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Die Mörderin
ОглавлениеDie Sache mit der Sache
Sie da, der Leser auf Seite siebenunddreißig, der Freud-Fan – was war das gerade? Mit den Beziehungen zu den Eltern, mit ihrer frühen Sexualität, da sollten wir mal reinschauen?
Gut, weil Sie es sind. Vielleicht ist da was dran. Aus Leuten mit einer kaputten Sexualität kann alles Mögliche werden, auch eine Mörderin. Wenn etwas schiefläuft. Und es läuft doch immer etwas schief! Das dürfen wir doch unterstellen, oder?
In Violas Kindheit lief nichts schief. Ihre Mutter stillte sie für acht Monate, Viola war gesund, sie hatte einen normalen Stuhlgang, ein unauffälligeres Baby gab es kaum.
Sie lernte krabbeln und krähen, ihre Eltern freuten sich. Es gab weder zu große Belohnungen, weder zu viel Aufmerksamkeit noch zu wenig.
Als Strafe, wenn sie etwas kaputt gemacht hatte oder sich nicht an Regeln gehalten hatte, gab es bestenfalls einen Flunsch von ihrer Mutter oder ein Kopfschütteln.
Ihren Vater sah sie nur selten. Er spielte so mit ihr, wie Väter spielen. Als sie größer wurde, spielte er am Wochenende auch mal Hoppe, Hoppe Reiter mit ihr, und Viola quietschte vor Vergnügen. Interpretieren Sie da rein, was Sie wollen. Viola hat es nicht geschadet.
Wir wollen jetzt nicht vom Hölzchen zum Stöckchen oder noch kleineren Ästchen fortschreiten. Da war nichts in ihrer Kindheit, das auffällig gewesen wäre.
Sollten wir hier das Ritual erwähnen, das Violas Vater und sie hatten? Wenn er Zeit hatte, las er ihr abends vor. Aus Kinderbüchern, später aus leichter Lektüre, kurze, witzige oder erstaunliche Geschichten, alles im Rahmen von Reader’s Digest. Aber viel.
Viola eröffneten sich Horizonte. In Büchern steckten Welten, neue Welten, Alternativwelten, fremde Welten. Alles war möglich in diesen Büchern. Das arme Mädchen bekam seinen Prinzen, der Junge, der alles fortgab, wurde glücklich, Mittelerde wurde vor Mordor gerettet.
Wie ihre Mutter ihr beigebracht hatte, passte Viola gut auf sich auf. Gerade auch in sexueller Hinsicht.
Sie hatte in der Schule eine Position zu verlieren. Sie war die Pausenhof-Queen, auf die alle schielten, das Ideal der anderen Mädchen und zugleich ihre Nemesis, sie war die Vorlage für die frühreifen materialistischen Jungs und das angebetete Idol der idealistischeren unter ihnen.
Viola wusste das; ob instinktiv oder weil sie mit anderen Mädchen oder ihrer Mutter darüber gesprochen hatte, sei dahingestellt. Sie wusste, würde sie mit einem der Jungs (an Mädchen war sie nie interessiert) etwas anfangen, dann würde dessen laute Posaune triumphierend über den Hof schallen, ich habe die Queen flachgelegt, ich habe sie gehabt, ich bin der coolste Typ Berlins.
Das konnte sie sich nicht erlauben. Stattdessen lernte sie eifriger und las viel, während sie zur Schule ging, die Jungs von derselben Schule hatten nie eine Chance bei ihr. Sie hatte zu viel zu verlieren.
Was nicht heißt, dass Viola ihre Sexualität verdrängt oder unterdrückt hätte. Oh nein! Sie wollte die Sache nur selbst in die Hand nehmen.
Genau das tat sie, als sie sich einen Jungen aus dem Chor ausgesucht hatte, einem kirchlich orientierten Chor. Mit dem Jungen verband sie weiter nichts. Sie wusste nicht, wo er wohnte und wo er zur Schule ging, kannte gerade mal seinen Vornamen. Jan.
