Читать книгу Atelier des Todes - Nick Stein - Страница 15
Die Polizei
ОглавлениеGruppenarbeit macht klug
Jansen beschloss, sein Studium für die Untersuchung seines Falles zu nutzen. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Faulheit, Findigkeit und nicht zuletzt der Umstand, dass man andere für sich arbeiten lassen konnte, hatten schon vielen bei der Auflösung von Fällen geholfen.
Seine erste Arbeitsgruppe gehörte zum Praxistraining 3.3, Polizeiliche Informationssysteme. Seine Gruppe war zu fünft, außer ihm waren noch jeweils zwei junge Frauen und Männer dabei.
Keiner von den anderen hatte eine Idee, wie sie eine praktische Übung zu diesem Thema auf die Beine stellen sollten. Dabei hatten die Polizeischüler Zugang zu allen Systemen und saßen deswegen auch in einem Übungsraum, der mit Computern und Bildschirmen vollgestopft war.
»Leute, ich hätte da was«, gab Jansen bekannt.
»Ich betreue einen Fall aus Hamburg, da wird eine wichtige Persönlichkeit des öffentlichen Lebens vermisst. Ist doch eigentlich genau unser Ding, oder?«
Die anderen nickten vorsichtig. Irgendetwas mussten sie schließlich machen. Wenn einer Ideen zum Thema hatte und die Führung übernahm, war das für so eine Übungsgruppe auch okay. Die anderen sahen ihn gespannt an. Jansen fuhr fort.
»Der Typ ist Lektor, er ist ein bekannter Mann, Dr. Golz, und nach einer aufregenden Nacht mit einer Sexualkunde-Professorin ist er erst ausgerastet und dann auf Nimmerwiedersehen verschwunden.«
Bei der Erwähnung einer erlebnisreichen Nacht und einer Sexualkunde-Professorin wachten die anderen auf. Sex zog immer.
»Es gab noch einen anderen Typen, der mit den beiden zusammen gesehen worden ist und das jetzt ableugnet. Ich würde mir die drei gern genauer vorknöpfen. Am Montag kommt es in Hamburg zu einer Gegenüberstellung, aber vorher möchte ich genau wissen, mit wem wir es zu tun haben, was sie verbindet, welche Konflikte es zwischen ihnen gibt, welche Geschichte sie haben, und was aus diesem Geflecht zu dem Verschwinden von diesem Dr. Golz geführt haben könnte. Dazu könnten wir unsere Informationssysteme nutzen, für etwas Reales, nichts Ausgedachtes.«
»Ich könnte mir diese Professorin vornehmen, ich habe in Hamburg studiert«, schlug Ferdinand vor. Seinen Nachnamen kannte Jansen nicht.
»Und wie wollen wir das alles machen?«, fragt der andere Jungbulle, Leon Lange.
»Wir könnten doch alle Bilderkennung-Systeme einsetzen, die wir so haben«, schlug Cora Engels vor, eine kleine, bebrillte und lustige Frau, die Polizeipsychologin werden wollte.
»Ich würde mir gern diesen ominösen dritten Typen vornehmen, wenn ihr einverstanden seid.« Alle nickten Zustimmung.
»Und Handy-Überwachung, Bewegungsprofile, Meldedaten, Verkehrsüberwachung, das volle Programm«, schlug Lena Lange vor, die Schwester von Leon, eine sehr muskulöse Polizistin, die fast genauso groß war wie Jansen, volle einsneunzig und kaum leichter als er.
Sie sah gut aus, aber Jansen wusste, dass sie Schwierigkeiten hatte, einen Freund zu finden. Viele der Kommilitonen fanden, dass gerade das sie zu einer guten Kommissarin machen würde.
Ihr Vorschlag gefiel Jansen. Das deckte sich mit dem, was Petra Mertens vorgeschlagen hatte.
