Читать книгу Zeit der wilden Orchideen / Das Herz der Feuerinsel: Zwei Romane in einem Band - Nicole-C. Vosseler - Страница 26
13
___________
ОглавлениеRaharjo musterte sich im Spiegel.
Die lange Jacke mit Stehkragen saß gut, betonte mit ihrem engen Schnitt die Konturen seines schlanken, langgestreckten Körpers. Weiß war sie wie die schmalen Hosen, mit schweren Goldknöpfen verschlossen und so fein mit Goldfäden bestickt, dass man die Stickerei nur sah, wenn er sich im Lampenschein bewegte und der Stoff aufschimmerte. In der zum Gürtel gebundenen roten Schärpe steckten der Keris, der heilige Dolch seiner Ahnen, den er von seinem Vater geerbt hatte, mit seiner geschwungenen Klinge wie eine silberne Flamme, und seine Pistole, ohne die er nie aus dem Haus ging.
Er ertrug es nicht, einen Hut oder einen Turban zu tragen, er brauchte das Gefühl, jederzeit den Wind in den Haaren spüren zu können. Auch die blank polierten braunen Schuhe nach europäischer Mode engten ihn ein, nahmen ihm jegliches Gespür für den Boden unter seinen Füßen. Ohne sie konnte er jedoch wohl kaum hingehen.
Er hob die Linke, um sich über den Bart zu streichen, den er sich hatte wachsen lassen. Ein akkurater und gepflegter Rahmen um Mund und Kinn, der die Schärfe seiner Züge noch hervorhob, ihn älter aussehen ließ. Respekteinflößend.
Mitten in der Geste zuckte er zusammen; die Narbe an seinem Arm, die an seinem Bein spannten schon den ganzen Tag. Vielleicht eine unbedachte Bewegung, während er sein Schiff zurück nach Singapur steuerte, die sich erst jetzt bemerkbar machte, vielleicht auch das Wetter.
»Musst du heute Abend wirklich dort hingehen?«
Mit zusammengezogenen Brauen griff er zu den beiden massiven, verschwenderisch ziselierten Ringen aus Gold und schob sie sich auf die Finger, den mit einem Rubin links, den mit Onyx rechts. Rot wie Blut. Schwarz wie die Nacht.
»Du warst so lange fort und bist erst seit ein paar Tagen wieder zurück.«
»Whampoa ist ein wichtiger Mann«, sagte er nur und drehte sich um.
Auf einem der Rattanstühle im Zimmer saß Leelavati, das zinnoberrote Zeichen der verheirateten Frau auf der Stirn. Das Ende des Saris hatte sie zur Seite geschlagen, ihr Choli hochgeschoben, und hielt einen Säugling an der prallen Brust.
Harshad. Raharjo hatte Mühe, den Namen in seinem Gedächtnis zu verankern. Ein paar Monate war er wohl alt, Raharjo wusste es nicht genau, geboren, während er auf See gewesen war.
Nacktheit war ihm nicht fremd, Leelavati stillte den Kleinen so offen, wie es die Orang Laut von jeher getan hatten; dennoch widerte ihn dieser Anblick an, und er wandte den Kopf ab.
Leelavati musste es in seinem Gesicht gelesen haben: Das Klingeln ihrer zahllosen Goldreifen, das Rascheln von Seide verriet, dass sie hastig Brust und Kind mit dem Ende ihres Saris verhüllte.
Ihre tiefbraunen, großen Augen, dichtbewimpert, erinnerten ihn zuweilen an die einer Kuh, genauso sanftmütig, genauso duldsam. Einer Erdmutter glich sie, mit ihrer dunklen, schweißfeuchten Haut, ihrem Leib, der zugleich stark und weich war und üppig gerundet. So tief im Boden verwurzelt, dass nichts sie aus ihrem Gleichgewicht bringen konnte.
Ein vergnügtes Glucksen zu seinen Füßen ließ ihn hinuntersehen. Ein kleines Mädchen hockte auf dem Boden, sein dickes schwarzes Haar ein glänzender Helm um das Gesicht, rund wie das seiner Mutter und pausbäckig. Schüchtern lächelte es zu ihm hinauf und reckte die Finger nach seinem Hosenbein, wohl, um sich festzuhalten und daran hochzuziehen.
Veena. Kein Jahr nach der Hochzeit zur Welt gekommen, während er irgendwo hinter der Insel von Ceram kreuzte. Wie ihr Bruder aus Pflichtgefühl und blankem Trieb gezeugt, mit Gleichgültigkeit, vielleicht sogar einer Spur Verachtung. Nicht aus Lust oder gar Zuneigung.
Seine Miene verfinsterte sich, und er trat einen Schritt zurück.
Das Lächeln auf dem Kindergesicht flackerte und zerstob; die Kehrseite in die Luft gereckt, drückte sich das Mädchen vom Boden in die Höhe und rannte davon, klammerte sich an seine Mutter und vergrub das Gesicht in den Falten des Saris.
