Читать книгу Zeit der wilden Orchideen / Das Herz der Feuerinsel: Zwei Romane in einem Band - Nicole-C. Vosseler - Страница 20
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ОглавлениеRaharjo schob das Boot den Strand hinauf, stob durch den Sand und flog in langen Schritten über die Jalan Pantai. Ungeduld riss an seinen Muskeln; zu lange war es her, dass er Nilam gesehen hatte. Keinen Herzschlag länger konnte er warten, doch es war es wert gewesen.
Widrige Winde, die sich vor Pulau Flores zu einem reißenden Sturm verschworen, hatten ihn unterwegs aufgehalten, ihm jedoch das Glück beschert, mit Fischern ins Geschäft zu kommen. Um Wochen verspätet, aber schwer von Perlmutt, Schildpatt, Perlen und Goldstaub hatte er sein Schiff erst nach Malakka, dann nach Singapur gebracht; sein Schiff, das jetzt leicht und leer auf den Wellen vor der Küste tanzte.
Morgen schon könnte er anfangen, sein Haus zu bauen, übermorgen ein größeres Schiff in Auftrag geben. Heute indes konnte er hoch erhobenen Hauptes vor Nilams Vater treten, denn als reicher Mann war er nach Singapur zurückgekehrt.
Er schlüpfte durch den Durchbruch in der Mauer und hielt sich in ihrem Schatten, bis er in das Dickicht aus Ästen und Blättern, Gräsern und Gehölz eintauchte, dann in das grünschillernde Licht des Zimmers.
»Nilam?«, raunte er in den Raum hinein und fuhr zum wiederholten Male über das Gewicht, das seine Hosentasche beschwerte.
Ein Armreif aus dunklem Gold, mit Wellenlinien und Fischen verziert. Ein Hochzeitsreif der Orang Laut, den er von seiner Mutter bekommen hatte, gegen das Versprechen, seine Braut bald mit der ganzen Familie bekannt zu machen.
Sein Zeh stieß an etwas Hartes, Raues, und er senkte den Blick. Ein Lavastein, geformt wie eine chinesische Dschunke. Unweit davon lag der bemalte Fächer, das Holz zersplittert, und in einer Ecke der Perlmuttkamm, in drei Teile zerbrochen. Das Armband war noch heil, und die Muschel nirgends zu sehen. All die Dinge, die er über die Jahre hierhergebracht hatte, um sich dem kleinen Mädchen dankbar zu zeigen, wie von wütender Hand umhergeschleudert.
Stimmen stahlen sich vom Haus her durch das Blättergeflecht; lauter und fremder klangen sie, als er es von diesem Ort gewohnt war, dichter vor allem in ihrer Vielzahl. Ein Knistern in der Luft wie vor dem ersten Blitzschlag. Eine Vorahnung, die sich dunkel in ihm zusammenballte wie ein Sturm am Horizont, und er rannte los.
Fieberhaft schlug er sich durch das Gebüsch, brach atemlos daraus hervor und taumelte zurück.
Zahlreiche Orang Putih versammelten sich vor und auf der Veranda, in feinen Anzügen und Gläser in der Hand; wie Orchideenblüten leuchteten dazwischen die weiten Röcke ihrer Frauen.
»Hoch lebe das Brautpaar!«
»Auf das junge Glück!«
»Hoch sollen sie leben! Auf viele glückliche und gesunde Jahre!«
Wie Wellen um einen Schiffskiel wandten sich alle Köpfe einem Paar zu, das auf die Veranda heraustrat und oben an der Treppe stehen blieb.
Raharjo schloss für einen Augenblick die Lider, wie geblendet, und versuchte zu begreifen.
Ein Orang Putih mit Haaren wie Sand, die Augen blaufunkelnd und ein Lachen von Ohr zu Ohr auf dem Gesicht, hielt Nilam in seinem Arm und küsste sie auf die Wange.
Nilam. Dieses halbwilde Kind eines Tuans und einer Frau von der Insel. Die sich ihm beim Fischen auf einem Boot angetraut hatte, wie es bei den Orang Laut Brauch war.
Seine Frau. Für immer.
Die sich in eine weiße Nyonya verwandelt hatte, in einem blauen Kleid mit ausladenden Röcken und aufgebauschten Ärmeln, das ihre Haut elfenbeinhell schimmern ließ. Durch und durch eine Weiße war sie, wie sie den Kopf hochreckte, ein hochmütiges Lächeln auf den Lippen, ihre Augen nicht blau wie die wilden Orchideen am Sungai Seranggong, sondern wie die giftigen Taranteln in den Wäldern der Insel.
Kein Tropfen malaiisches Blut floss in ihren Adern, das sah er jetzt.
Aus den Tiefen seines Gedächtnisses trieb ihr anderer Name herauf.
Nicht Nilam. Georgina.
Nilam hatte ihm einmal versprochen, bis in alle Ewigkeit auf ihn zu warten, und nun hatte Georgina einen Orang Putih geheiratet. Ihresgleichen.
Wie eine Kugel durchschlug es ihn. Wie eine Klinge, die tief in sein Fleisch drang, und sein aufbrausender Herzschlag ließ das Blut in seinen Adern aufkochen, trübte seine Sicht mit roten Schlieren.
