix’ flinken Reflexen, nicht auf seine Füße, sondern auf die letzte Treppenstufe. Schnell, als könne ihm der Inhalt entkommen, beugt sich Felix zu ihr herunter und kramt einige Sekunden lang in der Unordnung der Schublade, bis er findet, wonach er gesucht hat. Die kleine schwarze Taschenlampe, die er zum Vorschein bringt und die den Sturz von der Treppe glücklicherweise überlebt hat, klemmt er sich zwischen die Zähne, um die Hände weiter frei zu haben. Mit Bedacht klettert er zurück über den Schreibtisch und folgt dem Treppengeländer nach oben.
Am Absatz angekommen schaltet er die Taschenlampe ein und seine Augen folgen dem kegelförmigen Lichtstrahl durch den Raum. Da liegt doch noch jemand im Flur? Gebannt kneift er seine Augen zusammen und blinzelt durch den Rauch hindurch. Ja, da liegt noch jemand im Flur. Mit sicheren, aber hastigen Schritten springt er über den reglosen Körper, den er zuvor untersucht hat, und krabbelt auf allen Vieren zu der bewegungslosen Person, die er am Boden entdeckt hat. Es ist eine Frau, Felix leuchtet ihr ins Gesicht, sie ist bewusstlos. Ihre Nasenlöcher sind durch den Ruß der Luft dunkel gefärbt, das heißt, dass sie atmet oder es zumindest vor wenigen Minuten noch getan hat. Felix’ Finger wandern diesmal direkt an ihren Hals. Sie spüren den leichten Puls ihrer Adern. Erleichterung. Hektisch schreit Felix die am Boden liegende an und rüttelt an ihren Schultern. Er ist nicht allein, hier ist noch jemand. „Hallo, hallo, hören Sie mich? Sie müssen aufwachen, ich brauche ganz dringend Ihre Hilfe, bitte kommen Sie, werden Sie wach!“ Nichts rührt sich. Felix wird immer nervöser, eine Träne rollt ihm über sein mit Ruß gefärbtes Gesicht. „Ganz ruhig Felix, denk nach, denk einfach nach, was machst du jetzt? Oder, was würdest du machen, wenn du nicht völlig in Panik ausbrechen würdest?“ Eine kleine, über das Dröhnen in seinem Kopf kaum hörbare Stimme schreit in ihm leise, aber stetig: „Renn weg! Rette deinen eigenen Arsch, du hast zwei Kinder und einen Partner zu Hause, keiner würde es dir übelnehmen.“ Felix schüttelt den Kopf. Nein, das ist keine Alternative, er würde, wenn er das tut, nie wieder in den Spiegel sehen können, das ist ihm trotz des Chaos der Situation wohl bewusst. Angespannt packt Felix den Kopf der Frau, dreht ihn zur Seite und greift instinktiv mit der freien Hand in ihren Mund. Wie zur Bestätigung fühlt er etwas Schleimiges an seinen Fingern. Er formt seine Hand zur Schaufel und schiebt das kühle Erbrochene aus dem Hals der Frau. Sein Magen krampft, aber die Konzentration der Situation lässt ihn den Würgereflex unterdrücken. Als er den Atemweg der Frau befreit hat, zieht er ihren Kopf nach oben und drückt ihre Nase mit zwei Fingern so zu, dass beim Beatmen über den Mund, die Luft nicht entweichen kann. Dabei versucht er möglichst wenig durch seine Nase zu atmen, um dem süßlichen Geruch des Erbrochenen zu entgehen. Diesmal fruchten seine Wiederbelebungsversuche. Hustend und röchelnd kommt die Frau zu sich, sie würgt einige Male und keucht nach Luft, bevor ihre Augen sich scharf stellen und sie Felix, der immer noch über ihr kniet, erblickt. Immer noch ein wenig dämmrig drückt sie Felix’ Hand mit der Taschenlampe zur Seite und der Lichtkegel wandert von ihrem Gesicht auf die fast schwarze Flurwand. „Was ist passiert? Wo ist … egal … sind Sie alleine?