Mit ihm verabredete sie sich in der Kirche. Nicht in irgendeiner, sondern im Hohlen Zahn, der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Zum Gottesdienst.
Sie und Jan saßen in einer der hinteren Reihen, vorn saßen nur noch ein paar alte Muttchen, am Rand des Ganges saßen zwei unschlüssige Touristen, die nicht wussten, ob sie bleiben oder gehen sollten. Vermutlich war es ihnen draußen nur zu kalt.
Während vorn der Pfarrer an seinem Altar stand, spielte die Orgel ein Kirchenlied. Viola sang mit, leise, aber sie kannte den Text nicht.
Stattdessen sang sie den Text von Wolf Biermanns Ermutigung, dem Lieblingslied ihres Vaters (sic).
Und wie oben schon gesagt, nahm sie die Sache selbst in die Hand. Der Junge neben ihr, Jan, erstarrte, als er ihre Hand spürte, und blickte starr geradeaus. Sünde, sagte sein Blick. Sein Puls beschleunigte sich trotzdem.
Jans Verhalten war nicht konform zum Liedertext. Komm, lass dich nicht verhärten, sang Viola leise, während ihre tastenden Finger das genaue Gegenteil feststellten. Wenige Worte später, sie sang gerade die allzu spitz sind, stechen und brechen ab sogleich, brach sie erschreckt ab. »Iih«, empörte sie sich leise, »was war das denn?«
Ihr ruheloser Geist, der im Hintergrund weiterarbeitete, stellte Assoziationen her. Erbrechen statt brechen.
Sie wusste natürlich, was das war. Sie hatte sich trotzdem erschreckt. Während sie da das Lieblingslied ihres Vaters geträllert hatte, krümmte sich Jan neben ihr schamhaft zusammen und gab einen merkwürdigen Laut von sich.
Der Pfarrer sah zu ihnen hinüber und runzelte die Stirn. Hatte er etwas bemerkt?
Viola wischte ihre Hand an Jans Hose ab. »Was bist du denn bloß für ein Schlaffi?«, murmelte sie ihm zu. »Wenn ich das den anderen erzähle!«
Während sich die beiden aus der Kirche stahlen, sie hochaufgerichtet und erfreut, er vornübergebeugt und schamrot, fühlte Viola eine große Genugtuung. Sie hatte den ersten Schritt hinter sich, mit vierzehn. Und irgendwie hatte sie gewonnen, der Junge würde mit niemandem darüber reden, das war sicher. Sie vielleicht. War sie das erste Mädchen in der Klasse mit Erfahrungen?
Für ein paar Wochen war ihr diese Erfahrung genug.
Kurz darauf wollte Viola mehr wissen. Und sie musste die Kontrolle behalten. Den Jungs nicht erlauben, das zu tun, was sie wollten. Sie, Viola, musste das Heft in der Hand halten, nicht die Jungs. Sagen, wo es langging. Sie nicht triumphieren lassen.
Sie wählte einen neuen Weg. An einem warmen Herbstabend, am Wochenende; sie hatte langen Ausgang.
Sie hatte sich am Schloss Bellevue mit einem Hervé verabredet, den sie am Tag zuvor in einem Café am Ku’damm kennengelernt hatte. Sie plauderte ein wenig, spazierte mit ihm den Spreeweg hinunter, bis sie am Großen Stern angelangt waren, von dessen Mitte die Goldelse leuchtete.
Es war bereits dunkel geworden.
Wie immer rollte der Verkehr um die Siegesgöttin herum, in vielen Spuren, fast wie am Champs Élysée, also fast wie in Paris, der Stadt der Liebe. Sie zog den jungen, unschlüssigen, aber gut gebauten und hübschen Mann durch den Verkehr auf die Insel hin, wo sie ihn umwarf, ihm die Hose öffnete und sich über ihn beugte.