Mit einem Mal verstand er den amuk der Bugis: mit gezücktem Dolch auf Menschen loszugehen, in blinder Raserei auf Leiber einzustechen, einzuhacken, bis alles Blut vergossen war. Bis nur noch erschöpfte, tödliche, friedliche Stille herrschte.
Und er verstand, wie leicht es war, ein Menschenherz zu vernichten. Wie selbst das Herz eines Meeresmenschen, eines Kriegers zur See, von einem Augenblick zum nächsten tot sein konnte.
Raharjo wandte sich um und nahm denselben Weg zurück, über den er gekommen war, ohne Eile, ohne innezuhalten. Ohne die Spur eines Gefühls im Leib; er spürte es nicht einmal, als er das kleine Armband aus aufgefädelten Muscheln zertrat und ihn die Spitzen der Muschelscherben in die Fußsohle schnitten.
Er schob das Boot zurück ins Wasser und sprang hinein, ließ das Segel aber gerefft. Die Zähne zusammengebissen, genoss er es, gegen Wellen und Strömung anzurudern, dass es in seinen Muskeln brannte und seine Lunge vor dem Bersten war. In den vertrauten Handgriffen an Bord fand er Halt, im vertrauten Gefühl von Holz und Tau und Segeltuch unter seinen Händen.
Entschlossen knatterten die Segel, die er eines nach dem anderen herabließ; der Schiffsrumpf ruckte unruhig an der Leine des Ankers, bis er ihn heraufholte und das Schiff befreit durch die Wellen pflügte. Dem Wind nach, nach dem Raharjo die Segel ausrichtete, keinem anderen Ziel entgegen als dem Horizont.
Georgina saß an dem Frisiertisch ihrer Mutter, der den Weg in ihr Zimmer gefunden hatte, und mied ihr Spiegelbild. Die Muskeln ihres Gesichts schmerzten nach den Stunden, in denen sie ihm wenigstens die Andeutung eines Lächelns aufgezwungen hatte. Ihr Haar war zwar endlich erlöst von den vielen Nadeln, die es den langen Tag über stramm zusammengehalten hatten, doch die gleichmäßigen Striche, mit denen Kartika die Bürste hindurchgleiten ließ, zerrten ebenso an ihren Nerven wie die tiefen Laute der Ochsenfrösche. Rahar-jo, riefen sie in die Nacht hinaus, Rahar-jo, jeder Ruf ein Stich mitten in ihr Herz.
Wahrscheinlich waren sie eines der letzten Paare, das seine Hochzeit in St. Andrew’s gefeiert hatte. Viel wurde nicht geheiratet in Singapur, und während des Gottesdienstes hatte das vom Blitz zersplitterte Gebälk fortwährend geächzt, im Chor mit den vorsorglich angebrachten Stützbalken, war immer wieder Putz von Decke und Wänden gerieselt; über kurz oder lang würde die Kirche wohl abgerissen werden, bevor sie der Gemeinde eines Sonntags über den Köpfen einstürzte.
Sie betrachtete den massiven Goldreif, den Paul Bigelow ihr heute während der Trauung an den Finger gesteckt hatte. Nahm man den Ehering über Nacht ab? Sie wusste es nicht, und sie wusste auch niemanden, den sie fragen konnte.
Die Tür öffnete sich, und hastig legte Kartika die Bürste beiseite.
»Gute Nacht, Nil… Mem Georgina. Gute Nacht, Tuan Bigelow.«
»Gute Nacht«, flüsterte Georgina ihr hinterher.
Die Tür schloss sich leise.
»Endlich allein«, hörte sie Paul Bigelow sagen, ein erleichtertes Seufzen in der Stimme.
Eine erwartungsvolle Anspannung.
Mit gesenktem Kopf lauschte sie hinter sich, wie er aus seiner Frackjacke schlüpfte und sich schwer auf dem Bett niederließ; ein Schuh nach dem anderen polterte zu Boden. Ihre Nackenhaare sträubten sich bei der Vorstellung, dass er von dieser Nacht an in ihrem Zimmer schlafen würde. In ihrem Bett.
Ein kurzes Aufflackern von Widerwillen, bevor sich in ihr wieder die staubige Wüste ausbreitete, in der sie die vergangenen Wochen verlebt hatte, stumm, taub und beinahe blind. Während um sie herum alle in betriebsame Unrast verfallen waren, eine Hochzeit zwischen gebotener Eile und Wohlanständigkeit vorzubereiten.
»Du darfst mir gratulieren«, rief Paul Bigelow ihr zu, die Zunge hörbar schwer. »Seit einer halben Stunde bin ich offiziell Teilhaber der Firma. Von nun an heißt es Findlay, Boisselot and Bigelow. Dein Vater hat es mir bei einem letzten Glas mitgeteilt.«
»Glückwunsch«, murmelte Georgina.
