Читать книгу §4253 - Nathalie D. Plume - Страница 8
4. Rügen, Deutschland
ОглавлениеDie Tierkäfige, mit den zahlreichen Käfern und Reptilien, die seit diesem Jahr als neues Highlight auch Kaninchen beherbergen, befinden sich im Biologieflügel, neben der Eingangshalle. Beim Durchqueren der kleinen Halle steigt Evelin der Geruch von Nudeleintöpfen und Kartoffelsalaten in die Nase. Von dem Geruch magisch angezogen, wandert ihre Nase in Richtung der Mensa. Ihr Magen, der zu diesem Zeitpunkt, laut eigenem Ermessen, deutlich zu wenig Nahrung bekommen hat, erinnert sie unsanft an das geballte Loch, das nun in ihm klafft. Evelin, die mit einer Hand die Tür zum Biologieflügel aufzieht, um ihrer Freundin und ihr Eintritt zu gewähren, streicht mit der freien Hand besänftigend über ihren Bauch und versucht den immer noch laut knurrenden Magen erneut zum Schweigen zu bringen. So richtig zu gelingen scheint ihr das jedoch nicht, denn nur wenige Sekunden später reicht ihr Lila wortlos einen Müsliriegel mit der Aufschrift „Sie werden Ihr lila Wunder erleben.“ Sie wirft ihrer Freundin ein gequältes Lächeln entgegen und schält den mit lila Glasur überzogenen Riegel aus seiner Verpackung. „Willst du auch was?“, fragt sie schmatzend ihre Freundin, die sich gerade daranmacht, die Tür zu den Käfigen aufzuschließen. Dankend winkt Lila ab und der restliche Riegel verschwindet in Evelins Mund. „Kann ich mal dein Handy haben?“ Evelin nickt und reicht Lila den kleinen stromlinienförmigen Gegenstand. Lila lässt ihn in ihre Hand gleiten und tippt mit einer Hand und flinken Fingern ihre Nachricht in das Gerät. „Ich wollte meinem Vater nur kurz schreiben, dass wir nach Hause laufen müssen, er sich also keine Sorgen macht, wenn ich später komme. Im Übrigen hast du zwölf neue Nachrichten von Kaleo. Keine Ahnung, was da zwischen euch gelaufen ist, aber er scheint dich sehr dringend sprechen zu wollen.“ Lila beugt sich zu Evelin hinüber, deren Gesicht errötet. Schnell packt sie das Gerät und dreht sich zu einem der Terrarien um, um den neugierigen Augen ihrer Freundin zu entgehen. Vorsichtig betrachtet sie das Gerät, als würde es nicht ihr gehören, das kleine Display, das sich oberhalb der Ellipse in einem Bogen erstreckt, und das darunterliegende Glasfeld, das die Sicht auf die darunterliegenden Zahlenblöcke ermöglicht. Das Handy schmiegt sich perfekt ergonomisch in ihre Handfläche. Eine Erinnerung schiebt sich in ihren Kopf, die sie immer noch schmunzeln lässt. Sie erinnert sich nur noch vage an den Tag, als das damals neuartige Gerät auf den Markt kam. Sie muss so um die vier Jahre alt gewesen sein, weswegen die Erinnerung nur verschwommen vor ihr liegt. An eine Sache erinnert sie sich aber so glasklar, als wäre es gerade gestern gewesen. Damals war sie mit ihrem Vater in das einzige Technikgeschäft der Stadt gefahren, um das neuartige Handy in Augenschein zu nehmen, das so eine Sensation in den Medien ausgelöst hatte. Sie würde das laute Lachen nie vergessen, als ihr Vater den stromlinienförmigen Gegenstand zum ersten Mal in den riesigen Händen hielt und mit konzentriertem Blick versuchte seine Telefonnummer in den auf der Unterseite liegenden Ziffernblock einzutippen, ohne das Gerät dabei aus der Hand gleiten zu lassen. „Ein Handy, das nur mit einer Hand zu bedienen ist und Ihnen dank ergonomischer Form eine mühelose Bedienung ermöglicht. Durch die kleine Kugel an der Vorderseite wird Ihnen die Bedienung auf dem Display noch leichter fallen, als Sie das von handelsüblichen Geräten kennen, außerdem verteilen sich die fünf Finger Ihrer Hand optimal über das Gerät.“ Nachdem der Verkäufer seinen anwerbenden Spruch heruntergerasselt hatte und dabei in seinem Gesicht eine solche Begeisterung ausstrahlte, als hinge sein Leben davon ab, versuchte er die riesigen Finger ihres Vaters so auf dem Gerät zu verteilen, dass er die mühelose Bedienung auch verstand. Während Evelins Vater nun mit dem Daumen an der kleinen Kugel spielte, balancierten seine restlichen vier Finger das Gerät und tippten hie und da mal eine Zahlenfolge in den Ziffernblock. Die Konzentration trieb ihm dabei den Schweiß auf die Stirn.