“, stammelt sie, während sie mit der freien Hand ihren blutenden Kopf hält. „Ich weiß es nicht so wirklich, ich bin auch gerade erst wieder zu mir gekommen, aber da im Flur liegt ein Mann, er hat keinen Puls, ich glaube er ist, …, ich glaube er …“ Felix bekommt es nicht über die Lippen. Die Frau blickt ihn fast genervt an, zieht eine Augenbraue nach oben, stößt Felix zur Seite und robbt über dem Boden zu dem leblosen Körper. Sie beugt sich über ihn, legt ihren Kopf auf seine blutgetränkte Brust und schüttelt seinen Kopf hin und her, bevor sie sich wieder zu Felix umdreht und nickt. „Er ist tot“, beendet sie Felix’ Satz. „Oh Gott, oh Gott.“ Felix schlägt, nach Luft ringend, die Hände über den Kopf zusammen und lehnt sich wimmernd gegen die Flurwand. Doch noch bevor Felix’ Verstand der Panik weichen kann, rasselt eine glatte Handfläche gegen seine Wange. Schockiert sieht er die Frau an, die vor ihm kniet. „Aua! Sagen Sie mal, geht es noch?“ Die Frau wirkt gefasst. „Ja danke, alles bestens, noch geht es, aber wenn das Feuer noch länger an den Stahlträgern leckt, geht es für uns beide nur noch in eine Richtung und das ist nicht die nach draußen. Also wenn Sie nicht heute schon in den himmlischen Express einsteigen wollen, dann reißen Sie sich endlich am Riemen. Fühlen Sie das?“ Er folgt der Bewegung ihrer Finger, die sie gespreizt auf den Boden gedrückt hält. Ja, sie hat recht, der Boden unter Felix wird heiß, das kann nur eins bedeuten, auch ohne dass er besonders viel von Gebäudetechnik versteht, heißt das, dass sie genau über den Flammen sitzen und es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis der Stahlträger im Boden einsacken wird und sie mit dem gesamten Flurboden in die Flammen stürzen. „Kommen Sie, Mann, wir müssen hier weg! Den da nehmen wir mit. Hier, fassen Sie mal mit an!“ Die Frau packt die Beine des Toten und winkt hektisch Felix zu sich heran, der immer noch auf dem immer heißer werdenden Boden sitzt. Entsetzt sieht er noch einmal zu ihr herüber, bevor auch er aufspringt, die Schultern des Mannes packt und sie sich gemeinsam auf den Weg die Treppe hinunter machen. Der Schreibtisch stellt eine weitere Herausforderung dar; während die Frau, die vorangegangen ist, bereits über die Tischplatte gerutscht ist und nun grob an den Beinen des Mannes zieht, steht Felix mit dem Oberkörper in den Händen immer noch auf der anderen Seite. „Jetzt kommen Sie schon!“, zischt ihm die Frau entgegen. „Sie verletzen ihn doch nur noch weiter“, äußert sich Felix unsicher. Die Frau schaut ihm verständnislos entgegen, dann klettert sie über den Mann hinweg zu Felix hinüber. „Hören Sie, dieser Mann spürt keine Schmerzen mehr, da, wo er jetzt ist, bekommt er das alles hier gar nicht mit, vertrauen Sie mir.“ Die sanfte Stimme, die sie offenbar unter ihrem schroffen Auftreten verborgen hat, beruhigt seine Nerven, trotzdem stört ihn etwas an der Art, wie professionell die Frau die Situation angeht, und obwohl er sich in diesem Moment nicht fragt, warum es ihn so stört, läutet doch ein kleines Glöckchen ganz hinten in seinem Kopf Alarm. Es ist nur ein winziger Gedanke, den Felix später vergessen soll, etwas an dieser Frau ist komisch. Felix greift ein wenig fester unter die Schultern des Toten und hilft seiner Begleitung beim Überqueren der Schreibtischplatte, bevor auch er über den Mann hinweg auf die andere Seite klettert und ihr hilft, an den Beinen ziehend, den Körper über die Tischplatte zu wuchten.
