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2. Rügen, Deutschland

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„Sie haben die Schulbusse für heute abgesagt, komisch, oder?“ Ihre Freundin blickt in die entgegengesetzte Richtung, ohne auch nur den geringsten Laut zu geben. „Evelin! Hallo, hörst du mir überhaupt zu?“ Nichts rührt sich auf der anderen Seite des Tisches. Ein Stuhl wird energisch nach hinten geschoben und nach ein oder zwei Stampfern auf das Linoleum schiebt sich Lila in das Blickfeld ihrer Freundin. „Hallo? Ist da jemand? Oder hast du jetzt beschlossen die Gespräche mit mir vollkommen einzustellen.“ Erschrocken löst sich die Erstarrung, die zuvor noch Evelins ganzen Körper befallen hat. „Ja …, ja …, ja was ist denn?“ Ein genervter Blick und ein Augenrollen folgen. „Der Schulbus, er fährt heute nicht mehr. Der Schulbus, der wird heute nicht mehr nach Hause fahren, er ...“ Evelin sieht an ihrer Freundin vorbei, immer noch nicht auf das Gespräch konzentriert fliegen ihre Gedanken über die toten, braunen Felder, die vor dem Fenster wie Decken über der Landschaft liegen. „Ja! Ich habe es verstanden, du kannst das Megafon jetzt wieder wegpacken, das du in deinem Hals versteckt hast. Danke.“ Evelin erhebt sich schwungvoll von dem beschmierten Tisch, der zuvor noch einen grandiosen Sitzplatz abgegeben hat und wandelt, wie durch einen Tunnel gezogen, durch das Klassenzimmer zum Mülleimer, der am Ende des Raums neben der Tür steht. Vorsichtig lässt sie ein kleines Stück Papier in den Tret­eimer fallen, möglichst unbedacht, so leise, dass es keinem auffällt. Den ganzen Morgen hat es in ihrer Hand geruht, ist ganz aufgeweicht durch die Wärme ihrer Finger und überzogen von tausend Knicken und der Überlegung, was aus dem kleinen Papier mit Silberfolie werden soll. Ob es die richtige Entscheidung gewesen ist, es zu behalten und ihm so seinen Zweck zu rauben, konnte, nachdem es von dem schwarzen Eimer verschluckt worden ist, nicht mehr ermittelt werden. Fast erlöst von der Last des Papiers schlendert sie durch das Klassenzimmer, vorbei an den Kiffern, die sich immer in der letzten Reihe niederlassen, als würden sie wirklich denken, dass man den Geruch nicht bis vor zur Tafel riechen könnte. Vorbei an der dicken Lucy, die ein zu großes Hobby im Testen von Schokoladenriegeln gefunden hat und eine Kunst darin sieht, die Dutzenden Verpackungen unbemerkt neben den Tisch fallen zu lassen. Auch die anderen Mitschüler sind Evelins Ansicht nach totaler Durchschnitt. Da ist der lange Junge, aus der zweiten Reihe, der im Sportunterricht immer wie eine Spinne zwischen den Geräten hängt und sich mit seinen langen Beinen und den mageren Armen von einem Bock zum nächsten zieht. Die coolen Jungs und Mädchen aus der vierten Reihe, die zu cool sind, um freundlich zu sein und nur verzweifelt versuchen ihre Unsicherheit und das fehlende Selbstvertrauen zu verbergen, und natürlich die netten Mädchen und Jungs, die als Pendant zu den coolen zwar nicht hübsch oder hip sind, aber bereits erwachsen genug, um zu verstehen, dass es darauf nicht ankommt.