Raharjo steckte sein Zigarrenetui aus Schildpatt und Gold ein. Eine neue Angewohnheit von ihm wie die Abende, an denen er solchen Einladungen Folge leistete, um sie nicht hier verbringen zu müssen.
»Ich lasse mir ein eigenes Schlafzimmer herrichten. Unten. Nächste Woche kommen die Handwerker.«
Leelavati blieb stumm, unter gesenkten Lidern ganz in den Anblick des Säuglings in ihrem Arm vertieft.
Er sah nicht mehr, wie eine Träne ihre Wange hinabrann, als sich seine Schritte entfernten.
Erstickend schwül war es an diesem Abend.
Die Seide ihrer Robe, violettblau wie die Blüten des Heliotrops, klebte an Georginas Rücken, obwohl sie aufrecht saß, mit mehr als einer Handbreit zwischen ihrer Wirbelsäule und der Stuhllehne, und die langen Unterhosen, die Unterröcke hafteten feucht an ihrem Gesäß und an ihren Schenkeln. Wenigstens die Krinoline aus Fischbein, die neueste Mode aus Europa, brachte trotz ihres Gewichts ein wenig Erleichterung, indem sie die Last des schweren Seidenrocks trug und von ihrem Leib fernhielt. Beim Gehen schwang sie mit, hob sich im Sitzen vorne leicht an und ließ jedes Mal etwas Luft um ihre Beine streichen.
Sie setzte dazu an, sich zuzufächeln, kam sich dabei jedoch albern vor, sodass sie den Fächer wieder zuklappte und sinken ließ. Wie das Klischeebild einer europäischen Dame saß sie da, die sich in den Tropen über die allgegenwärtige Hitze beschwerte und sich gleichermaßen erschöpft wie überreizt zu Tode langweilte. Sie wünschte, sie wäre zu Hause geblieben.
Sehnsüchtig warf sie einen Blick über ihre Schulter, in die Nacht hinaus.
Es war noch hell gewesen, als sie die vielgerühmten Gärten durch eines der chinesischen Tore betreten hatten. Fächerpalmen und Baumriesen spendeten Schatten, und gigantische Seerosen, ein Geschenk des Königs von Siam, trieben auf einem See, ihre gefüllten Blütenbälle reinweiß oder rosafarben, ihre Blätter Lagerplatz für Scharen von Wasservögeln.
In einem Labyrinth aus Hecken und sich durch zauberhaft arrangiertes und blühendes Grün schlängelnden Wegen lag das Haus. Zierlich wie ein Pavillon trotz seiner beeindruckenden Größe, luftig durch seine vielen Fenster und Torbögen, schwebte es auf Pfählen, unter denen Kanäle Wasser führten, Lotusblumen blühten und rotgoldene Fischleiber aufglänzten.
Jetzt schälten Lampions und Laternen die Silhouetten zierlicher asiatischer Pavillons aus der Dunkelheit, von sorgfältig gehegten Bäumen, Hecken und Blumenbeeten umgeben. Das Kreischen eines Pfaus übertönte das Schrillen der Zikaden, das sanfte Gluckern und Fließen der Bäche. Die Schatten der mit einem Unterbau aus Draht zu Drachen und Delphinen, Elefanten, Hunden und Krokodilen zurechtgestutzten Sträucher waren zum Leben erwacht. Ein Märchenland zwischen Ost und West. Ein Zauberreich, mit grenzenloser Phantasie von Menschenhand aus dem unerschöpflichen Reichtum der Natur geschaffen.
Ah Tong liebte diesen Garten, der zum chinesischen Neujahrsfest für jedermann geöffnet war; Georgina konnte es kaum erwarten, ihm morgen ausführlich davon zu erzählen.
Vor ihr brandete das Gelächter der Herren auf. Der Dunst von Hochprozentigem hing schwer in der Luft und eine Mischung aus Männerschweiß, beißendem Zigarrenrauch und Räucherwerk; es würde gewiss noch einige Zeit dauern, bis man das Dinner servierte. Georgina fing einen entschuldigenden Blick von Paul auf, bevor Mr Gilman von Hamilton, Gray & Co. und ein Geschäftsmann aus der Schweiz ihn erneut in das lebhafte Gespräch über Kongsis, den Bau von Hafendocks und die Steuern auf Opium verwickelten.
Gespräche, denen Georgina sonst gerne zuhörte, auch wenn sie wusste, dass ihre Gedanken dazu keinen Wert besaßen.
»Soll ich dich einem Sommertage vergleichen?« Eine Männerstimme, tief und melodisch, in fehlerfreiem Englisch, aber mit der unverkennbaren Färbung chinesischer Herkunft. »Dabei bist du viel lieblicher und auch gelinder.«
Georgina legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Man merkt, dass wir uns gerade erst begegnet sind, Mister Hoo. Gelinder als einen Sommertag würde mich sicher niemand bezeichnen, der mich näher kennt!«
Sein pechschwarzer Bart, lang und dünn wie die Schwänze zweier Ratten, zuckte amüsiert.
»Euer von mir überaus geschätzter Master Shakespeare würde es, Madam. Gestatten Sie?«
Auf Georginas Nicken hin ließ er sich im Stuhl neben ihr nieder.