Im unteren Flur angekommen, legen sie den regungslosen Körper für einen Moment ab, um sich den Rauch aus den Lungen zu husten. „Die Luft ist hier unten viel schlechter“, prustet die Frau Felix entgegen. „Ja, wir müssen uns beeilen, aber haben Sie das auch gehört?“ Ein Nicken. „Ja, was war das?“ Beide sehen in die Schwärze des Flurs, der sich vor ihnen in völliger Dunkelheit erstreckt. „War das ...?“ Sie kann ihren Satz nicht mehr zu Ende sprechen, da bricht mit einem lauten Knacken, Knirschen und Schlagen der obere Flur unter den Flammen zusammen. Mit entsetzten Gesichtern starren sie den Treppenaufgang nach oben, aus dem sie wenige Sekunden zuvor gekommen sind. Eine gewaltige Rauchwolke wird durch die Wucht des Aufpralls durch den Flur geschickt und bringt den beiden eine Welle aus heißer Luft, kleinen Holzspänen, die wie Geschosse durch die Luft fliegen, und einen Wind, der an ihren Haaren und Kleidern reißt. Felix drückt die Frau mit einer groben, aber im letzten Moment richtigen Gewalt zu Boden, so dass sie der Stichflamme noch rechtzeitig ausweichen können, die mit dem Windstoß gekommen ist. Für einen Moment erleuchtet der Raum in aggressiven Rot-, Gelb- und Blautönen. Kurz denkt Felix eine Frau im Schein der Flammen gesehen zu haben, aber er verwirft den Gedanken recht schnell wieder, denn als die Flammen sich wieder in dem Nichts aufgelöst haben, aus dem sie gekommen sind, liegt nichts als Leere vor ihnen. „Ist es vorbei?“, flüstert Felix’ Begleitung, gerade so leise, dass er es über das Fiepen in seinen Ohren hören kann. „Ich weiß es nicht, denke schon, geht es Ihnen gut?“ Vorsichtig tastet er nach der Frau, die er neben sich vermutet, doch statt der warmen Haut, die er erwartet, berühren seine Finger die eiskalten Lippen des Toten, der immer noch neben ihm liegt, und Felix jagt ein Schauer über den Rücken. „Ja, mir geht es gut und Ihnen, sind Sie verletzt?“ Langsam schiebt Felix ein Knie unter seine Hüfte und setzt sich auf. Wie zur Antwort auf ihre Frage schießt ein warmer Schmerz in Felix’ Schulter und etwas Heißes läuft ihm den Arm herunter. Mit zittriger Hand lässt er seine Finger über die Schulter gleiten, bis sie einen spitzen Gegenstand ertasten. Wieder meldet sich Felix’ geplagter Magen und er hustet heftig, da seinem Körper aber anscheinend die Flüssigkeiten ausgegangen sind, bleibt es bei einem trockenen Würgen. „Ja, mir geht es gut. Ich bin unverletzt“, lügt er in die Dunkelheit und hofft inständig, dass sie das Stöhnen, das er verlauten lässt, nachdem seine Finger den spitzen Gegenstand umfasst und mit schnellem Ziehen nach vorne aus seiner stechenden Schulter gezogen haben, nicht hören kann. Fast sauer, schnipst er den daumengroßen Holzsplitter zur Seite und versucht den Gedanken zu verdrängen, dass das Ding auch sein Auge hätte treffen können. „Können Sie die Taschenlampe sehen?“ Nur Dunkelheit. „Nein es ist zu dunkel, ich sehe sie nicht, wir sollten weitergehen, hier ist es nicht sicher“, entgegnet sie ihm. „Ja, ich weiß, aber kommt es mir nur so vor oder wird es da heller?“ Felix tastet erneut nach der Frau und bekommt diesmal ihren Ellbogen zu fassen, er zieht sie mit sich nach oben und beide starren, dicht an dicht, in den kleinen Lichtkegel, der sich vor ihnen auftut. Felix kann ihren heißen Atem an seinem Arm spüren. „Hallo, hallo? Ist da wer?“, ruft er.