»Super«, sagte ihr Bruder, der einen halben Kopf kleiner und blond war, nicht brünett. »Da bin ich dabei.«
»Okay, so machen wir das«, stimmte Jansen den Vorschlägen zu. »Lena und Leon, ihr verfolgt die Handy-Überwachung und die Bewegungsprofile. Ferdinand und ich kümmern uns um die bildgebenden Systeme, die Verkehrsüberwachung und die Meldedaten. Und du, Cora, baust alles zusammen, ich denke, das liegt dir und das kannst du auch am besten. Wäre jedenfalls mein Vorschlag.«
Die anderen schienen seine Führung bei dieser Aktion zu akzeptieren. Sie sahen ihn gespannt an. Es war schließlich sein Fall.
»Gut, dann legen wir mal los«, sagte Jansen. »Ich gebe euch die Daten und Informationen, die wir haben. Wir haben noch etwa anderthalb Stunden. Ich würde sagen, wir steigen ein, überprüfen nach einer Stunde, was wir haben, fassen das dann zusammen, und dann schauen wir, was fehlt, was passt, was sich widerspricht, und wo wir vielleicht weitermachen können.«
Er sah in die Runde. »Und wenn wir den Fall aufklären können, gibt es natürlich eine lobende Erwähnung.«
»Lad uns lieber heute Abend auf ein Bier ein, wenn wir was rausfinden«, schlug Lena Lange vor. Vermutlich passte Lukas in ihr Beuteschema.
»Schauen wir mal.« Dass Lukas Jansen am Abend schnell nach Hause musste, wollte er der Gruppe nicht erzählen. »Erst mal sehen, was wir rausfinden können.«
Ferdinand, ein bulliger blonder Mann, der aus einer Familie von Polizisten kam, und er setzten sich vor eins der Geräte. Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie ein Profil der drei Zielpersonen aufgebaut hatten, das die Systeme verarbeiten konnten. So einfach wie im Fernsehen war das nicht. Sie gaben ihre Daten ein und ließen die Programme durchlaufen.
Die beiden fanden zunächst nicht so viel, wie sie sich erhofft hatten.
Die Professorin war auf dem Weg zur Uni und in der Uni aufgenommen worden, beim Einkaufen und in einer Bank.
Dr. Golz fanden sie auf dem Bahnhof und vor einem Kiosk in der Nähe seiner Bushaltestelle.
Von Witzleben tauchte wider Erwarten überhaupt nicht auf. Hatte er seine Wohnung vier Tage lang nicht verlassen? Oder hatte er einfach nur Glück gehabt und war an keiner Kamera vorbeigekommen?
Ferdinand überspielte die Ergebnisse an Cora. Als Nächstes nahmen er und Lukas sich die Verkehrsüberwachung vor. Blitzer und Kameras an Autobahnen und Straßen, auch die, die nur den Verkehrsfluss steuern und koordinieren sollen.
Und dort wurden sie fündig; eine Kamera an einer Kreuzung in Bad Oldesloe hatte ein Auto erfasst, das gerade nach links abbog. Mit von Witzleben am Steuer und Dr. Golz neben ihm auf dem Beifahrersitz.
»Klasse System«, fand Ferdinand. »Dass es diese Typen sogar auf so schlechten Aufnahmen erkennen kann.«
Fahrer und Beifahrer sprachen offenbar miteinander. Dr. Golz hatte Witzleben das Gesicht zugewandt, und der hatte gerade den Mund offen und den Kopf seinem Beifahrer etwas zugeneigt.
Das Foto war am Tag des Verschwindens von Dr. Golz aufgenommen worden, am Nachmittag, ein paar Stunden nach seiner Kündigung. Lange nach dem Treffen auf Sylt. Somit auch lange nach der Abreise Witzlebens von der Insel, der Sylt ja schon vor Golz verlassen hatte.
War diese Aufnahme das letzte Lebenszeichen von Dr. Golz? Jansen klopfte das Herz bis zum Hals. Endlich eine gute Spur!
Sie hatten noch knapp zehn Minuten. Nachdem sie sich auf die Schultern geklopft hatten, gingen die beiden die Meldedaten durch. Dr. Golz war unauffällig, er lebte seit über zwanzig Jahren in Barmbek, alles war ordnungsgemäß.
Die Professorin mit dem interessanten Nebenjob hatte ein Haus in Harvestehude an der Alster, eine Luxuswohnung in Kampen und einen Anteil an einem Ferienhaus in der Toskana.