»Nicht!«, flüsterte er voller Angst und Scham. »Die können uns doch alle sehen!«
Viola ließ sich Zeit. Sie fühlte sich wie im Buch Wie funktioniert das?, als sie Hervé trotz seiner großen Angst vor dem Entdecktwerden in Form brachte und untersuchte. Details wollen wir Ihnen hier gern ersparen, Sie wissen selbst, wie es geht.
Sie hatte ihn mit fast allen Sinnen gekostet, als sie im Licht der vorbei huschenden Autos die Verkehrsinsel, deren Namen jetzt nur bedingt passte, wieder verließen, die junge Siegesgöttin und der gebrauchte junge Mann.
Der Verkehr war weiter an ihnen vorbeigeflossen, niemand hatte sich an den beiden Gestalten gestört. Nicht einer hatte hingesehen. Genau wie Viola es geplant und vorhergesehen hatte. Im Licht der Öffentlichkeit, und doch ungesehen und unbehelligt.
Viola hatte herrschen gelernt. Die Wahl des Ortes und die Wahl der Waffen. Würde es auch so weitergehen? Eines nicht allzu fernen Tages würde sie einem anderen Jungen Zugang gewähren, und dann sah es vielleicht anders aus. Sie hörte es täglich auf dem Schulhof, was die Jungs daraus machten, wie verächtlich sie über ihre Eroberungen sprachen und diese beschrieben.
Auch Hervé schickte sie wieder in die Wüste. Er hatte nichts von ihr, keine Adresse und keine Telefonnummer, nicht mal ihren Namen. Er wankte unsicher davon. Aufgeregt und entladen, zu einem Ziel gekommen und doch höchst verunsichert. Was war das eben gewesen?
Erst später würde er damit vor seinen Freunden prahlen: Was er sich alles traute!
Violas weiterer Lernweg verlief ähnlich. Sie legte sich nicht hin, sie setzte sich drauf. Sie bestimmte, was ablief. Natürlich probierte sie alles, auch passive Veranstaltungen, aber nur, wenn sie bereits Herrin der Situation war.
Als sie meinte, sie kenne schon alles, mit ausgereiften vierundzwanzig Jahren, traf sie einen, der sie überraschte. Einen reiferen, erfahrenen Mann, der ihre Art und ihr Vorgehen mit einem milden Lächeln abstrafte.
Es war einer ihrer Kunden, den sie als Bonbon nach einem getätigten Abschluss über den Verkauf ihres ersten wichtigen Werkes nachts im Hotel besuchte, eine Eroberung im Sinn. Wir werden noch mehr von diesem Mann hören.
Er zeigte Viola Raffinesse. Er kannte Dinge, von denen sie nie oder nur am Rande gehört hatte, Dinge, deren Erlernen sie viele Nächte mit Giovanni kosten sollte. Er hatte als jüngerer Mann Mädchen zu Edelhuren ausgebildet.
Er war ein wichtiger Mann bei der Mafia, die Kontrolle der Prostitution hatte er dabei schon längst hinter sich gelassen. Viola machte das alles nichts aus, sie war pragmatisch.
Diese Fertigkeiten waren nützlich, das war es, was zählte. Sie gaben ihr noch mehr Macht über Männer, machten sie gefügig. Sie waren gute Werkzeuge, und Gio, wie sie ihn nannte, weil es wie Joe klang und ihn zu einem Cowboy machte, brauchte keinen Triumph über sie.
Sie lernte sogar, sich hinzugeben, auch eine neue Erfahrung, und eine andere Strategie als direkte Herrschaft. Gio war ein guter Lehrer, kein Gegner.
Sie war nun eine vollendete Frau, eine, die gut aussah, gebildet war und ihren Körper und seine Einsatzmöglichkeiten voll beherrschte. Eine elegante Dame, die sich zu kleiden und die zu parlieren wusste, die zu allem ein gutes Zitat zur Hand hatte. Ein Star ihrer Szene. Deren Schwächen niemand erkannte.