Aus dem Schwarz des Flurs vor ihnen taumelt eine Frau. Ihr einst weißes Dukjon-T-Shirt ist grau vom Ruß und mit einer Hand presst sie es gegen Mund und Nase, in der anderen hält sie ein Handy, mit dessen Taschenlampe sie den beiden ins Gesicht leuchtet. Ein entsetzter Schrei entgleitet ihr und beinahe hätte sie ihr Handy fallen lassen, wenn Felix es nicht im letzten Moment, kurz vor dem Boden, aufgefangen hätte. Der hastigen Bewegung folgt eine Erinnerung an seine Schulter und er knickt stöhnend zusammen. Felix’ Begleiterin schnellt ihm hinterher und leuchtet mit dem Handy auf seine blutende Schulter. „Sie verdammtes Arschloch, Sie sind ja doch verletzt. Da, Sie bluten.“ „Das ist nichts“, flucht Felix und entreißt ihr das Handy. Mit der Hilfe der beiden Frauen kommt er wieder auf die Beine und die drei bleiben in einem Halbkreis stehen. Felix wischt der Frau, die aus dem Flur gekommen ist, den Ruß aus dem Gesicht und schreit erleichtert auf. „Cara! Oh mein Gott, es geht dir gut.“ Ungläubig gafft er Pauls Sekretärin an. „Ja, ich bin okay, aber habt ihr das gehört? Da muss was eingebrochen sein. Wir sollten verschwinden und Herrgott“, springt die rundliche Frau entsetzt zur Seite, „was ist mit dem Mann passiert?“ Felix folgt ihrem Blick, packt Cara an beiden Schultern und dreht sie von dem Toten weg. „Sieh da nicht hin, das ist jetzt alles unwichtig Cara, wichtiger ist, hast du Paul gesehen?“ Die Sekretärin windet sich erst in Felix’ Armen, dann lässt sie ihre Augen von dem Körper ab und sieht in Felix’ dunkle Pupillen. „Paul Barens, ja, ja, den habe ich gesehen, er ist den Flur runtergerannt, er wollte nachsehen, ob da noch jemand ist. Er hat mich rausgeschickt, um den anderen Bescheid zu sagen. Oh Felix, er hat so seltsame Dinge zu mir gesagt.“ Dicke Tränen rollen ihr über das rundliche Gesicht. „Ich glaube, er hat mir mein Leben gerettet.“ Felix’ Hand fliegt vor seinen Mund, er dreht sich einmal um die eigene Achse und reißt sich wieder zusammen. „Okay Cara. Du und …“ Fragend betrachtet er die Frau neben ihm. „Fiona“, entgegnet sie ihm mit einem Augenrollen. „Okay, du und Fiona werdet diesen Ort nun schnellstmöglich verlassen.“ Die Sekretärin wimmert. „Nein, nein Felix, das kann ich nicht, du musst uns helfen.“ Felix packt sie fester an den Schultern und gibt seiner Stimme einen festen, bestimmten Klang. „Doch Cara, das kannst du. Hast du mich verstanden?“ Die Schultern der Frau hören auf zu beben, mit ihrem Arm wischt sie sich die Tränen vom Gesicht, nimmt Felix das Handy aus der Hand und nickt einige Male, so, als müsste sie sich selbst noch von dem Plan überzeugen. „Es ist ja wohl hinfällig dich nach deinem Plan zu fragen. Aber Felix, versprich mir eins.“ Ein wütender Zeigefinger schwebt vor seinem Gesicht. „Bring Paul ja lebend zurück.“ Dann lässt sie von ihm ab, schiebt sich das Handy zwischen die Zähne, packt kraftvoll nach den Beinen des Toten und deutet Fiona an, es ihr gleich zu tun. Fiona nickt Felix noch einmal zu, schiebt die Hände unter die Schultern der Leiche und die beiden verschwinden in der Dunkelheit.