»Nehmt ihr euch auch die Steuerdaten vor?«, fragte Jansen die andere Gruppe. »Gute Idee«, bestätigte Cora. »Ich mach das. Vielleicht finden wir etwas, womit wir Druck auf die ausüben können.«
Von Witzleben war in der Hamburger Meile seit drei Monaten gemeldet. Davor fand sich kein Eintrag. In der gesamten Bundesrepublik nicht.
Den Mann gab es gar nicht.
Der einzelne Eintrag besagte, dass er aus dem Ausland zugezogen wäre. Abmeldebestätigungen gab es aber keine, auch nicht aus grauer Vorzeit. Es gab eine Geburtsurkunde. Demnach war er vor 45 Jahren in Berlin-Charlottenburg geboren worden. Vom Alter her passte das.
Beim Charlottenburger Standesamt war diese Geburtsurkunde allerdings nicht bekannt; es musste sich somit um eine Fälschung handeln.
So etwas kannte man eigentlich nur von Geheimagenten. Eine leere Wohnung, vermutlich nur zur Tarnung. Eine vorgetäuschte Existenz. Keine Daten. Eine Unperson. Der Mann war nicht sauber, so viel wurde der Gruppe um Lukas Jansen jetzt klar. Oder war Witzleben Geheimagent? Was hatte er dann von Dr. Golz gewollt? Die Sache wurde immer undurchsichtiger.
Die Stunde war um.
Cora Engels fasste zusammen. »Wir haben ein ziemlich klares Bild. Dr. Golz hat bis kurz vor seinem Tod ein sehr geordnetes Leben geführt, Karriere, öffentliche Auftritte, gute Publicity, langjährige Freundin, guter Job. Erst vor Kurzem, wir glauben, seit zwei, drei Wochen vor seinem Verschwinden, hat es Verhaltensauffälligkeiten gegeben. Irgendetwas, das nicht zu seinem regulären Umfeld gehört, hat ihn beeinflusst.«
Sie klickte sich durch eine weitere Seite, die sie gebaut hatte. Eine Dummy-Ermittlungsakte.
»Die Professorin ist relativ unauffällig. Nicht als Erscheinung, aber in ihrer sozialen Rolle. Sie ist anerkannt, veröffentlicht viel, hat viele Studenten, ist in etlichen akademischen Gremien vertreten, hat einen Ruf zu verlieren. Sie hat auch ihre Schattenseiten.«
Cora grinste in sich hinein.
»Sie macht diese nächtlichen Domina-Auftritte, von denen du uns schon erzählt hast, Lukas, und sie hat nichts davon versteuert. Wir könnten sie also wegen Steuerhinterziehung drankriegen, und wie ich schon sagte, sie hat einen Ruf zu verlieren. Damit könntest du sie kriegen, Lukas, wenn sie mit dem Verschwinden von diesem Dr. Golz zu tun hat.«
Sie wechselte zur nächsten Seite.
»Aber wenn ihr mich fragt, ist dieser Landadlige unser wichtigster Verdächtiger. Der ist als letzter mit Dr. Golz gesehen worden. Und er ist nirgends gemeldet, es gibt ihn eigentlich gar nicht. Seine Urkunden sind gefälscht. Vermutlich ist auch sein Name falsch. Das ist eine Tarnexistenz, wenn ihr mich fragt. Aber so falsch kann sie auch wieder nicht sein, er hat ja einen leichten Berliner Akzent, wie Lukas vorhin erwähnt hat, das Alter passt auch. Das könnte bei einer Rasterfahndung helfen.«
»Wir haben aber noch mehr«, warf Leon Lange etwas ungeduldig ein.
»Dazu wollte ich gerade kommen. Die Bewegungsprofile. Sowohl Dr. Golz als auch die Orlowski haben ein normales Bewegungsbild, das zu den sonstigen bekannten Daten passt, samt den Reisen nach Sylt und so. Die letzte Funkzelle, die Dr. Golz benutzt hat, war übrigens die von Bad Oldesloe, was zu dem Verkehrsfoto passt, das wir entdeckt haben.«
Sie lächelte zu Ferdinand und Jansen herüber.