Er war groß für einen Chinesen, wenn auch nicht so groß wie Ah Tong. Obwohl er gut zwanzig Jahre älter sein musste als Georgina, war sein ovales Gesicht mit der hochgewölbten Stirn glatt wie blassgelbes Porzellan. Seine Augen unter den hohen, dünnen Brauenbögen, schmal wie mit Tusche aufgemalt, hätten bedrohlich gewirkt ohne den gutmütigen Schalk mit einer tüchtigen Prise Charme, der darin aufglomm.
»Bitte, Madam – nennen Sie mich einfach Whampoa. Jeder in Singapur tut das. Whampoa, nach meinem Geburtsort in Kanton.«
Ungeniert ergriff er Georginas Hand und führte sie an seine Lippen. Obwohl er an der chinesischen Tradition der ausrasierten Stirn und des langen geflochtenen Zopfes festhielt, trug er Frack wie seine Gäste aus Europa. Nur die Handvoll chinesischer taukehs, die an diesem Abend zugegen waren, hatte ihre Mode aus weich fallenden Hosen und langärmligen Seidenhemden beibehalten.
»Eine Dame von solch berückendem Äußeren wie Sie zu meinen Gästen zählen zu dürfen ist mir heute Abend die größte Kostbarkeit in meinem bescheidenen Heim.«
Ölgemälde englischer Landschaften bedeckten ebenso die Wände wie chinesische Tuschezeichnungen, Schriftrollen und gerahmte Drucke mit Portraits der Familie von Ihrer Majestät Königin Viktoria. Italienische Vasen, japanische Schnitzereien und chinesisches Porzellan standen auf englischem und asiatischem Mobiliar neben Jadeschnitzereien und Statuen aus Fernost und Europa. In diesem Haus, das Fenster aus deutschem Buntglas hatte, dessen Böden von gemusterten Keramikfliesen aus England bedeckt waren und in dem französische Uhren die Stunde schlugen.
Inmitten dieser Fülle aus Kunst und Kuriositäten kam sich Georgina vor wie ein weiteres Dekorationsobjekt, eine schmückende Leihgabe für einen Abend. Sie erriet, dass Paul sie zu eben diesem Zweck gebeten hatte mitzukommen, an der Art, wie die versammelten Gentlemen sie ansahen: Captain Marshall, der Agent der Peninsular & Oriental Steam Navigation Company in Singapur, Mr Dunman, der Vorsteher der kleinen Polizeieinheit der Stadt, Mr Kerr von Kerr, Whitehead & Co., die Herren Zapp und Ritterhaus. Nicht anzüglich, obwohl der eine oder andere verstohlene Blick ihrem Dekolleté galt; vielmehr respektvoll und bewundernd, allen voran ihr Gastgeber.
Georgina hob eine Braue. »Wenn man es genauer betrachtet, bin ich auch die einzige Dame hier heute Abend.«
Whampoa lachte schallend und tätschelte ihre Hand, eher väterlich denn galant.
»Weise und wahr gesprochen, Madam. Und geistreich noch dazu! Mister Bigelow ist wahrhaftig zu beneiden.«
»Mister Whampoa!« Mr Duff von der North Western Bank of India winkte eifrig zu ihnen herüber. »Kommen Sie, wir benötigen Ihre geschätzte Meinung!«
Whampoa seufzte tief auf. »Was nützt einem Mann wie mir die Poesie Ihrer Gegenwart, wenn sich die banale Prosa der Geschäfte dazwischendrängt? Verzeihen Sie, Madam.«
Mit einem weiteren Handkuss verabschiedete er sich und mischte sich wieder unter seine Gäste.
Paul nickte ihr mit einem zufriedenen Lächeln zu, als wolle er sagen: Gut gemacht.
Whampoa war ein bedeutender Mann in Singapur, nicht nur als Geschäftsmann, sondern auch als Konsul für China, Russland und Japan. Nahezu unermesslich reich sei er, wie es hieß; zumindest so reich, dass er es sich leisten konnte, einen seiner Söhne in Edinburgh studieren zu lassen.
Als junger Bursche war er aus China hierhergekommen, um im Laden seines Vaters zu arbeiten, der in der Nähe der chinesischen Godowns am Boat Quay Fleisch, Brot und Gemüse verkaufte. Ein Laden, der nach dem Tod seines Vaters in Whampoas Händen zu einem Imperium anwuchs, indem er allerlei Bedarfsartikel für die Schiffe der Royal Navy lieferte. Ein Eishaus, kühn konstruiert mit seinen schmiedeeisernen Balustraden, gehörte ebenso dazu wie Plantagen und eine gutgehende Bäckerei in der Havelock Road; es konnte nicht schaden, sich mit Whampoa gut zu stellen.
Georgina erwiderte Pauls Lächeln, doch er war bereits wieder in sein Geschäftsgespräch vertieft.