Die Zerstörung, die durch das Einbrechen des oberen Flurs entstanden ist, hat ein weitaus größeres Ausmaß, als Felix es zunächst angenommen hat. An vielen Stellen sind die Flammen durch die Wucht der Erschütterung und des Einknickens der Trägerbalken ausgedrückt worden, an anderen Stellen haben die Flammen durch das neu errungene Brennmaterial aber angefangen sich immer weiter aufzubäumen und an manchen Stellen lecken sie bereits an der Decke und zwingen Felix in die Knie. Manchmal will er aufgeben, will umkehren, weil die Luft zu heiß, die Flammen zu groß oder der Weg versperrt ist. Jedoch jedes Mal, wenn Felix sich einreden will, dass es okay ist umzukehren, dass er alles in seiner Macht Stehende getan hat, dass er hilflos ist gegenüber den Bergen aus Schutt, die sich im gesamten Flur erstrecken, jedes Mal hört er dann ein Knacken, ein Säuseln oder ein Brodeln, was ihn weitersuchen lässt, das ihm die Kraft gibt einen weiteres Trümmerteil hochzustemmen oder durch die nächste Flammenwand zu springen. Immer wieder ruft er den Namen seines Freundes in die Dunkelheit hinein, schreit die Flammen an, die versuchen an ihm zu züngeln, bis seine Kehle heiser ist, bis er kaum noch einen Ton über seine Lippen bringen kann. Doch egal wo er sucht und egal wie laut er schreit, nirgendwo erscheint ein Lebenszeichen. Hier ist niemand. Langsam tropft die Erkenntnis in Felix’ erschöpfen Körper. Hier ist niemand mehr; selbst wenn es hier jemanden gegeben hat, kann er dem Einsturz der Decke, den tonnenschweren Stahlträgern und Betonteilen, den lodernd heißen Flammen und der brennenden, rußigen Luft kaum lebend entkommen sein. Erschöpft lässt er sich auf einen Holzbalken fallen, der zwischen zwei Türrahmen klemmt. Er reibt sich die trockenen Augen und wischt sich mit dem schweißnassen Ärmel seines Overalls den Ruß aus dem Gesicht. „Er ist tot“, flüstert er in die Dunkelheit des Flurs hinein. In der Ferne kann er das Knacken des Feuers hören. „Er ist tot“, ruft er ein wenig lauter, doch seine Stimme kann sich über die Lautstärke der Flammen nicht erheben. Er ruft es wieder und wieder, aber es scheint, als würden die Flammen jedes Mal lauter knacken, wenn er seine Stimme erhebt, fast so, als wollten sie nicht, dass dieser Satz die Mauern der Fabrik verlässt.