»Aber dieser von Witzleben benutzt nur eine Prepaid-Karte. Und sein Handy war die ganze Zeit in seiner Wohnung in Hamburg, und jetzt wird es interessant.«
Sie sah in die Runde, als ob sie gleich ein Geheimnis offenbaren würde.
»Auch auf Sylt hat er damit telefoniert, und das, obwohl er sein Handy gar nicht dabeihatte.«
»Wie soll das denn gehen?«, fragte Ferdinand. »So ein Handy will ich auch!«
»Es gibt so etwas«, wusste Cora. »Wenn er technisch versiert ist, kann er eine Rufumleitung schalten, unter Umgehung seines Providers. Dann hat er ein zweites oder sogar noch ein drittes Handy, das unter einer anderen Nummer läuft, mit dem er aber die Anrufe abhören kann. Ein Klon. Das geht.«
»Wow«, sagten die Langes.
»Ich habe gleich mal nachgeschaut, welches Handy zu den exakt gleichen Zeiten aktiv war, und wo diese Handys waren. Ein Kinderspiel. Er hatte es mit auf Sylt und auch bei der Fahrt nach Bad Oldesloe. Allerdings können wir nur die Funkzellen sehen, nicht den exakten Aufenthaltsort. Sein GPS und andere Sendefunktionen waren ausgeschaltet, und er hat das Gerät nicht immer angehabt. Aber wir haben die Nummer. Wenn das jetzt ein realer Fall wäre, könnten wir uns eine richterliche Abhörerlaubnis dafür besorgen. Für beide.«
»Es ist ein realer Fall«, entgegnete Jansen. »Vielen Dank, Cora, das war klasse, von euch allen!« Er sah in die Runde.
»Ich werde das mit nach Hamburg nehmen. Und mit dieser Arbeit, Leute, das war so toll! Ich denke, dafür gibt’s 'ne Eins. Danke!«
Seine Mitstudenten freuten sich auch. Es war wirklich eine tolle Übung gewesen. Aber ganz zufrieden war Lukas Jansen noch nicht. »Okay, damit wissen wir jetzt eine ganze Menge. Aber noch nicht, wo der Typ wirklich geblieben ist, und wer dieser ominöse von Witzleben wirklich ist.«
»Versuch’s mal mit Interpol«, schlug Lena vor. »Sein Aussehen, seine ungefähre Herkunft, sein Alter, das hast du ja alles. Sein Bild auch. Vielleicht findest du ihn damit ja. Geh’ einfach mal bei INPOL rein.«
»Und wenn der Typ in Bad Oldesloe verschwunden ist, wird der andere was drüber wissen«, meinte Ferdinand. »Ich würde mal in der Gegend eine Suche starten. Wir können ja noch mal kurz auf die Karte kucken.«
»Brauche ich nicht«, antwortete Jansen. »Ich bin da schon oft gewesen. In der Richtung, wohin die abgebogen sind, fließt die Trave. Die ist breit und tief und einsam genug, um da einen verschwinden zu lassen.«
»Dann weißt du ja, wo du suchen kannst«, fand Cora. »Die Trave hat bestimmt Wehre. Wenn er da nicht angetrieben worden ist, liegt er vermutlich mit Betonfüßen oder einem Stein um den Hals am Grund des Flusses und füttert die Karpfen.«
Die Zeit war um. »Hey, das war super, Leute«, bedankte Jansen sich nochmals. »Wir sehen uns dann hoffentlich nächste Woche.«
»Du hast es gut«, sagten drei Leute gleichzeitig. »Du darfst schon mal ermitteln. Wir dürfen nur Eigensicherung und Verkehrssicherungsarbeit üben.«
»Und Textverarbeitung«, ergänzte Cora. Alle stöhnten, einschließlich Lukas, der ebenfalls noch Tippkurse vor sich hatte.
»Oder die Arbeit mit dem Schlagstock«, freute sich Lena Lange.
»Einsatzmehrzweckstock«, korrigierte sie ihr Bruder, was ihm einen bedauernden Blick einbrachte.
Lukas Jansen freute sich auf das Wochenende zu Hause mit seiner Freundin und seinem Hund. Und er freute sich bereits auf die Gegenüberstellung am Montag.