Zwischen den Köpfen der Männer, die sich gegenseitig zunickten, einander zudrehten und wieder abwandten, sich in einem Lachen zurückwarfen, öffnete sich für den Bruchteil eines Augenblicks die Sicht auf die gegenüberliegende Tür.
Ein Mann stand darin, gekleidet wie ein malaiischer Fürst, das Weiß seiner Jacke grell gegen seine Haut, braun wie Palmzucker. Ein hartes, unerbittliches Gesicht hatte er, und hart wirkte auch sein Mund. Seine Augen jedoch, schwarz und glänzend wie zerlassener Onyx, blickten verloren.
Als sei er nicht sicher, ob er hier richtig war. Oder aber als hätte er sich auf seinem Weg verirrt und fände nicht mehr zurück.
Georginas Herz setzte einen Schlag aus.
Die Köpfe der Gentlemen nahmen ihr die Sicht, nur ein Wimpernzucken lang, gaben sie dann wieder frei.
Der Türrahmen war leer.
Georgina rang nach Luft, jeder Atemzug ein zäher Kampf, während ihr Herz gegen ihr Brustbein hämmerte. Auf unsicheren Knien stemmte sie sich in die Höhe.
Niemand nahm Notiz von ihr; nur einer der chinesischen Jungen, die, in schwarzen Hosen und weißen Hemden, Bambusfächer schwangen und darauf achteten, dass es den Gästen nicht an Getränken mangelte, warf ihr einen verwunderten Blick zu, als sie über die Schwelle ins Freie taumelte.
Die Luft legte sich wie ein feuchtheißes Tuch auf ihre Haut, ihre Lunge, während sie durch das Gras stolperte. Über einen Kiesweg hinweg, auf dem sie mehrmals mit ihren hohen Absätzen umknickte, in eine andere Rasenfläche hinein, bis sie schließlich stehen blieb, keuchend, schluchzend beinahe.
Den ganzen Tag schon war ihr seltsam zumute gewesen. Eine Schwere in den Gliedern hatte sie mit sich herumgeschleppt, während ihr Kopf sich leicht anfühlte. Keine klare Leichtigkeit war es, sondern traumverloren, fast verwirrt, wie nach zu viel Champagner. Und nichts, was sie aß oder trank, konnte den Geschmack von Salz und Tang von ihrer Zunge wischen.
Tief sog sie die nasse Luft ein, die nach süßen Blüten duftete, nach Gras und Blättern und nach dem Meer. Obwohl sie doch ein Stück weit ins Landesinnere gefahren waren, eine lange Straße entlang, gesäumt von Bambus, ausladenden Palmen und wilden Mandelbäumen, ihre Stämme von Schlingpflanzen und Orchideen überzogen, und geschützt von Hecken aus wildem Heliotrop.
Der Garten sang. Nicht allein die Vögel, die irgendwo im Laub, vielleicht auch in einer Voliere, trillerten und pfiffen. Nicht nur die Zikaden, die Ochsenfrösche und die Pfauen. Ein sanftes, weiches Lied war es aus den tausend Stimmen der Blätter, das wie das Raunen des Meeres klang. Wie das Flüstern des Windes auf offener See, und Georginas Seele sang mit; ein Gefühl, das sie lange nicht mehr gehabt hatte.
Langsam beruhigte sich ihr Herzschlag, entspannte sich ihr Atem. Und noch bevor sie den Tabakrauch roch, drehte sie sich um.
Eine Scherbe weißen Tuchs, herausgebrochen aus dem gläsernen Zwielicht von Nacht und Lampenschein. Halb im Schatten, halb im Licht das massive Profil, das ihr einmal so vertraut gewesen war, wie aus Tropenholz geschnitten, geschmirgelt und poliert.
Eine kräftige Strömung umspielte Georginas Beine, riss an ihr, spülte sie auf ihn zu.
»Du bist es wirklich«, flüsterte sie, überzeugt, beim nächsten ihrer Schritte würde er sich erneut wie eine Fata Morgana in Luft auflösen. Flüchten wie ein scheues Meerestier.
Seine Augen unter den schweren Brauenbögen waren auf die Glut seiner schmalen Zigarre gerichtet. Eine gewisse Anspannung, die die Luft zwischen ihnen auflud, verriet, dass er sich ihrer Gegenwart bewusst war.
Sieben Jahre. Fast genau sieben Jahre ist es her.
Die Zeit hatte seine Züge geschärft und verhärtet. Vielleicht lag es auch an diesem Bart, der seine Mundpartie umschloss und ihm etwas Hochmütiges, Grausames verlieh.
»Wo warst du?«, hauchte sie, ein Tosen aus Glück und Verzauberung in ihrem Inneren. Und das Sehnen, das in einer tosenden Welle in ihr aufschoss, ließ sie schwanken.
Beim nächsten Schritt trat sie ins Leere, als sie begriff, dass es nicht das Meer gewesen war, das ihn ihr genommen hatte. Sie strauchelte und fand Halt in einem jäh aufglimmenden Zorn.