Als Evelin an der dritten Reihe ankommt, streicht sie im Vorbeigehen sanft über den Tisch, an dem normalerweise der nette Hawaiianer sitzt und zu ihr hinüberblinzelt. Der Junge, der seinen Platz heute frei lässt, ist bestimmt nicht der Schwarm der Schule, dafür ist er viel zu pfiffig. Er ist nicht cool oder angesagt, aber trotzdem scheint jeder seine freundliche Art und Hilfsbereitschaft zu genießen und wie eine negative Masse füllt er die Leere in jemandem aus, ohne sich selbst daraus einen Vorteil zu verschaffen. Langsam zieht das junge Mädchen die Finger über die zerkratzte Tischplatte und es kribbelt leicht an der Stelle der Hand, an der zuvor das kleine Stück Papier geruht hat. „Weißt du, wie wir jetzt nach Hause kommen sollen? Mein Vater kann uns diesmal nicht abholen.“ Der hübsche Kopf ihrer Freundin schiebt sich unangekündigt zwischen den Tisch und sie. Evelin zuckt zusammen, stößt sich von dem Tisch weg und läuft zurück zu ihrem Platz, ohne ihrer Freundin eine Antwort zu geben. „Du bist heute schon ein bisschen abwesend. Ist alles okay bei dir?“ Evelin reißt sich von ihren Gedanken los, die sie festzerren und fortragen wollen, und betrachtet statt der Felder vor dem Fenster ihre Freundin. Lila ist schon seit der ersten Klasse ihre beste Freundin, damals hatte Evelin gewusst, dass Lila mit ihrem violetten Schulranzen und dem lila Kleid eine grandiose Leidensgenossin für alle dreizehn Schuljahre abgeben würde. „So viel Lila“, hatte sie damals bei der Einschulung zu ihr gesagt und Lila hatte ihre Schultüte mit dem großen lilafarbenen Delfin beiseitegeschoben, so dass sie die damals noch sehr kleine Evelin auch sehen konnte, und entgegnete. „Ja, Papa meinte, so können sich die Leute meinen Namen besser merken.“ Von da an taten sie alles zusammen, was man zusammen machen kann. Sie aßen Eiscreme in der Eisdiele, in der es auch lila Eiscreme gibt, sie schauten sich, als sie älter wurden, Schnulzen im Fernsehen an, sie schlichen sich im Kino in Horrorfilme, nur um anschließend darauf zu bestehen, tagelang im Bett ihrer Eltern schlafen zu können, ganz ohne Grund versteht sich, und sie beschmierten die Hauswand von Lilas rassistischem Nachbarn, der ihre Familie immer so wüst beschimpfte und einmal sogar ihren Briefkasten mit schwarzer Farbe übermalt hatte, weil er meinte, dass diese Farbe deutlich besser zu ihnen passen würde als Sonnenblumengelb. Die Polizei fuhr noch wochenlang Streife durch das Wohngebiet, nachdem die beiden sich an der Hauswand ihres Nachbarn gebührend gerächt hatten. Wer die schicke weiße Wand, die zur Straße hinzeigte, mit lila Farbe überstrichen hatte, fanden sie jedoch nie heraus.

Nun sind die beiden in der elften Klasse des Gymnasiums und haben ganz sicher schon alles zusammen durchgemacht, was man mit siebzehn durchmachen kann. So dachten sie zumindest noch einen Tag lang, bevor sich alles ändern würde. Evelin würde sich noch oft wünschen zu diesem, damals so unbedeutend wirkenden, Tag zurückzugehen und die Unbedeutsamkeit ihres Lebens zu genießen.

„Mein Vater kommt heute Abend wie immer erst spät von der Arbeit, irgendein Notfall in der Firma und Mama ist doch mit meinem Bruder zu Oma gefahren, damit er die Kälbchen sehen kann.“ Lilas Ausdruck bessert sich ein wenig, nun da Evelin offensichtlich ihre Sprache wiedergefunden hat. „Glaubst du, dass wir mit einem der anderen mitfahren können?“ Evelin zuckt gleichgültig mit den Schultern. „Prinzipiell schon, aber wir müssen noch die Käfige der Kleintier AG sauber machen, wegen der Sache mit dem Schwänzen.“ Ein Blick nach oben und Lila schlägt sich mit der Hand gegen die Stirn. „Ah, stimmt, die Kaninchen. Verdammt! Aber wie kommen wir dann nach Hause? Oh Mann, Evelin, ich will nicht laufen.“ Evelin nickt Lila noch ihre Zustimmung entgegen, bevor die Schulglocke klingelt und pünktlich auf den Schlag ihr Mathelehrer über die Schwelle schwebt und die Klasse verstummen lässt.


§4253

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