Читать книгу §4253 - Nathalie D. Plume - Страница 15
11. High York, USA
ОглавлениеPhilippe beißt sich auf die Unterlippe, immer wieder geht er in seinem Kopf die Möglichkeiten durch, wie er seinen Kollegen die Lage erklären kann. Er ärgert sich über den Captain, der ihm diese lästige Aufgabe überlässt. Nun bereut er es fast, die Ordner, die ihm sein Chef überreicht hat, nicht doch vorher bearbeitet zu haben. Langsam schleicht er neben seinen Kollegen her. Der Gang ist eng und so früh am Morgen immer noch in einem leichten Dämmerlicht gefangen. Ab und zu kommt er an einem der kleinen Fenster vorbei und erhascht einen kurzen, aber doch intensiven Blick auf die hinter einem Hochhaus hochkletternde Sonne. Lange richtet er seine Augen in die Morgenröte, bevor die nächste Wand das Licht verbirgt und ihm die Sonne nur noch in Erinnerung als bunte Punkte über die Netzhaut tanzt. Obwohl der Gang, umso weiter sie dem Großraumbüro kommen, immer enger wird und das Gewicht auf Philippes Brust immer schwerer, verlangsamt sich sein Schritt weiter. Dieses Mal gewinnt tatsächlich das ungute Gefühl, über das, was er gleich sagen wird, über die Angst von den auf ihn zukommenden Wänden, zerquetscht zu werden.
Dorian, der neben Philippe durch den schummrigen Gang stapft, immer einen Schritt hinter ihm, aus respektvoller Angst sich ein zweites Mal an diesem Tag seinen heiligen Zorn zu verdienen, mustert seinen Freund von hinten. Irgendetwas an Philippes Art hat sich heute geändert, nicht nur, dass er heute nicht immer schneller wird, umso weiter sie in den engen Gang vordringen, sondern sich immer weiter zurückfallen lässt, beunruhigt ihn, es sind nicht das ständige Ziehen an der Unterlippe und das aggressive Verhalten vorhin in seinem Büro, es ist das fortwährende Murmeln von Worten, das Dorians Haare zwingt sich wie Antennen aufzustellen. Er hört Philippe seine Muttersprache nicht oft sprechen, die meiste Zeit, die er ihn kennt, hat Philippe immer in Englisch gesprochen und obwohl der französische Akzent schwer zu verbergen ist, spricht er es fließend und ohne einen einzigen Fehler. Selbst wenn sie in Gefahrensituationen gekommen sind und Philippe und er mit gezogener Waffe hinter einer aufgeklappten Autotür Schutz suchten, sprach er fließendes, einwandfreies Englisch. Aber jetzt murmelt sein Partner in einem Gemisch aus perfektem Französisch und gebrochenem Englisch vor sich hin und Dorian, der zwanghaft versucht den Worten zu lauschen, versteht kein Wort aus dem Mund seines Freundes. Philippe ist sehr schwer aus der Ruhe zu bringen und hätte man Dorian gefragt, was seine Schwäche sei, würde er vermutlich verneinen und sagen, dass dieser Mann keine Schwäche besitzt, obwohl er es besser weiß; obwohl er weiß, dass Philippe panische Angst vor geschlossenen Räumen und engen Gängen hat, würde er sagen nein, diesen Mann bringt nichts aus der Ruhe. Doch ausgerechnet heute bricht Philippe alle Annahmen, die Dorian über ihn gesammelt hat, er ist gereizt und unkonzentriert, wie er da durch den schummrigen Gang schleicht. Mit geballten Fäusten nimmt der rothaarige Mann seinen Mut zusammen und packt den immer noch englisch-französisch murmelnden Mann vorsichtig an der Schulter.
Komplett aus seinen Gedanken gerissen spürt Philippe die Hand, die von hinten auf seiner Schulter platziert wird, und fährt erschrocken herum. „Alles gut bei dir?“, spricht ihn der rothaarige Mann leise und sehr respektvoll an. „Ja, natürlich ist alles gut, was sollte nicht gut sein Dorian?“ Den Worten Sicherheit verleihend mustert er die Reaktion seines Partners. „Ich weiß nicht, ich dachte nur weil …, weil ...“, druckst Dorian nach den richtigen Worten suchend weiter. „Du dachtest was?“ Ein Ausdruck von Spott schwingt in den Worten des Lieutenants wieder und Dorian bereut bereits ihn angesprochen zu haben. Der Situation jetzt aber heillos ausgeliefert kratzt er sich nervös an der hochgezogenen Augenbraue, schaut verunsichert zu Boden und presst die Worte heraus, die sich aus Angst vor Veröffentlichung an seinen Kehlkopf krallen. „Du wirkst etwas unsicher. Philippe, mag ja sein, dass nichts los ist, aber ich kenne dich einfach schon zu lange, um dir das zu glauben, es tut mir leid, wenn dir das heute respektlos erscheint, aber ich sorge mich eben um meinen Partner.“ Anscheinend zufrieden mit seinen Worten nimmt Dorian einen festeren Stand an und zeigt etwas mehr von seinem Selbstbewusstsein. „Es tut mir leid, wenn ich hart war Dorian, mir wurde nur heute Morgen eine Last zuteil, die ich noch zu tragen üben muss.“ Philippe räuspert sich, sieht sich verstohlen um und schmunzelt. „Ohne dir jetzt zu nahe treten zu wollen oder es als Ausrede zu benutzen, würde es dich stören unser Gespräch später fortzusetzen, es scheint mir hier doch etwas eng zu werden.“ Immer noch mit einem verschmitzten Lächeln tippt Philippe Dorian auf die Schulter und beschleunigt, um den Gang jetzt doch sehr eilig zu verlassen. Dorian, der perplex über die doch schnelle Rückverwandlung seines Freundes im Gang steht, zuckt nur mit den Schultern und folgt ihm in das wuselige Großraumbüro, in das Philippe gerade seinen Fuß gesetzt hat. Während Dorian diesen Raum abgrundtief hasst und mit dem ständigen Surren und Piepen der Drucker, dem Diskutieren und Schreien von Verdächtigen und Kollegen, dem ständigen Zug durch ein offenes Fenster oder dem Flackern von rauf- und herunterfahrenden Bildschirmen überhaupt nicht klarkommt, ist es für Philippe das reinste Paradies. Der große offene Raum bietet ihm die Luft, die seine Lunge zum Atmen braucht, die belebte Umgebung erinnert ihn an die Zeit, in der er selbst noch ein unerfahrener Officer war, und selbst als er zum Detektive aufstieg, mochte er den Geruch der Druckerpatronen und er genoss auch damals schon die Tatsache, dass es hier immer etwas zu sehen gibt. Er bereut nicht die Stelle des Lieutenants angenommen zu haben, ganz im Gegenteil, er mag die Verantwortung, die ihm zuteil geworden ist, aber es gibt eben auch Dinge, die er vermisst und die ihm manchmal wie ein harter Preis vorkommen. Er verachtet dieses winzige Büro, um das alle immer so schrecklich respektvoll herumhuschen, und er wünscht sich manchmal die Zeit zurück, in der er einfach unauffällig in einen Raum wischen konnte, um sich einen Kaffee einzugießen, ohne dass er jemandem groß aufgefallen wäre. Heute hören die Leute auf zu reden, brechen ihre Gespräche ab, nehmen verstohlen Haltung an und prosten ihm nur wohlwollend mit ihren Tassen zu. Sie tun es eben genauso, wie Philippe es getan hat, als damals sein Lieutenant den Raum betreten hat, und sie tun es genauso, wie er es heute noch tut, wenn der Captain in das winzige Büro schleicht. Genauso ist es auch an diesem frühen Morgen, während zuvor noch wüstes Treiben den großen Raum erfüllt hat und die vielen Streifenpolizisten und Detektives wild durcheinander wuselten, scheint mit dem Betreten von Philippes Fuß über die Schwelle eine Ruhe über das Büro zu fallen. Die meisten richten ihre Aufmerksamkeit für einen Moment von ihrer Tätigkeit ab, um sie dem Mann zu schenken, der das Büro betreten hat.
Für einen Moment stutzt Philippe und seine Füße bewegen sich nicht über die Schwelle hinweg, denn obwohl es so früh morgens ist, platzt der Raum an diesem Tag fast vor Kollegen. Erst als Dorian sich an seinem Lieutenant vorbeischiebt, um hinter einer der Stellwände an seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, bricht Philippes Erstaunen und er erinnert sich, warum er hergekommen ist. Dorian ist froh wieder an seinem Schreibtisch zu sitzen, er hält es heute für unklug zu nah um Philippe herum zu sein und auf keinen Fall will er neben ihm stehen und versehentlich in die Schussbahn seiner Kollegen geraten. Das ist eine Bürde, die Philippe heute allein schultern muss und das weiß er auch.
