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Die Mörderin
ОглавлениеViola liest und liest und liest
Viola Kroll hatte schon als Kind ein ausgefülltes Leben. Schule, Klavier- und Reitunterricht, Tennisstunden, Spaziergänge mit ihrer Mutter, eine tägliche halbstündige Pflicht, in der ihre Mutter sie zu erziehen glaubte.
Manchmal ein, zwei Stunden in der Fabrik ihres Vaters, wenn der sie später mit nach Haus bringen oder zu einem Geburtstag bringen sollte. Konfirmationsunterricht, auch wenn niemand in der Familie gläubig war, es gehörte sich einfach so.
Wir wissen bereits, dass Viola eine gute Schülerin war. Sie hatte es leicht, im Unterricht und im Sozialverband. Sie brauchte niemals Nachhilfe, sie übersprang sogar die sechste Klasse. Mit den anderen Schülern hatte sie wenig gemein und verbrachte nicht mehr Zeit mit ihnen als nötig.
Was Viola an verbliebener Zeit hatte, füllte sie mit Lesen. Sie las im Unterricht, schon in der siebten hatte sie alle Deutsch-Lehrbücher bis hin zur zehnten Klasse komplett durch.
Ihrer Mutter gab sie den Literaturkanon, den sie bis zum Abitur gelesen haben sollte. Ihre Mutter kaufte ihr die wichtigsten Bücher und besorgte den großen Rest aus der Stadtbibliothek; Viola sollte auch Sparsamkeit lernen.
Die gemeinsame Einnahme der Mahlzeiten gehörte bei den Krolls zu den wichtigen Ritualen. Man ließ sich Zeit, man redete miteinander, tauschte sich aus über den Tag und über aktuelle Ereignisse der Zeit. Als sie zehn war, begann Viola damit, ihre Bücher mit zu Tisch zu bringen und neben sich zu legen, um während des Gespräches Blicke hinein zu werfen.
Ihre Mutter goutierte das nicht, sie verbot Viola das Lesen bei Tisch. Ihr Vater nickte nur, er war an Ritualen weniger interessiert als seine Frau. Viola stand auf und nahm das Buch mit. »Ich war sowieso fertig mit Essen.«
Ein Eklat und ein einwöchiger Stubenarrest folgten.
Nachdem Viola vier Kilo abgenommen hatte und stets früh vom Tisch aufstand, weil ihr angeblich schlecht war, sahen ihre Eltern weg, als sie das Buch mit den griechischen Heldensagen neben sich auf einen Stuhl statt auf den Tisch legte und nur gelegentlich hinein lugte. Viola hatte sich durchgesetzt.
Sie hatte fortan immer ein Buch dabei, in dem sie in den Gesprächspausen las. Nichtsdestoweniger trug sie zum Tischgespräch bei, mit immer klügeren Einwänden und scharfen Beobachtungen, aber auch altklugen Dummheiten, sodass ihre Eltern auch etwas zu lachen und zu verbessern hatten.
Was Viola weiter anspornte, Lücken im Wissen zu schließen und in der Verknüpfung von Inhalten besser zu werden.
Sie las im Auto ihrer Mutter, wenn die sie zu ihren Reitstunden brachte. Fast hätte sie noch auf dem Dressurpferd gelesen, ein Buch über Dressur und Pferde.
Sie las im Bus, wenn sie zu ihrer Klavierlehrerin nach Charlottenburg fuhr. Sie las auf dem Weg zur Schule und sie las lange spät im Bett.
Sie las Märchen und griechische Tragöden, sie las Umberto Eco und das Decamerone, Voltaire und Meister Eckhardt, sie las sogar die Bibel, dreimal.
Sie las Gesangbücher und Börsenzeitungen, Heidegger und ihren fernen Großonkel Ludwig, den ihr die Mutter besonders ans Herz legte.
Sie las Lore-Romane und Kant, die Bravo und Alan Bullock. Auf dem Weg von der Schule nach Haus gab sie ihr Taschengeld in Antiquariaten aus und stöberte nach seltenen Kuriosa.
Sie las die Beststeller des Abonnements, das ihre Mutter bestellt hatte, das monatliche Lustige Taschenbuch und die Beilage der ZEIT, in der sie die schwierigen Rätsel faszinierten.
Sie las das Reparaturhandbuch für das Auto ihres Vaters und eine Bauanleitung für Freiluft-Backöfen. Sie las über Kunst, Kultur, Backen, Schreiben, Reisen, Häkeln und Sex, über Hunde (die sie nicht mochte, nachdem ihr ein Pudel namens Fluffi in den kleinen Finger gebissen hatte) und Katzen (die sie mochte, weil sie so anschmiegsam schnurrten, obwohl sie schon oft gekratzt worden war), Schildkröten, Orchideen und Pilze, über die Krankheiten von Bäumen und über romantische chinesische Gedichte aus der Song-Zeit.
Sie las. Übersetzungen aus Rumänien und Uganda, Japan und Brasilien.
Viola studierte Basic, lernte C und Java Script. Sie konnte einfache Programme schreiben.
Sie war nicht ansprechbar, wenn sie las. Sie entdeckte die Literaturanlagen am Ende der Bücher, die Querverweise, und folgte den vielversprechendsten. Die schiere Masse dessen, was sie las, in einem Tempo, in dem andere gerade mal umblättern konnten, hätte die imposante Privatbibliothek ihres Vaters viele hundert Mal füllen können.
Das Schnelllesen hatte sie sich selbst beigebracht. Sie übersprang ein paar Worte, irgendetwas in ihrem Gehirn sortierte das Wichtige aus, den Rest überflog sie und verstand den Text trotzdem. Sie las auch ein Buch über schnelles Lesen und musste lachen. Da hatte jemand sein halbes Leben in eine Technik investiert und verwendete den Rest seines Lebens darauf, diese Technik zu verbreiten, während sie ein besseres Verfahren intuitiv gefunden hatte.
Ihre Technik erlaubte ihr, so gut wie alles zu lesen. Das Goldene Blatt beim Zahnarzt und die Apotheken-Rundschau, dazwischen ein paar Seiten Homer in einem Reclam-Heft. Bis sie dran war. Der Nächste bitte!
Ihr Gehirn konnte Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden. Sie hatte verschiedene Speicher dafür. Die Guten ins Töpfchen, der Rest in Wachspapier vergraben. Das Gute konnte sie sofort abrufen, das Eingemottete dauerte etwas länger. Man wusste ja nie, wozu man es noch brauchen konnte.
Als sie mit der Schule fertig war, mit knapp siebzehn, entschied sie sich für ein Studium der Literatur und Kunst. Neben einem Volontariat in einem Verlag, das bedeutsam für sie werden sollte.
Viola begann in Berlin und Heidelberg und setzt ihr Studium an der Sorbonne und am Kings College fort, wo sie es mit Auszeichnung in beiden Fächern abschloss.
Sie hatte einen guten Abschluss, und sie hatte bereits Geld, viel Geld für ein immer noch junges Mädchen, oder besser: für eine voll ausgereifte Frau, die noch sehr jung war.
Viola las weiter.