Beim Verlassen des Ladens musste Evelins Vater immer noch herzhaft darüber lachen und erst am Auto angekommen hatte er sich wieder so weit unter Kontrolle, dass er Evelin beim Öffnen der Autotür noch seine Meinung mitteilen konnte. „Dieser Unsinn wird niemals Erfolg haben“, war das Einzige, was er noch herausbrachte, bevor er sich wieder vor Lachen krümmte.
Dass nun in der Gegenwart quasi jeder eines dieser Geräte besitzt und dem damals noch einfachen Kunststoff Geräte aus Glas, Metall und Holz folgten, konnte Evelins Vater ja wirklich nicht ahnen. Selbst das Problem der Größe hatte sich ein Jahr später bereits gelöst, da mit der neuen Generation auch mehrere Größen auf den Markt kamen. Evelins Vater verweigerte dennoch jegliche Nutzung und behielt sein altes, viel zu großes, flaches Smartphone bis heute. Noch jetzt ist sich Evelin sicher, dass die Abneigung ihres Vaters gegen alles Neuartige an diesem Tag geboren wurde.
Evelins Finger gleiten sanft über die kleine Kugel und schieben dabei eine Nachricht nach der anderen über das Display. „Wo bist du?“, „Ist was passiert?“, „Soll ich vielleicht schon mal reingehen?“, „Bin jetzt reingegangen, schalte mein Handy aber nicht aus“, „Der Film ist blöd ohne dich“, „Mache mir langsam Sorgen“, „Ist dein Akku leer?“, „Der Film ist jetzt rum“, „Soll ich vor dem Kino warten?“, „Fahre jetzt nach Hause, bitte melde dich“, „Bin zu Hause angekommen, keine Ahnung, was mit dir los ist Evelin, ich hoffe du hast eine gute Erklärung dafür“, „Bitte melde dich bei mir, wenn du diese Nachrichten liest!“ Evelins Herz pocht so heftig, als wolle es ihren Brustkorb verlassen und sich nun in ihrem Hals ein neues Zuhause suchen. Sie wollte diese Nachrichten bewusst ungelesen lassen, aber nun, da sie durch Lila entdeckt wurden, scheinen sie bereits offenbart zu sein.
Nachdem auch die letzte Nachricht vom Display verschwunden ist, schallen die gelesenen Worte in ihrem Kopf wieder. „Bitte melde dich.“ Immer wieder schieben sich die Sätze vor ihre Augen und auch durch heftiges Blinzeln lassen sie sich nicht aus ihren Gedanken verbannen. „Bitte melde dich.“ „Ist dir aufgefallen, dass Kaleo heute gar nicht in der Schule war?“ Die Frage ihrer Freundin lässt Evelin so heftig zusammenfahren, als hätte ihr jemand einen Dolch von hinten zwischen die Schulterblätter gerammt, dabei rutscht ihr das Handy aus der Hand. Als das kleine Gerät auf dem Fliesenboden aufprallt und unter einem der Käfige zum Liegen kommt, meldet sich eine stockende Stimme zu Wort. „Nachrichten gelöscht.“ Evelin, die sich hinter ihrem Handy her greifend mit zu Boden geworfen hat, starrt mit entsetztem Gesicht auf das Display, das jetzt nur noch „Keine neuen Nachrichten“ anzeigt.