Nach einer Weile erhebt er sich, streift sich mit den Händen über seine Oberschenkel, ballt die Hände zu Fäusten, um sich zu fassen und will gerade den Weg raus aus der Hölle suchen, als er mit seinen Schuhen auf etwas Weiches tritt. Erschrocken fährt er zurück, stolpert über den Holzbalken und fällt rücklings über ihn hinweg. Für einen Moment rotieren seine Gedanken. Was war das? Wahrscheinlich nur ein Schwamm oder ein Poliertuch aus der Lackiererei oder es könnte ... Felix rappelt sich wieder auf, krabbelt auf allen Vieren über den Holzbalken und tastet in der Dunkelheit nach der Stelle, an der sein Fuß zuvor gestanden hat. Seine Finger ertasten den weichen Gegenstand, es kostet ihn viel Überwindung das raue, warme Stück abzutasten, doch als er begreift, was seine Finger da gefunden haben, fährt ihm ein Schauer durch den ganzen Körper. „Paul, Paul, Paul bist du das?“ Keine Antwort. Ohne sich davon beirren zu lassen, springt Felix auf, reißt einen großen Holzspalt aus dem Balken, auf dem er zuvor gesessen hat, und rennt, so schnell es die Umstände zulassen, den Flur zurück, den Flammen entgegen. Hustend und würgend erreicht er das Feuer und schaudert bei dem Anblick. Die Flammen haben sich viel weiter vorgearbeitet und lassen den Flur zu einem Flammenmeer werden. Felix schüttelt den Kopf – egal, dies war ein Problem, das er später lösen muss. Hektisch hält er den Holzspalt in die Flammen, die auch sogleich gierig an ihm lecken. Mit dem brennenden Spalt rennt er zu der Stelle zurück, an der er seine Entdeckung gemacht hat. Das Licht der improvisierten Fackel zeichnet gespenstische Schatten an die schwarzen Wände. Am Holzbalken angekommen rammt er die Fackel in den Schutt und beugt sich zu der weichen Entdeckung herunter. Felix fixiert mit seinen Augen die Hand, die vor ihm liegt. Nervös fingert er nach dem Puls. Bubum, bubum, bubum. Er ist sehr schwach, aber dennoch spürbar. Die Hand ist riesig, keine Frage, das kann kein anderer sein. Im Licht der Flammen erkennt er nach und nach den Rest seines Freundes. Er liegt mit dem Gesicht nach unten, bäuchlings auf dem Boden, seine Arme hat er von sich gestreckt. Nach der ersten Erleichterung, seinen Freund doch noch lebend gefunden zu haben, erblickt Felix schon die nächste Hürde, die vor ihm liegt. Vorsichtig tastet er den großen Holzbalken ab, der quer über seinem Freund liegt. Er ist groß und wuchtig, viel zu wuchtig, als dass Felix ihn ohne Hilfe heben könnte. Eine brodelnde Hitze steigt in ihm auf, sie macht sich in seinem Brustkorb breit und steigt seine Kehle nach oben, bis hin zu seinem Kopf. Felix drückt seine Handflächen gegen die Schläfen, er drückt so fest er kann, um seinem Kopf Ruhe zu gebieten, aber das laute Pochen, die Hitze und das Gefühl sein Schädel könne bersten, lassen ihm keine Ruhe. Was soll er nur tun? Es scheint auf einmal weitaus schlimmer zu sein, seinen Freund zwar gefunden zu haben, ihn dann aber lebend zurücklassen zu müssen, als ihn einfach nie zu finden.
Es kommt Felix wie eine Ewigkeit vor, es ist wie ein halbes Jahrhundert, die Zeit, in der er in einem dunklen, halb zerstörten Flur steht, seinen Kopf zwischen den Händen hält, die Hitze zu spüren, die in ihm brodelt, die Angst Paul zurücklassen zu müssen und ja, auch die Angst selber zurückzubleiben. Diese eine Szene ist es, die Felix immer wieder verfolgt, wenn er nachts hochschreckt, wenn er an einer Tankstelle den Zapfhahn in den Tank hält oder wenn er mit seiner Familie den Sonntagskrimi schaut. Diese Szene voller Verzweiflung und Angst, nicht der Tote, den er geborgen hat, nicht der Holzsplitter in seiner Schulter, sondern dieser Moment, in dem alles so weit weg, alles so verloren scheint, der ist es, der ihn immer wieder einholt.