„Kann ich für einen Moment Ihre Aufmerksamkeit haben?“, beginnt Philippe den Vortrag, den er sich in seinem Kopf endlich zurechtgelegt hat. Es dauert einen Moment, bis auch der Letzte begriffen hat, dass er nun den Mund halten und aufhören sollte Akten zu kopieren, und erst als alle Augen gespannt auf den Mann an der Tür gerichtet sind, beginnt der mit seinen Ausführungen. „Schön, da ich jetzt Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit genieße, werde ich Ihnen sagen, warum Sie heute in aller Herrgottsfrühe aus den Betten geklingelt wurden, um auf dem Department zu erscheinen. Es ist Ihnen bestimmt nicht entgangen, dass die Funksprüche sich heute Morgen überschlagen und dass Sie mit Ihrer Arbeit kaum hinterherkommen. Vielleicht haben einige von Ihnen auch bereits Gerüchte über Social Media oder andere Netzwerke erhalten und reimen sich Ihren Teil zusammen. Ich muss Sie leider enttäuschen, wenn ich Ihnen sage, ich werde keines dieser Gerüchte bestätigen und ich kann Ihnen zu diesem frühen Zeitpunkt auch noch nichts über die bisherige Lage verraten. Es mag sein, dass unsere Politik lügt und Dinge verschweigt, ich werde das aber nicht tun. Ich kann Ihnen, wie gesagt, bedauerlicherweise nicht sagen, was es mit diesen Gerüchten auf sich hat, wo sie herkommen oder welche wahr sind. Was ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt aber sagen kann, ist, dass es um § 4253 geht, von dem Sie mit Gewissheit, in den letzten paar Monaten, schon etliche Male in den Nachrichten gehört haben, auch der erste Absatz dürfte den meisten mittlerweile ja gut bekannt sein. Dieser erste Absatz ist nun veröffentlicht worden, damit wird der § 4253 nun in Kraft treten. Welche Absätze er noch bringen wird, ist zu diesem Zeitpunkt noch unklar, bleiben wir also bitte erstmal ruhig und warten ab, was da noch auf uns zukommt.“ Ein entsetztes Raunen durchdringt die Ruhe, die den Raum zuvor befallen hat, und löst Murren in den Reihen aus. Einige der Frauen und Männer rufen Fragen in den Raum: „Warum hat uns das keiner gesagt?“ „Was genau besagt der erste Absatz?“ „Ist es der einzige, der veröffentlicht wurde, und welche werden folgen?“ „Ist unsere Regierung gestürzt worden?“ oder „Warum weiß die Bevölkerung vor uns davon?“. Für einen Augenblick lauscht Philippe in das Tosen hinein, dann aber hebt er seine Hand und schlagartig verstummt das Stimmengewirr wieder. „Wie gesagt, ich kann Ihnen leider keine Ihrer Fragen beantworten, Sie müssen mir heute einfach vertrauen und ungefragt die Befehle befolgen, die ich Ihnen heute geben muss. Da draußen sind Menschen, denen es genauso geht wie Ihnen, sie haben auch Fragen und wissen nicht, was richtig ist oder an was sie noch glauben dürfen, manchen geht es vermutlich schlechter als Ihnen, weil sie ihren Job oder ihre gesamte Existenz verloren haben. Die Menschen da draußen haben Angst, sie sind verunsichert und fühlen sich von ihrer Politik hintergangen und wir wissen alle, dass Angst und Ungewissheit seltsame Sachen in Menschen auslösen können.“ Ein bestätigendes Nicken durchzuckt den Raum, einer der Männer, ein bulliger Mann mit einem breiten Stiernacken und mit so aggressiven Zügen, dass Philippe in Panik ausgebrochen wäre, wenn er nicht wüsste, wie sanft und freundlich dieser Officer in Wahrheit ist, fragt: „Aber Lieutenant, was sollen wir denn da draußen machen, die drehen alle komplett durch?“ Durch den Einwurf gelähmt, bleibt Philippe für einen kurzen Augenblick ruhig und hält seine Aufmerksamkeit eisern auf den schrankgroßen Mann gerichtet, leicht spöttisch zieht er dann seine Augenbraue in die Höhe, zuckt kaum merklich mit den Achseln und erwidert mit einer Mischung aus französischer Gleichgültigkeit und amerikanischem Ernst: „Na ja, ich würde vorschlagen Ihren Job, das sollte für heute einen guten Ansatz darstellen.“ Einige der Detektives lachen, halten aber erschrocken inne, als sie dem misstrauischen Blick ihres Lieutenants ausgeliefert sind. Der Mann mit Stiernacken nickt peinlich berührt und tritt zurück in die Reihe seiner Kollegen. „Ich möchte, dass Sie heute alle den Streifenpolizisten helfen und sich bitte nicht zu fein fühlen auch als Detektive mit anzupacken, da draußen finden Plünderungen und Schlägereien statt, die geklärt werden müssen. Ich möchte, dass Sie nur in Zweier-Teams vorgehen und niemand einen Alleingang macht. Berichte dürfen Sie mir unaufgefordert auch morgen einreichen. Konzentrieren Sie sich heute mehr auf den Außeneinsatz und kommen Sie bitte heute Abend alle heil wieder zurück und bevor Sie gehen, möchte ich Sie noch einmal daran erinnern, wir tragen unsere Waffen zu unserem eigenen Schutz und nicht, um ein Leben frühzeitig zu beenden.“ Und mit einem Blick auf Dorian fügt er noch hinzu: „Auch ich gehe heute in den Außeneinsatz, Mr. Carter Sie kommen mit mir, bei Fragen wenden Sie sich an den Captain, an mich oder an die Leitstelle.“
Mit schnellen Schritten fliegt Philippe durch das enge Treppenhaus zurück in die Tiefgarage, die er heute Morgen so eilig verlassen hat. Mittlerweile ist es 07:40 a.m., normalerweise ist das die Uhrzeit, zu der er mit seinem Auto durch den dichten Verkehr zur Arbeit fließt, aber heute ist ein anderer Tag und er fängt gerade an so richtig scheiße zu werden, beschließt Philippe, während er die Tür zur Tiefgarage durchquert. Schon einmal ein paar stickige Atemzüge aufsaugend, wartet er auf Dorian, der das Treppenhaus, unverständlicherweise, wie ein normaler Mensch durchquert und so immer ein wenig später als Philippe durch die graue Tür rauscht. Gemeinsam gehen die beiden an Philippes altem Jeep vorbei zu einem der schwarz lackierten Wagen am Ende der Halle. Dorian, der den Autoschlüssel neben einem Becher Coffee to go in den Händen hält, drückt auf den kleinen Knopf, der dem Auto die Öffnung befiehlt. Zum Erstaunen der beiden Männer blinkt nicht der Wagen auf, der vor den beiden steht, sondern ein mit Polizeifolie foliierter, handelsüblicher Streifenwagen. Während sich beide Männer verwirrt anschauen, kommen ihnen zwei Frauen entgegen, die verschmitzt lachend einen Autoschlüssel schwenken. „Sucht ihr den hier?“, spricht sie die kleinere der beiden Frauen mit einem breiten und triumphierenden Lächeln auf den Lippen an. Genervt reißt Philippe Dorian den Autoschlüssel aus der Hand und betrachtet das Schild mit der Aufschrift „Streifenwagen“, das als Anhänger an ihm herunterbaumelt. „Ja, ganz richtig“, spricht die braunhaarige Frau gehässig weiter, „wir haben den letzten Zivilwagen erwischt.“ Nun wieder die kleinere Frau: „Tut uns wirklich leid Lieutenant, aber wer zuerst kommt und so.“ Dann steigen die beiden laut lachend in den schönen schwarzen Wagen und brausen über die Rampe aus der Tiefgarage an den beiden verdattert dreinblickenden Männern vorbei. Philippes Anspannung ist in der ganzen Halle spürbar, mit gekräuselten Lippen holt er aus und verpasst Dorian einen Schlag auf den Hinterkopf, danach nimmt er seinem verdutzten Partner den Kaffee aus der Hand, nimmt einen tiefen Schluck und begibt sich wortlos in den Streifenwagen. Dorian, der wenig später neben ihm auf den Beifahrersitz fällt, grinst unsicher und schuldbewusst, aber Philippes Miene ist zu seinem Erstaunen weniger gereizt als mehr amüsiert. Dorian steckt Philippes Lachen an und ohne dass einer der beiden so richtig weiß warum, sitzen sie in einem High Yorker Streifenwagen und lachen.
Bevor Philippe die Kupplung kommen lässt und dem Wagen den Start befiehlt, trinkt er den letzten Schluck aus dem ehemalig Dorian gehörenden Kaffee, zieht sich seine Atemmaske über und rollt aus der Parklücke. Etwas traurig sieht Dorian dem Kaffee hinterher und will gerade die Frage nach einem neuen stellen, als Philippe ihm zuvorkommt und die umgestellte Frage kopfschüttelnd abwehrt, bevor sie seine Lippe verlassen kann: „Nein. Nein Dorian, kannst du nicht.“ Stöhnend zieht auch Dorian sich die Atemmaske über und der Wagen beschleunigt die Rampe nach oben, um das Department zu verlassen. Durch die offenen Fenster dringt der abgasverpestete, heiße Fahrtwind in den Innenraum und sofort steht beiden Männern der Schweiß auf der Stirn.
Dorian respektiert Philippe sehr, für ihn ist es eine Selbstverständlichkeit Philippe die Angst vor geschlossenen Räumen zu nehmen und die ekelige, heiße und gelbe Luft der Stadt zu ertragen. Für Philippe hingegen ist es keine Selbstverständlichkeit, dass ein Mensch, auch wenn es ein Freund ist, für einen anderen seine Gesundheit aufs Spiel setzt, und in die verpestete Luft zu atmen. Philippe weiß, dass Dorian es nicht macht, um ihm in irgendeiner Art zu schmeicheln oder sich gut mit ihm zu stellen, er macht es tatsächlich aus einer Art Verständnis zu den Dingen, die Philippe durchleben musste. Dorian ist immer da gewesen, seit Philippe bei der Polizei angefangen hat. Er lernte ihn am ersten Tag der Polizeiakademie kennen. Sie saßen bei der großen Eröffnungszeremonie nebeneinander auf den unbequemen Klappstühlen und weil Philippe seinen Hut auf irgendeine Art und Weise verloren hatte, zog auch der damals noch sehr junge Dorian seine Mütze vom Kopf und sie kassierten gemeinsam die Schelte ihres Ausbilders, über die Unfähigkeit, auf ihre Uniformen acht zu geben. Damals konnte sich Philippe nicht erklären, warum ein völlig Fremder so etwas tun sollte, wie konnte er auch wissen, dass Dorian zuvor gesehen hatte, wie Philippe von ein paar anderen Trainees zusammengeschlagen worden war und sie hämisch und brutal lachend seine Mütze mitnahmen und den aus ihren Augen wertlosen französischen Flüchtling auf dem Boden der Umkleide zurückließen. Dorian hatte sich damals für seine eigenen Landsleute so geschämt, dass er versuchte es mit dieser Geste wiedergutzumachen und Philippe so beweisen wollte, dass nicht alle Amerikaner solche Arschlöcher sind.