»Wo warst du? All die Zeit?« Ein zischendes Fauchen, mit einem Grollen darin, das Feuer widerspiegelnd, das sich in ihrem Leib entzündet hatte. »Wo warst du, während ich auf dich gewartet und gehofft und um dich gebangt habe?«
Endlich hob er den Blick, hielt ihn jedoch auf einen unbestimmten Punkt hinter Georgina gerichtet.
»Allzu lange kannst du nicht gelitten haben. Gerade lange genug, um dich sogleich dem Nächsten an den Hals zu werfen.«
Auch seine Stimme war härter geworden, mit einem metallenen Schwingen darin wie das Sirren einer Klinge. Georgina stieg das Blut ins Gesicht.
»Ich hatte keine Wahl«, flüsterte sie.
Dein Sohn brauchte einen Vater. Einen Namen.
Sie rang nach Worten, ihm davon zu erzählen.
»Natürlich nicht.« Seine Augen hefteten sich auf sie, schwarzglänzend wie der Himmel in einer mondlosen Nacht. »Über kurz oder lang musstest du dich im Netz deiner Lügen verfangen.«
Das Blut wich aus ihrem Gesicht, sackte in die Tiefe ihres Leibes und fachte das Zornesfeuer weiter an.
»Ich habe dich nie angelogen. Niemanden habe ich angelogen.«
»Nenn es, wie du willst.« Er trat auf sie zu, in einer Haltung, die bedrohlich wirkte, und seine Stimme war flach und heiser. »Ich mag nur ein schmutziger Orang Laut sein. Aber ich habe meinen Stolz. Meine Ehre.«
Georgina suchte Raharjo in seinem Gesicht und fand ihn nicht. Ein Fremder hatte sich die Haut ihres Selkie übergestreift. Sie wollte zurückweichen, doch sein Geruch, dieser vertraute, vermisste und nie vergessene Geruch nach Meer und Tang, wie Leder und Zimt, verschärft durch den Rauch, trieb sie näher zu ihm.
Sein Gesicht schob sich neben ihres, so dicht, dass sein Bart beinahe ihre Wange streifte, die Wärme seiner Haut sie durchglühte.
»Der Orang Putih wird den Tag verfluchen, an dem er dich zu seiner Frau gemacht hat«, raunte er neben ihrem Ohr. »Dein Vater den Tag, an dem er dich zeugte. Ich werde dir alles nehmen, was dir lieb und teuer ist. Und wenn ich mit dir fertig bin, wirst du bereuen, mir je begegnet zu sein.«
Jäh wandte er sich ab, warf die halb gerauchte Zigarre ins Gras und ging davon, in gemessenen, kraftvollen Schritten, bis ihn der nächtliche Garten verschluckte.
Paul gab sich Mühe, seine Verärgerung zu unterdrücken, dass dieser Abend, auf den er große Hoffnungen gesetzt hatte, für ihn frühzeitig wieder vorbei war. Noch vor dem Dinner und dem Auftritt einer malaiischen Tanztruppe, die als Höhepunkt des Abends angekündigt worden war.
Schwerer jedoch wog seine Sorge um Georgina, die stumm und blass neben ihm im Palanquin saß, ihre Augen groß und starr und so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten. Ihre Hand war kalt unter der seinen, doch auf ihrer Haut schien eine knisternde Spannung zu liegen, die ihn verstörte.
Als wäre sie einem Geist begegnet in den berühmten Gärten von Whampoa.
Einem Geist der Vergangenheit, auf den er nur einen flüchtigen Blick erhascht hatte, schräg am Türrahmen vorbei und halb von der Seite. Ein weißer Anzug wie ein scharfkantiger Knochensplitter. Ein braunes Gesicht, die Kinnlinie schwer, die Konturen hart. Der Mund jedoch verblüffend weich, voll und geschwungen.
Wie eine Messerklinge zwischen die Rippen hatte es ihn getroffen.
Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, an diesem Abend. An den Tagen danach.
Doch seither sah er Duncan mit anderen Augen.
Eine Decke unter sich ausgebreitet, saß Georgina im Gras, der Himmel über ihr in einem herzlosen Blau. Die fernen Wolken sahen so dick und weich aus, dass es unvorstellbar schien, darauf nicht barfuss bis ans Ende der Welt wandern zu können.
Unweit von ihr schnitt Ah Tong den Jasmin zurück, unter dem gleichmäßigen Schnippen der Gartenschere, dem Rascheln herabfallender Zweige. Die Stimmen und das Lachen von Duncan und David füllten den Garten, beide in kurzen Hosen und in ein Spiel vertieft, in dem sie umhersprangen wie Fohlen.
»Du bist nicht glücklich, Miss Georgina.«
Sie beobachtete ihre Söhne, äußerlich und in ihrem Wesen so verschieden, aber meistens herzenseinig, wie sie johlend und kieksend auf einen Baum zurannten; vielleicht hatten sie einen der wilden Affen entdeckt, die sich manchmal hierherverirrten.