„Evelin, ist wirklich alles okay?“ Verwundert streicht Lila ihrer Freundin über den Rücken, nachdem diese sich auf einem der viel zu kleinen Stühle niedergelassen hat, die den Raum füllen. „Ehrlich Evelin, du erzählst mir doch sonst auch immer, was los ist, und jetzt sag mir bitte nicht wieder, dass nichts ist, das kannst du vielleicht den Käfern da erzählen, aber nicht deiner besten Freundin.“ Lila schaut tief in Evelins braune Augen. Evelin versucht Lilas Blick auszuweichen, den Tränen zu entgehen, die sich wie wütende Demonstranten gegen ihre Lider drücken und sich den Weg in die Freiheit erkämpfen wollen. Doch Lilas Blick ist so eindringlich, so besorgt und aufmunternd, dass sie ihre Tränen nicht mehr länger halten kann. Dick laufen sie ihr übers Gesicht und sammeln sich unterm Kinn zu einem großen Tropfen, der erst wild schwankt und dann hinunterfällt. „Ich will im Moment nicht darüber reden, aber das hat nichts mit dir zu tun, wirklich nicht.“ Evelin wischt sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht. Auf Lilas Antlitz zeichnet sich ein Lächeln ab, langsam zieht sie ein kleines stark in Mitleidenschaft gezogenes Papier aus der Tasche ihrer lilafarbenen Jeans und hält es Evelin vor die verquollenen Augen. „Es geht um das hier, stimmt’s?“ Evelin hört auf zu weinen und zieht Lila das Papier aus der Hand. Traurig hält sie das aufgeweichte Kinoticket in den Händen, das ihre Freundin aus dem Treteimer rettete. Lila redet weiter. „Du wolltest da mit Kaleo hingehen, oder?“ Evelin nickt schniefend. Lila hebt eines der Kaninchen aus seinem Käfig und setzt es Evelin auf den Schoß. „Und, warum bist du nicht hingegangen? Hat Kaleo etwas falsch gemacht? Habt ihr euch gestritten?“ Evelin krault den weißen Nager hinter den langen Ohren. „Es geht gar nicht um Kaleo. Es ist nur ...“ Evelin verstummt und wird wieder nachdenklich. Lila kniet sich neben sie. „Was ist nur?“ Evelin atmet tief ein. „Der Film ist es. Papa hat mir immer gesagt, dass wir da zusammen hingehen würden. Er hat aber nie Zeit, nicht mal mehr am Wochenende. Also hat Kaleo mich gefragt, ob wir hingehen. Ich habe ja gesagt, aber nur weil ich gehofft habe, dass es meinen Vater stören würde. Es war ihm aber egal, er meinte, er hätte zu viel mit einem seiner Projekte zu tun. Gestern lief der Film das letzte Mal, aber irgendwie konnte ich nicht gehen. Jetzt fühle ich mich furchtbar, weil ich Kaleo versetzt habe, der jetzt bestimmt denkt, dass er etwas falsch gemacht hat.“ Lila bläst die Wangen auf. „Und warum sagst du Kaleo nicht einfach, warum du nicht gehen konntest? Er würde es sicher verstehen.“ Evelin schüttelt müde den Kopf. „Seine Eltern sind so weit weg und mein Vater ist hier. Er würde es nicht verstehen.“ Lila legt ihrer Freundin den Kopf aufs Knie und zeichnet Kreise ins Fell des Kaninchens. „Ich glaube, dass Kaleo alles versteht, wenn es um dich geht. Ihr sprecht dieselbe Sprache, ohne den Mund zu öffnen.“
Zwei Stunden später stehen Evelin und Lila vor dem Haupteingang der Schule. Erschöpft betrachten sie den leeren Schulparkplatz. Kein Bus, kein Auto, kein Lehrer oder Schüler weit und breit. Nur die trockene Hitze, die Umrisse ihrer Schatten und die sehr lange, sehr gerade Straße, die sich zwischen den Feldern wie ein Pfeil entlangzieht. Leichter Dunst liegt in der Luft, die Überbleibsel von Smog, dem feinen Staub der Felder und Insekten, die zu Tausenden durch die Luft surren, zirpen und brummen.