Aus dieser simplen Geste wuchs in den folgenden Jahren eine Freundschaft, die Dorian zwar nicht angestrebt, aber doch genießen lernte. Selbst als Dorian aus der Akademie flog und Philippe alleine seine Marke überreicht bekam, brach ihre Freundschaft nicht, eher das Gegenteil sollte der Fall werden und ohne dass Dorian es verhindern konnte, revanchierte sich der junge Franzose und half dem durch seine Hilfe immer besser werdenden Dorian erneut durch die Akademie. Ein Jahr später war es dann Dorian, der alleine seine Marke abholte und es war Philippe, der neben Dorians Mutter aus der Zuschauerreihe zu ihm hochjubelte. In den folgenden Jahren kämpften sich die beiden immer weiter die Karriereleiter nach oben und erst Philippe, dann Dorian wurden zu Detektives befördert. Erst als sie sich schon einige Jahre kannten und Philippe endlich sein Wahlrecht erhielt, begann er sich Dorian zu öffnen. Er erzählte ihm von Frankreich, von der furchtbaren aussichtslosen Lage, den hoffnungslosen Versuchen der französischen Regierung der Lage entgegenzutreten und irgendwann auch von der entsetzlichen und unmenschlichen Flucht, die der damals fünfzehnjährige Junge auf sich nahm, um in ein, aus seiner Sicht, besseres Leben zu kommen. Er zwängte sich neben einigen Dutzend anderen französischen Klimaflüchtlingen in einen Schiffscontainer, der von amerikanischen Schleusern von Frankreich nach Baltimore, in den US-Bundesstaat Maryland verschifft werden sollte. Es musste für den Jungen damals wie die einzige Möglichkeit erschienen sein, ein gutes Leben führen zu können. Philippe erzählte Dorian von dem Gefühl, als die dicken Containertüren hinter ihnen geschlossen wurden, und von der Dunkelheit, die sich über die dicht an dicht gedrängten Männer, Kinder und Frauen legte. Er erzählte ihm von dem Ruckeln und Schlagen, als der Container auf das Schiff verladen wurde, wie Bauklötze purzelten die Menschen übereinander und schlugen sich Arme und Beine, Köpfe und Schultern an den rauen Containerwänden auf. Immer wieder berichtete er Dorian von der beklemmenden Enge, von der stickigen heißen Luft, bis hin zu solcher Kälte, dass er seine Beine nicht spüren konnte.
Manchmal hielt er in seinen Berichten inne und ein Schauder lief ihm durchs Gesicht. Dorian stellte sich die Berichte so realistisch wie möglich vor, er meinte zu hören, wie der Wind des offenen Ozeans an dem Container riss, er hörte das donnernde Tosen der Wellen, die gegen Bug und Container schlugen, und er spürte die Kälte, die in seine Knochen fuhr, jedes Mal, wenn Philippe weitererzählte. Manchmal dachte Dorian, dass Philippes Ausführungen nicht schlimmer werden könnten, aber dann kam etwas, was Dorian sich nicht einmal vorstellen wollte.
Durch das unruhige Meer waren die Wasserflaschen ausgelaufen und die übrig gebliebenen Flaschen wurden an Alte und Kinder vergeben. Philippe erzählte, wie seine Zunge von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag pelziger wurde, wie ihm das Schlucken und Atmen immer schwerer fiel und seine Wahrnehmung durch den Durst getrübt wurde. Am vierten Tag waren alle Wasserreserven verbraucht und Philippe redete sich immer wieder ein, dass sie bestimmt bald da wären, dass es bestimmt nicht mehr so lange dauern konnte, ganz sicher würde er bald den Hafen sehen und Wasser aus Eimern trinken. Durch den dichten Sturm, den das Schiff zu diesem Zeitpunkt durchlaufen hatte, verspätete sich aber die Ankunft und am Abend, als die Sonne über den Meeresspiegel kippte, war es nicht das Jubeln von Menschen, das er hören konnte, sondern das Schreien einer Frau, das durch den muffigen Container schallte. In ihren dünnen Armen hielt sie den kleinen Säugling, immer wieder presste sie ihn an ihre Brust und schrie zu einem Gott, der in dem engen Container keinen Platz gefunden hatte, immer wieder pustete sie dem mittlerweile blau angelaufenen Baby in den Mund, klopfte ihm auf den Rücken, aber sein Schreien würde sie nie wieder hören können. Am Morgen des fünften Tages wickelten zwei Männer die winzige Gestalt in eine Decke und eine der Frauen, die neben Philippe saß, legte eine Kette um das menschliche Knäuel, die ihn auf der Reise begleiten sollte. Eine Reise, die der Säugling nun alleine antreten musste, die Reise, die wir alle einmal alleine meistern müssen. An diesem Tag, kurz bevor die Sonne unterging, in der Zeit, in der sie die Welt in ein romantisches Rot und ein kämpferisches Orange tauchte, lief das Schiff mit einer Verspätung von einem Tag in Baltimore ein. In dem Container wurde es unruhig und vielen der Geflüchteten fiel es schwer unter der Aufregung und Angst still zu bleiben. Im Container roch es nach Erbrochenem, Schweiß, Urin und Kot, aber das fiel keinem mehr auf, als eines der kleinen Mädchen, die durch einen Spalt nach draußen lugte, rief: „Le port, le port! On là fait!“ Zu Dorians Entsetzen war das nicht das Ende der Geschichte gewesen und Philippe hatte ihn gefragt, ob er wirklich hören wollte, wie es weiterging, und Dorian hatte immer wieder schwer geatmet und ihm erwidert: „Ja Philippe, ich werde mir das anhören, ich will meine Augen und Ohren nicht vor der Wahrheit verschließen.“ Und Philippe hatte weitergeredet, manchmal liefen ihm Tränen die Wangen herunter, keine davon fing er auf, so, als wollte er nicht berühren, was seiner Vergangenheit angehörte.
Aufgrund der ungeplanten Verspätung, mit der das Containerschiff im Hafen von Baltimore einlief, hatten die Schleuser den falschen Container von einem falschen Schiff geladen. Verwirrt und verwundert über die Kisten voll T-Shirts, versuchten sie zwar den richtigen Container wiederzufinden, da der aber unter einem anderen Namen geführt wurde, als sie annahmen und sie das Geld der Flüchtlinge ja bereits kassiert hatten, ließen sie die halbherzige Suche bald sein. Der Container, der Philippe und die anderen von Frankreich hierher zu einem Lastwagen bringen sollte, blieb verschlossen. Aus Angst sich bemerkbar zu machen und damit eventuell die falschen Amerikaner auf den Plan zu bringen, schwieg die menschliche Fracht und als sie bemerkten, dass kein Lkw kommen würde, dass keiner kam, um sie aus dem engen Container zu befreien, war es bereits zu spät. Philippe berichtete von der Panik, die in den hungrigen, durstigen und nach frischer Luft bettelnden Menschen ausbrach. Sie schlugen gegen die Containerwände, bis ihre Hände blutig wurden, sie schrien, bis ihre Kehlen heiser waren, und sie weinten, bis ihre Augen verquollen. Philippe hatte nur dagesessen, sich nicht bewegt, flach geatmet und sich immer wieder gefragt, ob Sterben weh tat, ob es eine Erlösung oder eine Qual sein würde. Er kratzte an der Wand des Containers, immer wieder, nicht um sie zu durchdringen, aber vielleicht um etwas zurücklassen zu können, ein Zeichen, für die, die ihn finden würden, damit sie sehen könnten, dass er hier war und gekämpft hatte. Ein Tag später starb die Frau, die neben Philippe gesessen hatte, eine ganze Weile hatte sie sich an ihn gelehnt, ihre alten runzligen Hände um Philippes gelegt und mit ihm gesungen, ihm gesagt, dass alles gut werden würde, wenn man nur ganz fest die Augen schließt und daran glaubt. Philippe hatte ihr nicht geglaubt, ihren Anforderungen aber Folge geleistet, damit wenigstens sie sich gut fühlen würde, damit sie weiter daran glauben konnte. Nach ein paar Stunden wollte Philippe dann aufstehen, um seine schmerzenden Gelenke zu strecken, er hatte an ihr gerüttelt und sie angeschrien, aber die Frau reagierte nicht mehr.
Dorian weinte, er weinte, wie er es nie getan hatte, wenn er schlimme Dinge in den Nachrichten hörte, aber das war etwas anderes, es war plötzlich persönlich geworden, jetzt, wo er Philippe vor sich sitzen hatte, wo er nicht umschalten konnte und einfach einen anderen Sender sah, jetzt war es wahr und real geworden und es berührte seine Menschlichkeit, wie ihn noch nichts berührt hatte.
Die Frau neben Philippe blieb nicht die Einzige. In der folgenden Nacht starben Menschen um Philippe herum, die eine Stunde zuvor noch gesund und ansprechbar gewesen waren, sie kippten plötzlich zur Seite oder schliefen ein, ohne je wieder aufzuwachen, und als Philippe dachte, jetzt, ja jetzt, war die Zeit gekommen, wo er auch gehen durfte, wo er die letzte Reise auch antreten durfte, als er glaubte der Durst würde nicht schlimmer, die Luft nicht stickiger und die Lage nicht aussichtsloser werden, öffneten sich die Türen des Containers und ein grelles Licht durchflutete den engen Raum. Einige hielten sich die Hände vor die Augen, es schien, als würde das Licht Schmerzen in ihnen verursachen. Ein wenig später blitzten rote und blaue Lichter durch den Container, fremde Menschen packten Philippe an Armen und Beinen, zogen ihn vom Boden und trugen ihn aus dem Container in die Freiheit. Ein Stechen in seinem Arm, Menschen, die in einer fremden Sprache auf ihn einredeten, die an ihm rüttelten und ihm Fragen stellten, die Philippe nicht zu beantworten wusste. Immer wieder versuchte er an Wasser zu kommen, aber keiner der Menschen um ihn herum schien ihn zu verstehen, einmal griff er nach einer Wasserflasche, die neben ihm auf den Boden gefallen war, aber als er sie gerade ansetzen wollte, riss ihm einer der weißen Gestalten die Flasche aus dem Mund, deutete auf einen Beutel über seiner Schulter und schüttelte immer wieder den Kopf. Aus lauter Verzweiflung, Todesangst und Unverständnis riss er mit aller Kraft, die er in sich finden konnte, dem weiß gekleideten Mann die Flasche aus der Hand, setzte sie an die Lippen und schüttete das kühle Nass nur so in sich hinein. Die Freude über die gewonnene Energie und die Rückgewinnung seiner Zunge war aber nur von kurzer Dauer, sein Magen krampfte unter der plötzlichen Wasserplage und Philippe übergab sich mehrere Male auf den rauen Asphalt, bevor er in eine Dunkelheit fiel, die so schwarz und leer war, wie kein Mensch der Welt es erleben konnte.