Vier Jahre zuvor hatten die großen Mächte des Osmanischen Reiches, Russlands, Großbritanniens und Frankreichs auf der Krim einen Krieg angezettelt, der in ein noch nie dagewesenes Blutvergießen mündete. So weit entfernt dieser Krieg auch war, hatte er Singapur doch mit einem Schlag bewusst gemacht, wie ungeschützt die Insel im Meer lag. Singapur, das nie eine Kolonie im eigentlichen Sinne gewesen war. Kein Stück Großbritannien, das man in eine unzivilisierte Wildnis verpflanzte, indem man Gebiete eroberte und Einheimische im Kampf besiegte, sich in einer Festung verschanzte und Soldatenheere kampfbereit hielt.
Ein Ableger britischen Unternehmergeistes und Kapitals war Singapur, aus Verhandlungen und Verträgen entstanden, gewachsen im friedlichen Nebeneinander, Miteinander verschiedener Völker und zu ihrem gegenseitigen Nutzen. Eine unbewachte Schatzkammer, die ein lohnendes Ziel für einen Überraschungsangriff darstellte, das sah man nun, und sei es nur ein einzelnes russisches Kriegsschiff, das mühelos die Stadt vom Wasser her zerstören und Großbritannien als Handelsmacht wie als Nation damit empfindlich treffen konnte.
Große, kühne Pläne für eine Befestigung der Stadt wurden von Calcutta aus geschmiedet, verworfen, geändert und neu verfasst. Während die Bürger der Stadt einmal mehr im Alleingang tätig wurden und ein Rifle Corps gründeten, hervorgegangen aus der Schutztruppe während der Unruhen unter den Chinesen der Stadt: Freiwillige, die sich mit ihren eigenen Waffen zu einem Regiment für den Verteidigungsfall zusammenschlossen, darunter auch Paul Bigelow.
Der Krieg auf der Krim war gerade zu Ende gegangen, als sich in Indien erst die Sepoys der Armee, dann die Menschen auf dem Land und in den Städten gegen die britischen Kolonialherren erhoben. Eine blutige Rebellion, die nicht nur Indien, sondern auch Singapur bis ins Mark traf. Tiefe Sorgenfalten durchzogen das Gesicht Gordon Findlays, während er die Geschehnisse verfolgte und auf Nachrichten wartete, obwohl sich der Aufstand weitestgehend auf den Norden und die Mitte des Subkontinentes beschränkte und alles danach aussah, als würde er nie die französische Enklave von Pondichéry erreichen.
Niemand wusste, was dieser Aufstand für Singapur bedeutete, das in diesem Jahr sein Handelsvolumen im Vergleich zu dem fünfzehn Jahre zuvor wohl verdoppeln würde. Niemand wusste, wie sich die Sepoys der Garnison von Singapur verhalten würden, die dreitausend Sträflinge, die mehrere tausend Inder der Stadt, denen nicht einmal vierhundert Europäer gegenüberstanden. In einem Jahr, das mit Streiks und Protesten gegen das neuformierte und rein europäische Municipal Board begonnen hatte, das die Verwaltung der Stadt in die Hände nahm, künftig über Steuern und Gebühren entschied und diese eintrieb, über den Unterhalt von Straßen, die Abfallbeseitigung, den Bau und Abriss von Häusern verfügte und eine neue Polizeiverordnung mit unnachgiebiger Härte umsetzte.
In einer Zeit, in der die Reichen immer reicher wurden, die Armen ärmer. In der Singapur hin- und hergerissen war zwischen der bisherigen Haltung des Laisser-faire und der Notwendigkeit einer gewissen Ordnung und Sicherheit, zwischen dem Wunsch nach Unterstützung aus Calcutta und Unabhängigkeit von der Regierung in Bengalen.
Lange war Singapur eine zwar betriebsame, aber dennoch verträumte Insel am Ende der Welt gewesen. Fast über Nacht brandeten die unruhigen Wellen des Weltenmeeres nun an ihre Küsten, und entlang der Fäden des Handelsnetzes, das Singapur sicher barg und kräftig gedeihen ließ, hatten sich Risse aufgetan. Zogen sich durch den Boden, auf dem sie alle gingen, fein verästelt wie Sprünge in der Glasur einer chinesischen Porzellanschale.
Ein bislang ungekanntes Gefühl der Bedrohung hatte sich eingeschlichen, gerade bei Georgina, nach ihrer Begegnung mit Raharjo, der ihr wie ein Nachtmahr vorkam.
Ein Königsfischer war es gewesen, der heute Morgen diesen bösen Traum, über Monate hinweg abgeschüttelt und verdrängt, mit einem Schlag wieder wachgerufen hatte. Ein Aufglimmen in Orangerot und Kobaltblau zwischen den Bäumen, Hoffnungsschimmer und unheilvolles Vorzeichen zugleich; sie konnte sich nicht erinnern, je einen hier in L’Espoir gesehen zu haben.
»Nein«, flüsterte sie schließlich.
»Ich kann gut zuhören, wie du weißt. Und ich bin verschwiegen.«
Georgina rutschte auf der Decke herum, um sich ihm zuzuwenden, mied jedoch die Blicke, die Ah Tong ihr durch die blühenden Zweige zuwarf.