Auch eine Ewigkeit hat mal ein Ende und so hört Felix es plötzlich, so, als wäre es schon immer da gewesen, ein leises fast überhörbares Klopfen. Leise, aber dennoch kontinuierlich. Es kommt von weiter hinten im Flur, aus dem Teil, den Felix noch nicht erkundet hat. Felix kneift die Augen zusammen, kann durch den dicken Rauch im Flur aber nichts sehen. – Okay Felix, egal, du schaffst das, auch ohne etwas zu sehen.– Zitternd schließt er die Augen ganz, konzentriert sich nur auf seine Ohren und auf das Geräusch, das, als er sich nähert, immer deutlicher wird. Mit einem leichten Ruck stoßen seine Schienbeine gegen eine große Betonplatte. Vorsichtig und bedacht bückt er sich und greift ein wenig unsicher, aber bestimmt unter die Platte. Er ertastet Metall, es ist warm und bewegt sich in seiner Hand wie eine Schlange. Mit einem kräftigen Zug zieht Felix es aus seinem Versteck. „Oh, Herr Felix Mending, haben Sie den Feueralarm gehört? Ich glaube wir sollten evakuieren, soll ich die Feuerwehr rufen?“ Felix schüttelt seine Entdeckung. „Ja, es brennt, aber hey, scheiß doch auf die kack Feuerwehr, die kommen jetzt auch zu spät!“, erwidert er niedergeschlagen dem kleinen Roboter. „Herr Felix Mending, das ist eine zutiefst negative Äußerung, ich kann Sie gerne an unseren Haustherapeuten weiterleiten, wenn Sie es wünschen?“ Felix schüttelt den kleinen Kerl kräftiger. „Nein, nein ist schon gut, aber hey“, keimt in Felix eine Idee auf, „wie viel kannst du heben? Wie viel Gewicht meine ich?“ Der Roboter deutet auf das zerschlagene Display in seinem Greifer. „Mein maximales Stemmgewicht liegt bei zehn Kilo, das ist das Doppelte meines Eigengewichts, Herr Felix Mending.“ Die Wolke der Hoffnung zerplatzt so schnell, wie sie gekommen ist. Egal. Er muss es versuchen, welche Wahl hat er denn auch? Flink packt er den kleinen Roboter. Die improvisierte Fackel ist mittlerweile nur noch ein glühendes Stück Glut, aber Felix braucht seine Augen nicht für das, was er vorhat. Hektisch klemmt er die Greifarme des Roboters unter den Holzbalken, der noch immer schwer auf seinem Freund liegt, gibt dem kleinen Kerl die Anweisung zu heben und stemmt dann selbst die Beine in den Boden, um den Balken zu heben.
Wer weiß, wie viel der kleine Roboter am Ende wirklich half den Balken zu bewegen, aber das ist in diesem Moment nicht wichtig; wichtig sind die Hoffnung und der Schein der Unterstützung, die Felix dazu bringen den Balken in die Höhe zu stemmen. Er wendet alles auf, was er an Kraft in sich trägt, er lässt die Hitze und das Pochen raus aus seinem Kopf, in seine Arme und Beine laufen und stemmt den Balken von seinem Freund hinunter.
In dem Moment, als der Balken sich von Paul gelöst hat, atmet er gierig die Luft ein, nur um danach so heftig zu husten, dass Felix schon denkt, dass er ersticken muss. Aber er erstickt nicht, auch nicht, als Felix versucht, ihn auf die Beine zu stellen, und nicht, als er es endlich geschafft hat und sie auf dem Weg nach draußen sind. An diesen Teil erinnert Felix sich kaum noch, er scheint wie von seiner Festplatte gelöscht zu sein, er hat keine Ahnung mehr, wie er Paul und sich die Treppen zur Werkshalle hinunterbekommen hat, wie er ihn an den Flammen vorbeigeschleppt und sich die Hände am heißen Zufahrtstor verbrannt hat. Das Einzige, das später wiederkommt, ist das Gefühl den ersten frischen Atemzug zu tun, das Gefühl die kühle Nachtluft in seine schmerzenden Lungen zu saugen, das Gefühl, wie er das Bewusstsein verliert, und das Gefühl auf der Trage des Krankenwagens zu liegen, einfach nur dazuliegen und sich tragen zu lassen, ohne die Sorge einen Fehler zu machen, ohne die Sorge einen Freund zu verlieren.