Nachdem Philippe seine Ausführungen beendet hatte, lagen sich beide Männer in den Armen. Noch am selben Tag fuhr Dorian in die Wache und suchte die Akte über jenen unverheißungsvollen Tag heraus, an dem der Container geöffnet wurde. Er starrte auf die Bilder der dicht an dicht gestapelten Menschen, auf ihre toten Augen, in denen keine Hoffnung lag, auf die Enge und auf die Zahlen, die auf der letzten Seite standen. Auf die Namen derer, die ihre Flucht in die Freiheit mit dem Leben bezahlen mussten, und auf die Namen derer, die mit diesen schrecklichen Bildern in ihren Köpfen weiterleben mussten. Obwohl die Schleuser gefasst worden waren, obwohl er wusste, dass Philippe nun das Leben führen konnte, das er führen wollte, fühlte er sich schuldig dafür, wie schlecht diese Menschen behandelt worden waren. Manche wurden sogar zurückgeschickt, zurück in ein Land, das kein Essen mehr hat, keine Anbauflächen, das meilenweit von Wasser bedeckt war und das jedes Jahr weniger Platz bot für seine Bevölkerung. In ein Land, in dem große Teile radioaktiv verseucht waren, und in ein Land, das viel zu spät etwas gegen die drohenden Überflutungen getan hatte. Immer wieder versuchten die Vereinten Nationen Frankreich dazu zu bewegen ihre Wälle zu vergrößern, ihre Atomkraft abzubauen und sich bereit zu machen für einen steigenden Wasserpegel und immer wieder hatten sie verneint und alle Hilfe abgelehnt auf Kosten der Menschen, die sich auf ihre Politik verlassen hatten.
Der Streifenwagen gleitet durch den dichten Verkehr, der zwischen den meterhohen Häuserwänden vorbeirollt. Die Luft wird immer stickiger und heißer, umso weiter die Sonne in den Himmel ragt, und die Autofahrer immer aggressiver. Sie hupen und drängeln, sie schreien hinter ihren Fenstern verborgen und schlagen genervt gegen Lenkräder und Armaturenbretter. Nur wenn der weiß- blaue Streifenwagen an ihnen vorbeikommt, machen sie Platz, halten mehr Abstand und verstummen mit aufgerissenen Mündern, glätten ihre geballten Fäuste. Philippe nervt das, dieses „Alibi-Gekusche“, wenn sie die Aufkleber und Aufbauten auf dem Wagen sehen, sie tun fast so, als würde Philippe Dorian auf der Stelle befehlen zu schießen, sobald sie an einem Wagen vorbeikommen. Es ist offensichtlich niemandem bewusst, dass sie wirklich nicht die Zeit haben, jeden Verkehrsrowdy in seine Schranken zu weisen, deswegen ist es Philippe auch eigentlich lieber einen Zivilwagen zu nehmen. Es ist ihm lieber in der Masse unterzugehen und die wahre Natur der Menschen zu beobachten. Kurz nachdem Dorian und er die Wache verlassen haben und Dorian das Funkgerät eingeschaltet hat, um der Leitstelle Position und Wagennummer durchzugeben, beginnt der Sturm aus dem Gerät zu wüten.
Einen Einsatz nach dem anderen fahren die beiden an. Manchmal ist nur ein Gespräch, manchmal Körperkontakt und manchmal auch eine Waffe nötig, um die wie kopflose Hühner durcheinanderrennenden Menschen in geregelte Bahnen zu lenken. Um 01:00 p.m. legen sie dann, nach dem neunten Einsatz, eine Pause ein, regeln das Funkgerät nach unten und melden sich bei der Leitstelle ab. Mit den frischen Sandwiches einer nahegelegenen Fastfoodkette bewaffnet fahren sie den Wagen auf einen kleinen Parkplatz, verschließen ihn und laufen ein Stück über den Parkplatz, zwischen zwei Wolkenkratzern hindurch, zu der Promenade, die sich hinter den Häuserriesen auftut. Beide Männer nehmen sich die gelb angelaufenen Masken vom Gesicht, husten die staubige Luft aus ihren Lungen und atmen die kühle Luft ein, die vom Hudson über die Stadt, die niemals schläft, getragen wird. Philippe nimmt einen großen Biss von dem triefenden Sandwich und betrachtet die meterhohe Kaimauer. Stöhnend lässt er sich auf den Boden fallen und hängt die müden Beine über den Rand des Piers. Dorian tut es ihm gleich und gemeinsam beobachten sie die Wellen, die aufgebracht gegen die Mauern schlagen. Manchmal wird der Blick der Männer von einer schreienden Möwe vom Fluss zurück auf die lange Mauer gezogen, die sich über die gesamte Insellänge erstreckt. Die hohen Wände sehen brutal und unfreundlich aus, erfüllen aber schon seit Jahren ihren Zweck. Einen Zweck, für den die ganze Welt die damals noch New York City heißende Stadt verspottete und auslachte.
In aller Welt wurde in den Nachrichten von dem Milliardenplan berichtet, den gesamten Bereich um die Küste herum zu erhöhen und so den Überflutungen zu entgehen. Frankreich voran prahlte mit eigens angestellten Wissenschaftlern, mit seiner Überlegenheit und der Dummheit der Amerikaner und auch die Deutschen zitierten in vielen Zeitungen, dass sie gewiss keine Mauer errichten werden, um einem Hirngespinst nachzugeben. Nur die italienischen Zeitungen schrieben manchmal einen weniger drastischen Bericht, vielleicht aus Angst, dass die Amerikaner recht haben könnten, dass die Polkappen wirklich schmelzen und die Flutwellen wirklich kommen würden. Vermutlich sorgten sie sich um Städte und Inseln wie Venedig, wollten das aber selber nicht eingestehen. Die Amerikaner hingegen blieben bei ihrem irrwitzigen Plan und begannen, viele Jahre bevor die schmelzenden Polkappen zur Gefahr wurden, Milliardensummen in hohe Kaimauern, Erhöhungen von Straßen und Häusern und in einen Wall, der an vielen Stellen errichtet wurde, zu stecken. Die Welt beobachtete dieses, aus ihrer Sicht, Geldverbrennen und lachte. Sie lachte und lachte, bis es irgendwann die New Yorker waren, die lachten, denn einige Jahre später begann sich der Wasserspiegel rasant zu heben und auch andere Länder wie Großbritannien, Griechenland, Kuba und Co. errichteten Wälle und Kaimauern, um ihr Land zu schützen. Für Länder wie die Niederlande kam jedoch jede Rettung zu spät und viele Niederländer mussten ins nahe Inland fliehen. Nur Frankreich blieb standhaft und verleugnete nach wie vor die immer schlechter werdenden Umstände. Sie verneinten die Klimaerwärmung und bezweifelten, dass der sich hebende Meeresspiegel an den schmelzenden Polkappen liegen könnte. In ihren Zeitungen wurde von der Lügenpresse anderer Länder berichtet und von dem übertriebenen Schüren von Angst ihrer Regierungen. Auch als die Vereinten Nationen mit Nachdruck rieten gefährdete Regionen zu evakuieren und Frankreich Hilfe anboten, blockten sie ab und blieben standhaft auf ihrer Ahnungslosigkeit bestehen. Einige Jahre später fegte ein schlimmer Sturm über das Land und drückte immer mehr Wasser ins Landesinnere. Einige der Atomkraftwerke, die sich aufgrund der Kühlanlagen an Flüssen und Meeren platziert hatten, wurden überschwemmt und zwei von ihnen kollabierten komplett. Als das Wasser zurückging, musste man feststellen, dass die Kühlreaktoren so weit zerstört waren, dass jede Hilfe zu spät kommen würde. Innerhalb von drei Tagen kam es zu zwei so drastischen Ausfällen, dass die Brennstäbe eines nahe der Küste gelegenen Kraftwerks überhitzten und eine Kernschmelze erfolgte. Viele der Arbeiter, die damals versuchten die Lage zu retten, starben bei dem Versuch das Kraftwerk zu kühlen. Die radioaktive Wolke verzog sich ohne weitere Komplikationen und der radioaktive Regen ging nicht über Land, sondern dem offenen Ozean nieder. Viele Menschen starben bei der Sturmflut und den Folgen der radioaktiven Strahlung und Frankreich verhängte eine zweimonatige Staatstrauer. Deutschland schickte sein Militär, um beim Wiederaufbau und der Entseuchung zu helfen, ob aus Diplomatie oder aus Eigeninteresse, nicht Opfer weiterer Verstrahlungen zu werden, war damals unklar. Die Flüchtlingswellen, die Frankreich verließen, wurden aber von Jahr zu Jahr größer. Aufgrund der ständigen Überflutungen war es fast unmöglich die Felder zu bewirtschaften und die Nahrungsmittel wurden, trotz Hilfen der UNO, immer knapper. Deutschland nahm eine Menge Flüchtlinge auf und viele Länder feierten die Offenheit der Deutschen, manche Länder verspotteten aber auch die Naivität und das Ausnutzen ihrer eigenen Bevölkerung. Viele Deutsche gingen auf die Straßen und feuerten gegen ihre Regierung. In den deutschen Zeitungen prangten Titel wie: „Deutschland, das zweite Frankreich?!“ Oder „Ausländer rein, Deutsche raus“. Aber auch Deutschland knickte irgendwann unter den immer größer werdenden Flüchtlingsströmen ein und schloss seine Grenzen. Von einem Tag auf den anderen druckten viele Länder in ihren Zeitungen, dass Deutschland zurück ins Nazitum verfalle. Die Welt sieht eben nur mit einem Auge. Auch Länder wie Italien, Spanien, Portugal und sogar kleinere wie die Schweiz und Belgien hatten mit den Flüchtlingsströmen zu kämpfen und schlossen bald die Grenzen. Der Zwang der Franzosen immer gefährlichere Fluchtwege zu wählen rief schnell Schleuserbanden auf den Plan und obwohl die USA, die Mittel zu helfen hatten, zogen sie sich von diesem Problem zurück und wiesen viele Flüchtlinge sogar ab, die es über den Ozean geschafft hatten.