»Ich glaube, ich habe verstanden, dass ich vor langer Zeit mein Herz begraben habe. Genau wie der Tuan damals.«
Ah Tong fuhr fort, einzelne Ästchen des Jasmins abzuknipsen.
»Verzeih, wenn ich widerspreche, Miss Georgina. Das hast du keineswegs. Man muss dir nur zuschauen, wenn du mit deinen Söhnen zusammen bist. Wenn Tuan Bigelow nach Hause kommt. Dann weiß man, dass dein Herz nach wie vor kräftig in deiner Brust schlägt.«
Sein Ledergesicht, knittriger geworden mit jedem Jahr, zog sich angestrengt zusammen, als er kraftvoll einen Ast durchtrennte und zu Boden fallen ließ.
»Aber ich glaube dir, dass es sich anfühlt, als hättest du es begraben. Solche Zeiten gibt es. Eine solche Zeit gab es auch einmal für unsere Mem.«
Aufmerksam sah Georgina ihn an, und ein Grinsen blitzte auf seinem Gesicht auf.
»Habe ich dir je erzählt, dass ich ins Haus geholt wurde, um die Wildnis am Meer zu lichten und zu zähmen? Doch, so war es.«
Ah Tong ließ die Schere sinken. Eine Hand auf einem Ast, lehnte er die Stirn dagegen. Er zögerte, als müsse er abwägen, ob er weitersprechen sollte.
»Ich war mir damals nicht sicher, ich hatte ja zuvor noch nie mit Herrschaften wie dem Tuan und der Mem zu tun gehabt. Aber ich hatte das Gefühl, es stünde nicht zum Besten zwischen ihnen beiden. Obwohl sie voller Freude über ihr kleines Mädchen waren, wirkten beide unglücklich. Die Mem vor allem.« Seine struppigen Brauen zogen sich schmerzlich zusammen. »Sehr unglücklich sogar. Sie war es, die das Dickicht abholzen lassen wollte. Dabei hat der Tuan es eigens für sie stehen gelassen, als er das Haus baute. Damit sie etwas hat, das sie an ihre Heimat erinnert. Mit dem Pavillon am Meer, damit sie die Seeluft genießen kann. Just an dem Morgen, als ich die Säge ansetzte, kam sie angelaufen. Sie habe es sich anders überlegt. Sie wolle es lassen, wie es ist.«
Ah Tong lachte, dass sein knochiger Adamsapfel hüpfte.
»Ich war am Boden zerstört, weil ich dachte, ich würde ohne Bezahlung wieder fortgeschickt. Zurück an den Kai, um als Coolie Kisten zu schleppen. Aber ich durfte bleiben.« Er hob den Kopf und nickte vor sich hin. »Ich denke, in jeder Ehe gibt es Dürren. Gibt es Stürme. Man darf nur nicht die Hoffnung aufgeben. Den Glauben verlieren. Bald danach ist auch wieder Harmonie zwischen dem Tuan und der Mem eingekehrt. Sie waren so glücklich miteinander, wie Eheleute nur sein können. Bis zuletzt.«
Ah Tong setzte die Schere wieder an.
Georgina zerrte an einem losen Faden ihres Sarongs, während sie vorsichtig die Worte auf der Zunge kostete, die sie so lange mit sich herumgetragen hatte.
»Weißt du, woran sie gestorben ist?«
Ah Tong hielt inne und starrte sie an. »Hat dir das nie jemand erzählt?« Er seufzte und zupfte einige gelbe Blätter aus dem Laub. »Warst ja auch noch sehr klein. Danach hat wahrscheinlich niemand mehr daran gedacht, es dir zu sagen.«
Verbissen riss er an einem Zweig, der noch weich war, aber schon welk aussah, nahm dann doch die Schere zu Hilfe.
»Sie wollte noch ein Kind. Obwohl alle Ärzte sagten, es sei zu gefährlich für sie. Obwohl auch die Mak Bidan sie gewarnt hat. Aber sie wollte es so sehr, und auch der Tuan war voller Hoffnung. Doch sie hat eines nach dem anderen verloren. Bis ihr Leib keine Kraft mehr hatte.« Wehmütig starrte er vor sich hin. »Das letzte war es, das sie das Leben gekostet hat. Ein Junge wäre es gewesen. Hat Cempaka erzählt.«
Er wandte sich halb ab und wischte sich verstohlen mit dem Ärmel über seine Augen, seine Wangen, bevor er entschlossen einen weiteren Zweig abschnitt.
»Wenn es je eine Mem mit einem Tigerherzen gegeben hat, dann war das unsere Mem. Und du, Miss Georgina, schlägst ganz nach ihr.«
Georgina starrte vor sich hin und schlang die Arme um sich; sie hatte sich als Kind nach einem Bruder, einer Schwester verzehrt. Sie konnte dankbar sein, zwei gesunde Söhne zur Welt gebracht zu haben, schmal und zäh der eine, kräftiger der andere, froh darum, dass die beiden Jungen nicht nur mit Mutter und Vater aufwuchsen, sondern auch einander hatten. Besonders jetzt, nachdem die Oxleys Singapur den Rücken gekehrt hatten, Duncan und David sich von Thomas, Edward, Gertrude und Eva verabschieden mussten, mit denen sie manchmal hier im Garten oder bei den Oxleys auf Killiney gespielt hatten.