Der Weg nach Hause ist lang, da das kleine Dorf, in dem Evelin und Lila schon seit ihrer Geburt leben, keine eigene Gesamtschule, sondern nur eine kleine Grundschule mit integriertem Kindergarten hat, müssen sie in der vierzehn Kilometer entfernten Stadt zur Schule gehen. Der heutige Tag ist heiß und trotz der späten Uhrzeit brennt die Sonne unbarmherzig auf die beiden herunter und lässt den Sommer wie Flammenwerfer über ihre Köpfe tanzen. Evelin läuft der Schweiß über die Stirn, ihr Gesicht ist starr nach unten gerichtet, um sich vor dem grellen Licht der Sonne zu schützen, nur ab und an, wenn ein kahler Baum den Weg streift und ein wenig schützenden Schatten bietet, lässt sie ihren Blick über die auf der Straße tanzende Hitze und die Weiten der einst so saftig grünen Wiesen fahren. Sie betrachtet die Zäune, die damals Dutzende von Schafen und Kühen beherbergten und heute nur noch vereinzelte Pfosten oder heruntergedrückte Drähte sind. Manchmal, wenn sie der Weg runter von der Straße und an der Steilküste entlangführt, sie den Wellen zusehen kann, wie sie mit lautem Tosen gegen die Steinwand schlagen, dann meint Evelin sogar riechen zu können, wie es damals gerochen hat. Sie meint zu riechen, wie die Bauern ihre Ernte von den vielen Feldern holten oder die Äpfel und Birnen in ihre Anhänger verluden, um sie an jedem Dienstag in der Stadt und jeden Montag auf dem Dorfmarkt zu verkaufen. Heute haben sich viele der Bauern weiter im Landesinneren angesiedelt, weil die Luft dort feuchter und die Felder deutlich fruchtbarer als an der Küste sind und die Bäume ihre Blätter und Wurzeln noch so dicht tragen, dass Mais und Korn durch ihre Größe vor den Unwettern und Stürmen schützt, die sich regelmäßig über die Insel schlagen. Da die meisten Bauern aber nicht aus ihren Dörfern fortziehen möchten, in denen die meisten schon seit Generationen leben, nehmen sie die zum Teil dreimal so langen Stecken in Kauf, die sie mit ihren Traktoren zurücklegen müssen, um ihre neuen Felder bewirtschaften zu können.
Lila steht die Hitze und Anstrengung des Weges und der heißen, fast brennenden Luft ins Gesicht geschrieben, erschöpft bleibt sie immer wieder stehen, um sich mit ihrem T-Shirt den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen. „Wie weit ist es denn in Gottes Namen noch?“, fragt sie mehr in den Himmel als zu Evelin, die die Antwort genauso gut kennt wie ihre Freundin. Der Weg ist noch lang, sie haben gerade einmal den Kilometerstein fünf erreicht, das heißt, dass ein bisschen weniger als die Hälfte noch vor ihnen liegt. „Weißt du was?“, ruft Evelin ihrer Freundin zu, die sich gerade auf einem Stein niedergelassen hat, um den Sand der Dünen aus ihren Schuhen auf die flimmernde Straße zu kippen. „Ich habe eine Idee, hier ganz in der Nähe müsste es gehen.“ Evelin packt ihre Freundin am Handgelenk und zieht sie, vollkommen abrupt und ohne ein weiteres Wort zu sagen, von der asphaltierten Straße hinter sich her ins hohe, trockene Gras. Immer weiter läuft Evelin, und Lila gezwungenermaßen dicht hinter ihr. Dann plötzlich und fast erstarrt bleibt Evelin stehen und bremst ihre Freundin unsanft ab, bevor diese die nun vor ihr aufklaffende Steilküste hinunterfallen kann. Mit einem empörten Aufschrei kippt Lila ins knisternde Gras und bleibt dort schwer atmend liegen. Evelin, die keine Sekunde verlieren zu wollen scheint, greift nach der Hand ihrer Freundin und zieht sie mit den Worten „Vertraust du mir?“ wieder nach oben. Lila hat kaum Zeit sich gegen die energisch an ihr zerrende Freundin zu wehren, als sie schon wieder auf ihren Beinen steht. „Ich hoffe, du hast einen guten Grund mich so zu erschrecken.“ Evelin grinst breit und voller Vorfreude. „Habe ich, Lila, schließ einfach die Augen ganz fest, so stark, dass du Punkte sehen kannst.“ Immer noch unsicher, ob man ihrer Freundin trauen kann, schließt Lila die Augen und tritt noch einen Schritt näher an die Steilwand. „Gleich ist es so weit“, flüstert Evelin ihrer Freundin ins Ohr.