Aber auch in Amerika gab es nach einiger Zeit immer mehr Flüchtlinge, die zu jung waren, um sie zurückzuschicken, und auch Philippe hatte es geschafft eine der begehrten Staatsangehörigkeiten zu bekommen und kämpfte sich immer weiter in die amerikanischen Sitten und Bräuche hinein. Er schaffte es sogar eine Arbeit in einer nahegelegenen Schlachterei zu erhalten. Eines Nachmittags, am Ende eines langen Arbeitstages, ließ Philippe sich auf einen der großen weißen Eimer fallen, in den das Rinderblut aufgefangen wurde, und starrte auf die Weiten der vor ihm liegenden Weiden. Sein damaliger Chef setzte sich zu ihm und hielt eine Zigarette vor seine Nase. Philippe lehnte das teure Vergnügen dankend ab und beobachtete, wie die Rauchschwaden in die flimmernde Luft stiegen. „Weißt du was?“, hatte der Schlachtmeister das Wort erhoben und quatschte den zwanzigjährigen Franzosen in einem starken texanischen Akzent an. „Ich glaube, du bist kein Schlachter, mein Junge, ich glaube, du bist alles, nur das nicht, selbst Ballerina würde dir besser stehen, so wie du immer zuckst, wenn du den Bolzen in die Rinderköpfe schießt. Ich will nicht sagen, dass du kein Talent hast, ganz im Gegenteil, ich kannte noch nie jemanden, der so präzise tötet wie du, aber hast du mal daran gedacht, einen anderen Weg zu wählen, ich glaube dein Talent wäre beim Militär sehr willkommen.“ Philippe, der den häufig stark nuschelnden Mann nur schwer verstand, winkte ab. „Bei allem Respekt Sir, ich bin froh, dass ich eine Arbeit habe, aber ich töte eigentlich sehr ungerne. Ich glaube nicht, dass ich ein Soldat sein könnte, ich möchte niemanden töten, wenn ich jemanden beschützen kann.“ Das bellende Lachen schallte Philippe um die Ohren und unvermittelt zuckte er zusammen. „Aber, aber als Soldat bist du in diesem Land sehr geachtet.“ Ein schüchternes Kopfschütteln. „Nein, Sir, das kann ich wirklich nicht.“ Der dicke Mann stand auf, warf die Zigarette auf den staubigen Boden, zerdrückte sie zwischen Sohle und Sand und beugte sich zu Philippe hinunter. „Dann geh halt zur Bullerei, mein Junge.“ Mit völligem Unverständnis erwiderte Philippe seinen Blick. „Aber Sir, ich arbeite doch bereits in einer Bullerei.“ Ein gellendes Lachen, der dicke Mann brach unter einem Beben zusammen, wie ein Schwein kugelte er sich vor Lachen im Sand, danach erhob er sich, packte Philippe beim Ohr, zog ihn an seine Brust und sagte in gut gemeinter Ernsthaftigkeit. „Ernsthaft, pack deine Sachen und arbeite für die Polizei, ich will nicht mehr sehen, wie du dich hier von Tag zu Tag durch deine Arbeit quälst, du bekommst ein Ticket für den Bus und zwei Gehälter, morgen bringe ich dich zur Haltestelle. Du bleibst nicht hier, aus dir wird noch was, du wirst schon sehen.“
Aus Philippe wurde auch etwas. Am nächsten Morgen brachte ihn der dicke Mann tatsächlich zur Haltestelle, drückte ihm ein Bündel Geld in die Hand und einen dicken, feuchten, nach Nikotin und Rind stinkenden Kuss auf das Haar und winkte dem Bus hinterher, bis der schon nicht mehr zu sehen war. Der Bus fuhr ohne Halt immer weiter, durch einen Tag und eine Nacht und als die Sonne wieder zu sehen war und Philippe seine Augen öffnete, schlängelte sich der Bus bereits durch den High Yorker Verkehr. Die Stadt, die durch die Fortschrittlichkeit der Wälle und Kaimauern nun viele Meter über dem Wasserspiegel lag und deswegen seinen neuen Namen trug, war noch beeindruckender, als Philippe es sich zu erträumen gehofft hatte. Manhattan war gewaltig und High York zu seinem „American Dream“ geworden. Von dem Geld in seinem Rucksack kaufte er sich die größte Wohnung, die er finden konnte – dass es am Ende nur eine alte, ranzige und halb zerstörte Fabrikhalle wurde, spielte für den jungen Mann keine Rolle. Er genoss die hohen Wände und deckte die Löcher in den Fenstern mit Decken ab, die er einer alten Frau mit grauen Haaren und einem Einkaufswagen abkaufte. Er schrieb sich beim High Yorker Police Department ein und einige Monate später thronte er neben Dorian auf jenem unbequemen Klappstuhl.
„Glaubst du, dass die amerikanische Regierung wirklich als Einziger wusste, dass die Polkappen weiter schmelzen werden?“ Philippe sieht zu dem schmatzenden Dorian herüber, der gerade einen senfigen Kampf gegen eine Salatgurke verliert. „Was meinst du?“, schmatzt er Philippe entgegen. „Na ja, die Sache mit dem Klimawandel war doch allen bewusst, oder? Warum haben wohl nur die Amerikaner gehandelt.“ Die Salatgurke fällt mit einem Flatsch auf Dorians Hose, wild fluchend reibt er auf dem immer größer werdenden Fleck herum, schluckt den Bissen herunter und wendet sich dann wieder Philippe zu. „Also ich persönlich glaube, dass die Amerikaner sich da etwas beweisen mussten. Ich meine, durch die ziemlich bescheuerte Wahl unseres Präsidenten, ich meine, bevor das alles so richtig schlimm wurde, waren es wir, die den Klimawandel geleugnet haben. Mit dem Wechsel des Präsidenten änderten sich auch die Ansichten der Bevölkerung und der neue Präsident wollte wohl beweisen, dass die USA eben doch an den Klimawandel glauben. Dass das am Ende wirklich alles stimmte, war vermutlich mehr Zufall als Planung.“ Bevor Dorian wieder in das tropfende Sandwich beißt, stellt er Philippe noch die Frage, die ihn den ganzen Tag schon beschäftigt. „Du, Philippe? Du musst da natürlich nicht drauf antworten, aber was glaubst du ist in den Ordnern, die du vom Captain hast?“ Philippe schwingt seine Beine über die Kaimauer, steht auf und lehnt sich gedankenverloren gegen die Brüstung. „Ich glaube die Wahrheit.“ „Welche Wahrheit?“, nuschelt Dorian um das Stück Sandwich in seinem Mund herum. „Die Wahrheit, was uns die Zukunft bringen wird.“ Mit einem Würgen schluckt Dorian das letzte Stück Sandwich herunter und gesellt sich neben Philippe an die Brüstung. „Du meinst, da stehen die geplanten Absätze des § 4253 drin? Wäre es nicht furchtbar? Stell dir vor sie verbieten nicht nur den Autobau, sondern Autos komplett, das wäre katastrophal und ein ziemlich drastisches Eingreifen in unser Leben. Ich habe im Internet gelesen, dass sie sogar den Strom aus der Atomkraft abstellen wollen, ich denke aber, das ist Quatsch, so verrückt sind die nicht. Was sagst du dazu?“ Philippe starrt auf das schnell fließende Wasser des Flusses, auf die aufgebrachten Wellen und auf die laut vorbeidampfenden Touristenkreuzer. „Ehrlich gesagt Dorian, glaube ich, dass uns das ganz richtig geschieht. Wir Menschen sind viel zu respektlos mit unserer Heimat umgegangen, wir wollten immer weiter hinauf, immer schneller mehr Geld machen und jetzt haben es endlich mal ein paar Menschen in die Hand genommen etwas zu ändern, uns den Spiegel unter die geschlossenen Lider zu schieben und uns auf unsere eigene Wahrheit gestoßen.“ Dorian kneift perplex die Augen zusammen. „Ich glaube nicht, dass es solche Drastik dazu braucht, Philippe, wie willst du das auch beurteilen.“ Philippe lässt das Geländer los und presst Dorian die Faust gegen die Brust. „Ich glaube, ich kann das sehr gut beurteilen, ich habe durch den Klimawandel alles verloren, meine Heimat, meine Kultur, alles weggespült von einer wegsehenden Politik, einer Politik, die neben den feinen Designeranzügen Scheuklappen trägt. Also verdammt noch mal, ja Dorian, ich glaube ich kann das einschätzen!“ Nachdem Philippe sein Zischen beendet hat und seine Augen sich von Schlitzen zurück zu Mandeln geformt haben, entlässt er Dorian aus seinem Bann und schlendert, zwischen den Häusern, zum Wagen zurück. Dorian stolpert hinter Philippe her, greift ihn am Arm und hechelt: „Hey, es tut mir leid, ich habe das nicht so gemeint, Philippe.“ Der Mann entreißt sich Dorians Griff und sagt mit leichter Trauer in seiner Stimme: „Ich weiß Dorian, ich habe es aber so gemeint.“
Philippe schweigt in das Rauschen des Wagens hinein und obwohl der Asphalt immer wieder Steine gegen den Unterboden schlägt, obwohl das Funkgerät die ganze Zeit über in einem stereoähnlichen Sound vor sich hin krakeelt obwohl das Hupen der Autos manchmal unerträglich laut wird, ja selbst, wenn das Blaulicht über ihren Köpfen sich mit schrillen Sirenen den Weg durch den Verkehr schreit, selbst dann drückt Dorian die Stille seines Partners auf die Ohren. Immer wieder versucht er sein Schweigen zu brechen, ihn zu einem Gespräch oder nur einem Wort zu bewegen, doch selbst wenn Dorian ihm eine Abkürzung über das Schrillen der Sirenen zuschreit, selbst dann schweigt er und gibt ihm nur mit einem knappen Nicken sein Verständnis durch. Philippe scheint so tief in irgendwelchen Gedanken zu stecken, dass es Dorian manchmal so vorkommt, wenn sie an einer Ampel stehen bleiben oder einen Kaffee bei einem Drive-in holen, als würde er alleine im Wagen sitzen und den Autopiloten fahren lassen.