»Ja, ich bin zu beneiden.« Er stand auf und kam zu ihr herüber. »Das hätte ich mir alles nicht träumen lassen, als ich hierherkam. Teilhaberschaft in einer prosperierenden Firma und dazu noch eine solche Frau.«
Sie wich seinen Blicken im Spiegel aus, während er über ihr Haar strich, dann über ihre Arme, die das Nachthemd mit den breiten Trägern freiließ.
»Du bist so schön«, flüsterte er heiser.
Georgina wand sich unter seinen Händen hervor, rutschte auf dem Hocker zur Seite und sprang auf.
»Langsam!« Lachend packte er sie an der Schulter und drehte sie zu sich um. »Findest du nicht, es ist endlich Zeit für einen richtigen Kuss?«
Einen Arm um sie geschlungen, presste er sie an sich. Sein lächelnder Mund drückte sich auf ihren, heiß und feucht; seine Zunge strich über ihre Lippen und zwängte sich dazwischen. Warm wie regengetränkte Erde schmeckte er, fast süß, und nach Alkohol und Zigarrenrauch.
Georgina bog den Kopf zurück.
»Nicht so schüchtern! Das kann schließlich kaum dein erster Kuss gewesen sein.« Belustigt zog er eine Braue hoch. »Ein wenig mehr Hingabe hatte ich mir von meiner Frau in der Hochzeitsnacht schon erhofft.«
»Ich will nicht!« Georgina versuchte sich loszureißen.
Hart griff er sie beim Arm, starrte ihr ins Gesicht. »Ich bin kein Ungeheuer, Georgina. Aber ich bin auch kein Heiliger. Und noch viel weniger bin ich ein gutmütiger Trottel. Ich habe meine Stellung in der Firma und meinen guten Ruf aufs Spiel gesetzt, um dir aus deiner misslichen Lage zu helfen. Dein Vater hätte mich genauso gut in Schimpf und Schande davonjagen können, und ich hätte nie wieder eine gute Position im Handel bekommen. Weder in Singapur noch sonst irgendwo. Ich habe es gern getan, denn ich habe es für dich getan. Aber ich verlange auch etwas dafür.« Sein Griff lockerte sich. »Meinst du nicht, du bist mir etwas schuldig?«
In die Ecke getrieben, ließ Georgina den Kopf hängen.
Zart fuhr er mit dem Fingerknöchel über ihre Wange, die Kinnlinie hinab.
»Wenn du nur ahnen könntest, wie lange ich mich danach gesehnt habe. Wohl schon seit dem Moment, als ich dich am Landungsplatz abholen kam und du mich mit deinen schönen blauen Augen angeschaut hast.«
»Das Kind«, wisperte Georgina. »Ich will nicht, dass dem Kind etwas passiert.«
Eine Lüge. Sie wollte kein Kind bekommen, noch nicht. Nicht so, verheiratet mit einem Mann, den sie einmal gemocht hatte, aber nicht liebte und noch weniger begehrte.
Er versteifte sich. »Natürlich.« Nüchtern klang er, beinahe kalt. »Ich werde versuchen, vorsichtig zu sein.«
An ihrer Hand führte er sie zum Bett, während er sich die Weste aufknöpfte.
Sie zerging vor Scham, dass er sie nackt sah. Vor Scham über diesen anderen, fremden Leib, der so viel schwerer war als derjenige Raharjos, mit kompakt gebündelten Muskeln und von goldenem Pelz überzogen, und seine schwärmerischen Laute, seine gemurmelten Koseworte perlten von ihrer Haut ab.
Er gab sich Mühe, behutsam zu sein, obwohl er vor Begierde zitterte, und konnte doch nicht verhindern, dass er zu fest anpackte in seiner Erregung, grob war in seiner Unbeholfenheit; jede Berührung an ihren Brüsten, die prall waren wie Honigmelonen und an denen schon der dünne Stoff einer Kebaya scheuerte, tat ihr weh. Er achtete darauf, mit seinem kräftigen Leib nicht auf der kleinen Halbkugel zwischen ihren scharfen Hüftknochen zu lasten, aber es brannte, als er in sie eindrang, rieb unangenehm, als er sich in ihr bewegte. Von dem Duft der auf den Laken ausgestreuten Jasminblüten, die sie unter sich zerquetschten, dem herben Geruch seiner Haut, seines schnellen Atems und von der Hitze, die sein Leib verströmte, wurde ihr übel.
Georgina war froh, dass es schnell vorbei war, er sich auf die andere Seite der Matratze rollte und das Licht löschte. Zitternd kroch sie unter das Laken, während Samen klebrig zwischen ihren Beinen hervorsickerte.
Bis dass der Tod uns scheidet.
In der Dunkelheit ließ sie ihren Tränen freien Lauf, und die Ochsenfrösche lachten und spotteten über sie.
»Ich weiß, dass du mich nicht liebst«, hörte sie ihn nach einer Weile flüstern, seine Stimme ermattet nach dem Geschlechtsakt, schwerfällig von zu vielen Gläsern Champagner und Hochprozentigem.
»Aber ich habe jedes Wort meines Eheversprechens genau so gemeint, wie ich es heute am Altar gesagt habe. Und ich weiß, dass ich dir ein guter Mann sein kann. Wenn du mich nur lässt.«