Aber auch ohne Worte hören die Einsätze nicht auf weniger zu werden und umso mehr die Sonne sich hinter dem Smog verzieht, umso riskanter werden sie. Die Menschen scheint der immer weniger werdende Sauerstoff irgendwie aggressiver zu machen. Um 04:43 p.m. lehnt Dorian sich gegen die Kühlerhaube des Streifenwagens und wischt sich mit dem Ärmel seines Hemdes den Schweiß von der Stirn, der ihm stetig vom Kopf tropft und in seinen Augen brennt. Philippe sitzt derweil schweigend im Wagen und reinigt den Lauf seiner Waffe, sorgfältig zieht er die Messingbürste von der Mündung zum Patronenlager, immer wieder wiederholt er den Schritt, bis er mit seiner Arbeit zufrieden ist. Geübt lädt er die Waffe einmal durch und platziert sie zurück im Holster, bevor er sich zu Dorian gesellt. „Na, alles wieder sauber?“ Ein knappes Nicken aus Philippes Richtung. Irgendetwas hat sich jedoch an der Art geändert, wie Philippe schweigt, und da Dorian ihn auch ohne Worte lesen kann wie ein Buch ohne Einband, winkt er nur genervt ab. „Mann, Philippe, mach dir das jetzt doch nicht zum Vorwurf, du musstest schießen.“ Philippe zuckt mit den Achseln und geht in Gedanken den letzten Einsatz durch. Immer wieder spielt er die Schusssituation im Kopf ab, wie er es immer tut, um sich seiner getroffenen Entscheidung auch weiterhin sicher zu sein. Obwohl er weiß, dass das nichts an seiner, ohnehin schon getroffenen, Entscheidung ändert, fühlt es sich richtig an die gezielte Verletzung oder Tötung eines Menschen nicht einfach so zu vergessen. „Hättest du geschossen?“, richtet er das Wort an Dorian. „Ob ich geschossen hätte?“ Verwundert über die seltsame Frage stößt der sich von der Kühlerhaube und drängt sich in Philippes Blickfeld. „Wenn du in der Sekunde nicht geschossen hättest, hätte ich es in der nächsten getan, also ja, ich hätte ganz sicher geschossen, der Typ kann noch froh sein, dass wir nicht beide geschossen haben. Wir haben ihm schließlich mehrmals angeboten sich gegen das Messer und für die Handschellen zu entscheiden. Mach dich also nicht verrückt, du hast ihn ja ziemlich präzise an der Schulter erwischt, er sollte sich also auch nicht beschweren können.“ Zu Dorians Erstaunen nickt Philippe nicht nur, sondern antwortet sogar mit Sprache auf seine Aussage. „Es wäre mir trotzdem lieber, wenn du zuerst geschossen hättest.“ Mit zusammengekniffenen Augen legt Dorian seinen Kopf zur Seite und versucht die ziemlich dreiste Aussage seines Lieutenants einzuordnen. Um Missverständnissen vorzubeugen, erhebt erneut Philippe das Wort. „Na ja, jetzt muss ich den ganzen Papierkram machen.“ Ein Lächeln umspielt seine Lippen. Erleichtert über seine Antwort und das Brechen der Stille boxt Dorian Philippe in die Seite, wischt sich ein letztes Mal die Tropfen von der Stirn und lässt sich wieder auf den Beifahrersitz fallen. Einmal aufhupend versucht er Philippe dazu zu bewegen es ihm gleich zu tun. Stöhnend zieht sich der die Maske zurück ins Gesicht, gibt dem Drängeln seines Partners nach und nimmt hinter dem Lenkrad Platz. In der Sekunde, in der Philippe den Fuß von der Kupplung nimmt und der Wagen aus der Parkbucht rollt, krakeelt das Funkgerät weiter mit einem kurzen, „Vier acht, vier neun.“ meldet sich Philippes Beifahrer der Leitstelle. Die Frau, die auf der anderen Seite der Leitung die Leitstelle vertritt, gibt eine neue Adresse durch und Philippe beschleunigt den Wagen zurück in den engen Verkehr. Erneut ein Krakeelen und die Frauenstimme erklingt. „Hey Jungs, habt ihr schon gesehen, was die Einsatzinfos sind?“ Dorian scrollt auf dem kleinen Display, das vor ihm am Armaturenbrett hängt, herum und schüttelt stumm den Kopf. „Nein. Wir haben noch keinen Bericht darüber erhalten“, meldet sich diesmal Philippe. „Dachte ich mir Lieutenant Lafin, der Grund ist, dass sich die Officer vor Ort nicht ganz sicher waren, wie sie vorzugehen haben, sie baten die Leitstelle um Unterstützung.“ Genervt verhärtet Philippe seine Stimme. „Das ist schön, ich habe aber keine Zeit zum Quatschen, um was geht es denn?“ Das ruppige Verhalten offensichtlich gewöhnt, redet die Frau unbeirrt und gleichbleibend freundlich weiter. „Das Problem ist, sie haben die Leiche einer Frau gefunden, die Kollegen der Mordkommission sind aber mit einem anderen Fall betraut worden. Ich hielt es für das Beste, wenn Sie es sich erstmal ansehen könnten, Lieutenant, vielleicht liegt auch nur ein Selbstmord vor.“ Dorian hätte eigentlich nicht gedacht, dass Philippes Laune noch schlechter werden könnte, aber ziemlich rapide tat sie es doch und ohne zu brüllen, aber doch in einem sehr, sehr bestimmten Ton antwortet Philippe dem Display zugewendet. „Bei allem Respekt für Ihre Arbeit, und ich weiß, dass auch Sie heute einen harten Tag haben werden, aber nur ein Selbstmord? Nur ein Selbstmord? Ich hoffe doch sehr, dass das nicht Ihr Ernst ist, so etwas gibt es meines Wissens nicht, eine Leiche ist eine Leiche. Ich sehe mir das gerne an, aber bitte ziehen Sie mein Mordteam sofort von dem ab, was auch immer sie gerade machen und sagen Sie ihnen, meinetwegen auch in meinem Namen, dass sie ihre Ärsche sofort dahinkarren sollen! Vier acht, vier neun. Ende.“ Mit einem Schlag auf das Display drückt er die in monotoner Freundlichkeit weitersprechende Frau weg und bevor er Dorian bittet das Blaulicht zu betätigen, macht er seiner Wut ein wenig Luft und drängelt sich demonstrativ in eine zu groß gewordene Lücke.
Obwohl das Blaulicht wütende, rote und blaue Lichter gegen die engen Manhattaner Häuserwände wirft und die Sirene auf der Grenze zum Hörsturz balanciert, schiebt sich der Streifenwagen langsam voran. Block für Block kämpft er sich nach vorne und manchmal hat Philippe das Gefühl, als wolle der immer nervöser werdende Dorian jetzt doch anfangen auf Autos zu schießen, die sich nicht aus dem Weg bewegen. Aggressiv und den kleinen Block so haltend, dass es die Fahrer der Wagen sehen können, notiert er sich Kennzeichen für Kennzeichen und versucht immer wieder Philippe mit in seine genervte Stimmung zu ziehen, indem er Parolen wie „So, den habe ich!“, „Den melde ich!“ und „Hast du das gesehen, der hat sich nicht mal entschuldigt, seinen kack Dukjon-Flitzer im Weg stehen zu lassen, der ist außerdem tiefergelegt worden, pah, den melde ich!“ verlauten lässt. Zu Philippes Vergnügen geht es noch die ganze Fahrt so weiter, bis sie endlich in eine verkehrsberuhigte Straße einbiegen, die außer ein paar herumstreunenden Katzen und abgeknickten Straßenlaternen nichts von dem Trubel zeigt, der sonst in High York vorzufinden ist. Die Geschwindigkeit herunterregelnd rollt der Streifenwagen durch die mit Smog bedeckte Straße. Mit einer Hand dreht Philippe die Sirene aus und beobachtet, wie das Flackern des Blaulichts sich weiter durch den Smog frisst. „Hier irgendwo muss es sein, siehst du schon etwas, Philippe?“ „Nein. Du? Hier müssten doch irgendwo Streifenwagen stehen, oder?“ „Mmh, ja, denke schon, halt mal da vorne, ich glaube da ist was.“ „Ja stimmt, da stehen zwei Streifenwagen, ach und Dorian?“ „Ja?“ „Kann ich mal kurz den kleinen Block haben?“ Stolz reicht Dorian Philippe den Block und nickt zufrieden über sein Tagewerk. Philippe grinst ihm bestätigend und Lob vortäuschend entgegen und wirf den kleinen Block aus dem Fenster. Dorian sieht dem auf der Straße tanzenden Block hinterher und starrt Philippe mit aufgerissenem Mund entgegen. „Du wolltest die doch nicht wirklich alle melden, oder?“ Niedergeschlagen schüttelt Dorian seinen Kopf. „Nein, nein ich denke, das wollte ich nicht.“ Immer noch mit einem breiten Grinsen nickt nun Philippe zufrieden. „Dachte ich mir.“ Der Wagen hält und beide Männer steigen aus dem Auto.
„Guten Nachmittag Lieutenant, schön, dass Sie kommen konnten.“ Eine kleine Frau, die Philippe gerade bis zur Brust geht, schüttelt seine Hand. Freundlich nickend erwidert er den Gruß der jungen Frau, schweigt aber weiter. „Wir dachten zuerst die Leitstelle hätte uns nur eine weitere Streife geschickt, weil wir Sie in einem Zivilwagen vermutet hatten.“ Mit einem zermürbenden Blick auf Dorian, der auch sogleich den Kopf ein weniger tiefer trägt, erwidert er der zierlichen Frau: „Wir dachten auch, dass wir mit einem Zivilwagen kommen würden, aber heute sind die Dinge wohl etwas anders. Was können Sie uns den über den Fall sagen, Officer?“ Die kurze Frau redet weiter: „Leider noch nicht viel Lieutenant. Es ist die Leiche einer jungen Frau, wir konnten sie anhand ihrer Fingerabdrücke identifizieren. Ihr Name ist Fiona Duczek. Sie kommt ursprünglich aus Polen, einen Pass haben wir nicht bei ihr gefunden. Die ganze Sache sieht aus wie ein Mord, aber die Indizien sprechen eher für einen Selbstmord.“ Auf Philippes fragenden Blick reagierend spricht sie mit einer kurzen Pause weiter. „Es gibt einen Brief und die Leitstelle konnte mir berichten, dass das Opfer große Mengen an Airbus-Aktien hielt, aber ich kann mir nicht helfen, irgendetwas an diesem anscheinenden Selbstmord ist komisch. Wir haben außer dem Brief noch ein Flugticket gefunden, auf dem ihr Name natürlich nicht draufstand, Sie wissen schon, die neuen Datenschutzrichtlinien, außerdem ein kleines gläsernes Okapi. Sonst hatte die Frau nichts bei sich.“ Der Boden verwandelt sich von staubigem Sand in schleimigen Morast und alle drei ziehen ihre Köpfe ein, als sie durch den Eingang, der mehr ein großes Loch in einer mit Graffiti besprühten Wand ist, treten.
Die Luft in der großen alten Industriehalle ist im Verhältnis zu der dicken schwülen Luft, die schon seit Wochen über High York hängt, kühl und feucht, hie und da tropft es sogar von der Decke. „Wohin ging das Flugticket, das sie bei sich trug, und was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, irgendetwas ist komisch daran? Entschuldigung, wenn ich auf dem Schlauch stehe, was haben Airbus-Aktien damit zu tun?“ Philippe versucht während des Gesprächs immer wieder mit der kleinen Frau Schritt zu halten, die für ihre Größe erstaunliche Geschwindigkeiten an den Tag legt. „Oh, haben Sie es noch gar nicht gehört? Sie haben den ersten Absatz veröffentlicht und …“ „Ja, ich weiß!“, unterbricht er die Frau im Wort. „Ich dachte aber, dass er nur den Autobau verbietet?“ Ewas eingeschüchtert und bemüht respektvoll nickt die kleine Frau immer wieder verständnisvoll und fährt dann fort. „Nein Sir, leider nicht, der erste Absatz ist weitaus allgemeiner gefasst worden, er verbietet den gesamten Bau von allen Verkehrsmitteln, die schädlich für die Umwelt sind, um es mal grob auszudrücken. Und bevor Sie nochmal fragen müssen, das Flugticket war für einen Flug von Frankfurt in Deutschland nach High York. Laut der Uhrzeit ist sie heute ganz früh gelandet.“ Philippe beißt sich auf die Unterlippe – hätte er nur diese blöden Ordner in Angriff genommen, bevor er heute Morgen losfuhr. Da daran jetzt aber nichts mehr zu ändern ist, erwidert er nur knapp: „Natürlich, ich hatte es für einen Moment verdrängt und ich schätze mal nicht, dass Sie wissen, was die Frau in Deutschland wollte?“ Die kleine Frau hinterfragt die anscheinende Unwissenheit über die aktuelle Situation nicht weiter und quasselt unbeirrt weiter. „Nein, wir wissen nicht, was sie in Deutschland wollte, so weit sind wir aktuell noch nicht. Sie wollten doch wissen, warum mir die Sache komisch vorkommt. Hier, sehen Sie selbst.“ Alle drei stehen vor einer großen milchigen Plane. Der Plastikgeruch umhüllt sie wie eine Wolke, und Dorian, der etwas hinter Philippe und dem Officer läuft, rümpft die Nase. Für ihn ist dieser Geruch auf ewig mit dem Tod verbunden, seit er selbst drei Jahre bei der Mordkommission gearbeitet hat. Die kleine Frau hebt den Schleier und legt damit den Blick auf die Leiche frei. Zwei Gerichtsmediziner in weißen Overalls knien um den leblosen Körper; als sie Philippe sehen, stehen beide auf und nicken ihm zu. „Kann ich es mir ansehen?“, richtet Philippe das Wort an sie. Etwas verwundert sehen sie sich an. „Wir hatten eigentlich mit der Mordkommission gerechnet Sir, aber natürlich können Sie es sich anschauen, die Spurensicherung hat ihren Job schon beendet und wir können auch später mit unserer Arbeit fortfahren.“ Zögernd macht Philippe einen Schritt auf die Leiche zu, Dorian folgt ihm. „Können Sie schon etwas über die Todesursache sagen?“, wendet Dorian sich an den jüngeren der beiden Männer. „Sie starb wahrscheinlich durch einen Genickbruch, sie hat sich erhängt, baumelte, als wir gekommen sind, da oben unter der Decke.“ Er deutete auf einen T-Träger, der von einer Seite der Halle in die andere führt. „Wir haben sie runterschneiden müssen, sie hat eine ziemlich miese Prellung am Kopf, die aber älter ist, es sieht nicht nach Fremdeinwirkung aus.“ Philippe umkreist langsam und leise die Leiche, es kommt ihm immer so vor, als gebiete der Tod die Ruhe, um die Toten nicht zu wecken. Die Gerichtsmediziner durchqueren den Vorhang aus Plastik, und bevor er hinter ihnen zufällt, grummelt der Ältere: „Sagen Sie Bescheid, wenn Sie fertig sind, damit wir sie eintüten können.“ Und etwas respektvoller erwidert der Jüngere, durch den Job weniger verdorben: „Lassen Sie sich aber gerne Zeit.“ Ein langsames Nicken aus Dorians Richtung und der Vorhang fällt.
Nachdem Philippe die Leiche mehrfach umrundet und sich einen Überblick verschafft hat, rückt er ein wenig näher an das bleiche Gesicht heran. Die Augen sind offen, in ihnen liegt kein Ausdruck. Die blonden Haare sind ordentlich zu einem dünnen Zopf geflochten und über dem Gesicht hängt eine Strähne. Philippe schaudert, er kennt diese Frau, irgendwoher kennt er die Frau, in seinem Kopf kreisen die Gedanken, immer wieder fliegt die Antwort vorbei, legt sich auf seine Zunge, bleibt aber unaussprechbar. Er betrachtet ihre Kleidung, sie gab sich wohl Mühe gut auszusehen, der Rock nicht zu kurz, um anstößig zu wirken, aber auch nicht so lang, um ihre Weiblichkeit zu verstecken, eine vermutlich ehemalig sauber eingesteckte Bluse darüber. Die Kleidung wirkt nicht teuer, Material und Aussehen eher billig. Philippe richtet sich aus der Hocke auf, stößt dabei aber versehentlich gegen das Holster seiner Waffe. Für einen Sekundenbruchteil springt ein Bild vor seine Augen, eine zur Waffe geformte, an den Kopf gehaltene Hand. Verwundert über diese merkwürdige Sequenz aus seinem Gedächtnis reibt er sich den schmerzenden Ellbogen. Dann stolpern Worte über seine Lippen: „Brighter than the sun.“ „Hast du was gesagt?“ Dorian blickt aus einer Akte auf und runzelt die Stirn. „Nein, habe ich nicht“, entgegnet Philippe mehr zu sich als zu Dorian. Dann zuckt er zusammen und ruft nach der kleinen Frau. „Officer?“ Die zierliche Frau wischt durch den Spalt der Plastikplane. Ohne auf das „Ja Sir!“ zu warten, spricht Philippe weiter: „Die Frau hat keinen Selbstmord begangen!“ Dem Officer entgleitet für einen Moment das Gesicht, stotternd versucht sie sich zu sammeln. „Aber …, aber …, woher …, wie …, ich meine …?“ Genervt rollt Philippe mit den Augen. „Fährt die Frau einen alten Fiat Punto?“ Immer noch perplex, scrollt sie auf dem Display in ihrer Hand herum und nickt dann zart. „Ja Sir, einen 1993er blauen Fiat Punto, woher …?“ „Spielt keine Rolle“, unterbricht er erneut die Frau. „Was steht in dem Abschiedsbrief? Sie sagten eben irgendetwas von Airbus-Aktien.“ Der Officer scrollt schnell auf dem Display nach oben und drückt ihn dann Philippe in die Hand. Philippes Augen fliegen schnell über den Text, manchmal nickt er bestätigend, dann reicht er das Display zurück an die junge Frau. „Grob gefasst schreibt sie, dass sie sich wegen der großen Verluste an ihren Airbus-Aktien und der damit verlorenen Unsummen nicht mehr im Stande fühlt weiterzuleben. Richtig?“ Bestätigung. „Das ist sehr grob, Sir, aber ja, das stimmt.“ „Diese Frau hatte ganz sicher keine Airbus-Aktien.“ In dem Gesicht des Officers spiegelt sich Entrüstung wider. „Aber die Leitstelle meinte ...“ Wieder ein Augenrollen. „Die Leitstelle weiß auch nicht alles, mag ja sein, dass sie mal Aktien hatte, aber jetzt bestimmt nicht mehr. Warum sollte sie einen uralten Fiat fahren, billiges Haarfärbemittel benutzen, das die Haare immer dünner werden lässt, und Kleider tragen, die von einem dieser Billigkaufhäuser kommen?“ Das Display von einer Hand in die andere schiebend hält die Frau ihre Augen zu Boden gerichtet. „Sir, das wird nicht ausreichen, um das als Mordfall aufzunehmen.“ Philippes Anspannung steigt: „Mein Gott, wann war der Todeszeitpunkt?“ Eine vorsichtige Antwort. „Circa vor sechs Stunden, Sir.“ Seine Theorie bestätigt sehend lüftet sich Philippes Stimmung. Er tippt ein paar Daten in sein Handy und hält es dann der immer noch nervös dreinblickenden Frau vors Gesicht. „Hier, sehen Sie sich das an, die Dukjon-Aktie ist vor ca. zwanzig Stunden in den Keller gefallen, die Airbus-Aktien aber erst vor vier Stunden, das heißt, die Frau kann das noch gar nicht gewusst haben, als sie sich umbrachte.“ Die Frau vor Philippe betrachtet das Display des Handys und schüttelt erneut den Kopf. „Sie kann es doch schon vorher erfahren haben. Sie hätte zum Beispiel schon den Absatz lesen können und damit Rückschlüsse ziehen.“ Philippe hebt ungläubig und verständnislos die Augenbrauen. „Hätten Sie sich umgebracht anhand von Rückschlüssen? Hätten Sie nicht auch gewartet, bis die Aktien wirklich fallen, bei allem Respekt, niemand begeht Selbstmord aufgrund von irgendwelchen Rückschlüssen! Und genau wie Sie und ich hat sie die Bekanntmachung bestimmt auch nicht sofort ernst genommen, wenn sie überhaupt noch im Besitz dieser Aktien war.“ Endlich nickt die Frau, Philippe atmet merklich aus und verlässt seine leicht drohende Haltung dem Officer gegenüber. „Na gut, das klingt plausibel, fragt sich nur, ob es genug ist, um von Mord auszugehen.“ Philippe stöhnt. „Die Mordkommission, die den Fall bearbeiten wird, ist mir unterstellt, also denke ich schon, dass es genug ist.“ Mit einem hörbaren Schlucken und einem „natürlich Sir“ verschwindet die Frau wieder hinter dem Plastik. Dorian, der sich das Spektakel von weiter hinten angesehen hat, tritt jetzt auf Philippe zu und legt ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. „Weißt du, warum ich mir die ganzen Nummernschilder notiere?“ Auf seine ironische Frage keine Antwort verlangend, spricht er weiter. „Weil ich nicht den Rang habe meinen Ärger an einem Officer auszulassen.“ Philippes Stirn legt sich in Falten. „War ich so gemein?“ Laut lachend reißt Dorian die Augen auf. „Bruder, dass du ihr nicht ins Gesicht gesagt hast, dass sie dumm ist, war auch schon alles.“ Etwas schuldbewusst durchquert Philippe den Vorhang, anstelle des erwarteten Officers findet er aber die zwei Frauen wieder, die Dorian und ihm am Morgen den letzten Zivilwagen vor der Nase weggeschnappt haben. Mit einem breiten Grinsen geht er auf die Damen zu. „Hallo Sabrina. Na, wie fährt es sich so in meinem Wagen?“ Beide blicken auf. „Lieutenant, Sie sind noch hier? Wir dachten, dass Sie sich für einen Selbstmord nicht zuständig fühlen.“ Ein Zähneknirschen. „Für einen Selbstmord nicht, aber für einen Mord schon. Das Gleiche könnte ich im Übrigen auch von Ihnen beiden sagen oder heißen Sie jetzt Selbstmordkommission?“ Ein gehässiges, aber ironisch gemeintes Lachen der beiden Frauen. „Ha. Ha. Ha. Uns wurde von einer überaus freundlichen, aber von Ihnen wohl doch genervten Dame berichtet, dass wir unsere“, sie formt mit Zeige- und Mittelfinger Gänsefüßchen in die Luft, „Ärsche sofort hierher bewegen sollen.“ Philippe lacht. Dorian schmunzelt und nickt, darauf bedacht von Philippe ungesehen zu bleiben, den Frauen zu. „Na gut ihr beiden, der Punkt geht an euch, wurdet ihr vom Officer schon aufgeklärt?“ Die beiden Frauen nicken. „Ihre Vermutung klingt gut, wir werden uns mit den zuständigen Gerichtsmedizinern und der Spurensicherung unterhalten, vielleicht finden wir weitere Spuren, die Ihre Theorie erhärten.“ Froh darüber, dass er sich nicht weiter rechtfertigen muss, lächelt er den beiden dankend zu. „Dann möchte ich Sie nicht weiter aufhalten.“ Mit einer einladenden Handbewegung gibt er den Weg zur Leiche frei und begibt sich zusammen mit Dorian zum Streifenwagen zurück.
Um 08:33 p.m. rollt der Wagen nach drei weiteren Einsätzen in die Parklücke der Tiefgarage zurück. Die Schatten unter den Augen der beiden Männer sind tief. Ohne ein Wort zu sagen, verlassen sie den Wagen und durchqueren, nebeneinanderher schweigend, die muffige Halle. Im Treppenhaus teilen sich ihre Wege, da Philippe seine letzte Kraft zusammennimmt, um das Treppenhaus schneller als eigentlich möglich zu durchqueren. Mit schnellen Schritten fliegt er durch die Tür, ein wenig später folgt Dorian. Beide Männer bleiben noch einen Augenblick im Gang stehen, um den Tag zu besprechen, da das Großraumbüro in der entgegengesetzten Richtung von Philippes Büro liegt. Ihre Ruhe bleibt leider nicht lange erhalten, denn ein dicker Schnurrbart tragender Mann fliegt mit schnellen Schritten auf sie zu. Dorian, der den Mann zuerst kommen sieht, zieht den Kopf ein. „Uh, da kommt der Captain, keine Lust zwischen euch zu geraten, ich mache mich auf die Socken, freue mich schon auf eine kühle Dusche und mach du auch nicht mehr so lange.“ Mit diesen Worten flieht Dorian den Flur herunter. Bevor der Captain Philippe wirklich erreicht hat, schreit er schon den Flur hinunter. „Lafin!“ Philippe zuckt zusammen und nimmt, durch den Ruf getrieben, Haltung an. „Sir.“ Wild prustend und mit dem dicken Zeigefinger wedelnd erreicht ihn der Captain. „Sie hatten eine Aufgabe!“ schreit er so laut, dass die Glaswände der Büros vibrieren. „Eine Aufgabe und Sie haben sie links liegen lassen. Ich habe Ihnen die Ordner nicht gegeben, weil Sie in Ihrem Büro besser aufgehoben sind, sondern damit Sie sie schnellst–möglich bearbeiten. Als ich heute Morgen aber in Ihr Büro ging, um nachzusehen, wie Sie vorankommen, musste ich feststellen, dass Sie gar nicht da sind!“ Zum ersten Mal an diesem langen Tag ist es Philippe, der ein kleinlautes „Ja, Sir“ verklingen lässt. „Ich rate Ihnen die Ordner sofort zu bearbeiten oder sie brauchen morgen gar nicht mehr wiederkommen Lafin!“ Das Schreien hat ein Ende. Philippe kämpft gegen das Gefühl an sich die schmerzenden Ohren zu reiben. In ihm wächst der Ärger über das Gesagte. Er verlässt seine angespannte Haltung und beugt sich zu dem dicken, im Gesicht hochroten, Mann hinüber. „Sir, ich möchte ja nicht ausfallend oder respektlos werden, aber Sie haben mich heute Morgen um vier Uhr nachts, an meinem freien Tag, aus dem Bett geklingelt und mir etwas von einem Sturm erzählt, der aufgehalten werden muss. Sie haben mich angerufen. Mich. Obwohl es genug andere Lieutenants gibt, die heute nicht frei hatten, haben Sie sich für mich entschieden. Ich bin hierhergefahren, habe mich nicht beschwert und angefangen den Sturm zu zähmen, der Ihnen, verständlicherweise, so viel Angst gemacht hat. Jetzt werde ich, nachdem sich der Sturm nun gelegt hat, in mein Büro gehen und die zwei Ordner durcharbeiten, wenn Ihnen an meiner Reihenfolge etwas nicht passt, dann tut es mir sehr leid, aber nach vierzehn Stunden Arbeit könnte mein Gehirn ein wenig hinken.“ Mit diesen Worten dreht Philippe sich von seinem Captain ab und stampft an ihm vorbei in Richtung seines Büros.
Die Ordner sind schwer und riechen nach frisch kopiertem Papier. Das Papier ist scharfkantig und unbenutzt und erinnert Philippe an das hohe Grass auf einem Feld, die ihm als Kind so oft die Haut aufgeschnitten hatte. Eine Weile lässt er die Ordner geschlossen vor sich liegen, tastet sie aber nicht an, manchmal ist er versucht einfach aufzustehen und die Unwissenheit weiter zu genießen, dann schlägt er aber doch den harten und unnachgiebigen Kartondeckel zur Seite. Die Titelseite zeigt in fettgedruckten Buchstaben die vier Ziffern, die ihm schon den ganzen Tag durch den Kopf gegeistert sind. 4253. Langsam fährt er mit seinen Fingerkuppen über das glatte Papier. Seite für Seite gleitet Philippe durch die Finger, der Text ist schwer zu verstehen, bürokratisches Gerede. Manchmal muss Philippe die Zeile wiederholen, ganze Seiten nochmal lesen, um zu begreifen, was da geschrieben steht. Er schüttelt immer wieder den Kopf, will nicht glauben, was bald verboten sein wird. Seine Augen brennen stark, als er den ersten Ordner zuschlägt. Entrüstet starrt er in den Raum hinein, seine Welt scheint Kopf zu stehen, nichts mehr so zu sein, wie es mal war. Obwohl in seinem Kopf ein gigantischer Knoten seine Gedanken so fest verknäult, dass es fast weh tut, greifen seine Hände, wie in einem Bann gefangen, nach dem dünneren der beiden Ordner, der Pappdeckel schwingt zur Seite und das Deckblatt erscheint. Statt der Fortführung der Absätze, die Philippe eigentlich erwartet hatte, prangt auf dem Titelblatt nur ein Wort: „The Disposal“ – „Die Verfügung“. Verwundert blättert er zur Seite, liest die Einführung, nickt, schüttelt den Kopf, schaudert, schlägt den Ordner wieder zu. „Das können die nicht machen“, spricht er in den Raum hinein. „Was stellen die sich vor, das wird doch Konsequenzen geben. Das kann nicht …“ Er reibt sich mit der Handfläche über das Gesicht und schüttelt erneut den Kopf. Er erhebt sich von seinem Schreibtischstuhl, kramt sein Zeug zusammen und lugt auf die Uhr. 02:12 a.m. „Merde“, es war schon so spät oder früh, er weiß es nicht. Schnell entlädt er die Waffe und lässt das Holster wieder hinter den dicken Safewänden verschwinden. Eine Hand greift nach der Tasche, die andere zu den Ordnern, ein kontrollierender Blick über das Büro, dann zieht er die Tür zu und tritt auf den Gang.
Er schlägt den Weg zum Haupteingang ein, durchquert das kleine Foyer, grüßt den Wachmann, hechtet durch die Schwingtüren des Haupteingangs und lässt sich auf die Steinstufen fallen. Eine Hand liegt auf den Ordnern, eine Hand auf seinem Knie. Der Himmel ist klar, der Smog hat sich in dieser Nacht verzogen. Was für ein beschissener Tag das gewesen war, er hätte so gut werden können, wäre er einfach im Bett liegen geblieben. Das Problem ist, vor der Wahrheit hätte er fliehen können, er hätte sich die Decke über den Kopf ziehen, sein Handy auf stumm schalten und einfach verdrängen können, was heute passiert ist, aber vor der Zukunft kann man nicht wegrennen, das wird ihm von Minute zu Minute klarer. Die Zukunft würde kommen, ganz sicher, mit jedem Ticken der Uhr rückt sie näher, für manche tickt sie in diesen Tagen schnell, für manche langsam, aber sie würde kommen. Was ihm diese Zukunft bringen würde, er weiß es nicht, aber ganz sicher hatte sie sich nach dem heutigen Tag geändert und sie würde sich noch weiter ändern, jeden zweiten Monat würde sie sich ändern, immer wenn ein neuer Absatz bekannt gegeben würde und die Menschen würden es mit ihr tun, diesmal würden sie sich ändern, sie hatte nun keine Wahl mehr.
Sieben Jahre später