Ihre Miene hellte sich auf, als ihr Blick auf David fiel. Die Augen wie zwei blaue Sterne in seinem gebräunten Gesicht, rannte er aus Leibeskräften durch das Gras auf sie zu, und sie breitete die Arme aus.
In vollem Lauf warf er sich in ihre Arme. Das Gesicht gegen ihre Schulter gedrückt, klammerte er sich an ihr fest, sein kleiner Jungenleib ruckend, halb atemloses Luftholen, halb Schluchzen.
»Was ist denn?«, murmelte Georgina in sein Haar, das nach Sonnenwärme roch, frisch und süß wie Pflanzensaft und ein bisschen nach Salz, und streichelte seinen Rücken.
»Duncan ist doof«, murmelte er in ihre Halsbeuge.
»Habt ihr euch gestritten?«
David nickte heftig. »Geschubst hat er mich auch.«
Georgina hob den Kopf und blickte suchend im Garten umher.
Es hätte keinen Sinn gehabt, ihnen das Wäldchen zu verbieten, dafür war es für Kindersinne zu reizvoll, waren die beiden zu neugierig, zu lebendig. Einmal war Georgina noch eingetaucht in das grünschillernde Licht der beiden Zimmer, in diese Welt wie unter Wasser. Ihr Herz gewaltsam verschlossen, taub und blind für Erinnerungen, hielt sie ihre Aufmerksamkeit ganz darauf gerichtet, schadhafte Stellen in Holz und Mauerwerk des Pavillons zu entdecken, an denen sich die Kinder verletzen konnten. Was von ihrer Zeit mit Raharjo übrig geblieben war, hatte sie mechanisch eingesammelt und achtlos in eine Schublade des Waschtischs gestopft; nur das verrostete Rasiermesser hatte sie mitgenommen, um es wegzuwerfen, bevor sie dem Pavillon endgültig den Rücken kehrte und ihn den Kindern überließ.
Ich werde dir alles nehmen, was dir lieb und teuer ist.
Ein Feuerball aus Angst dehnte sich in ihrem Magen aus. Fester als nötig packte sie David, hielt ihn von sich weg und starrte ihm streng ins Gesicht.
»Wo ist dein Bruder?«
Unwillig ruckte er mit den Schultern, befreite einen Arm aus ihrem Griff und wies hinter sich, in Richtung der Mauer.
Auf das Meer hinaus.
»Ich bin noch zu klein, hat er gesagt.« Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Nur er. Ganz allein, hat er gesagt.«
»Ich mach schon, Miss Georgina.« In zwei, drei langen Schritten war Ah Tong neben ihr und nahm David, der laut zu schluchzen begonnen hatte, bei der Hand.
Georgina sprang auf und rannte los, und das harte Gras schnitt ihr in die Fußsohlen.
Sie jagte durch das Tor, über die Beach Road hinweg, um Haaresbreite zwischen einem Palanquin und einem Ochsengespann hindurch und hetzte auf die Böschung zu.
Bis über die schmalen Hüften stand er im Wasser, schwankend im weichen, nachgiebigen Untergrund, im Wellengang.
Er hörte nicht, dass sie ihn rief.
Wie in Trance hielt er die Arme ausgebreitet, bot sich selbst dem Meeresgott als Opfer dar.
Welle um Welle rollte auf den Jungen zu, hoch aufgebäumt und brausend, erst kurz vor ihm flach und sanft auslaufend. Ein flüchtiges, fließendes Raubtier, das ihren Sohn umschlich und umschmeichelte, bereit, ihn beim nächsten Atemzug zu ergreifen und zu verschlingen.
Hoch spritzte das Wasser auf, als Georgina hineinrannte, durchnässte ihre Kleider und brannte in den Kratzern und aufgeschürften Stellen ihrer bloßen Füße. Sie stürzte sich auf ihren Sohn, packte ihn, zerrte ihn mit sich; zentnerschwer schien er zu sein.
Duncan schrie, als würde sie ihn bei lebendigem Leib häuten, strampelte, boxte, trat nach ihr. Bis ihre Beine einknickten und sie im nassen Sand, von dünnen, schäumenden Wasserzungen überstrichen, zusammensackte.
Mit letzter Kraft versuchte sie den tobenden Jungen festzuhalten, der sich ihr entwinden wollte, sich gegen sie stemmte, nach ihr schlug.
Fort wollte er, zurück ins Meer.
Bis auch seine Kraft sich erschöpft hatte, sein Gebrüll in ein haltloses Weinen überging, in dem er sich an seine Mutter klammerte und sein Leid gegen ihre Brust klagte.
Georgina wiegte ihren Sohn in den Armen, ihr schönes, wildes Meereskind. Sie strich ihm über das nasse Haar und teilte sein Sehnen. Seinen Schmerz. Seinen Zorn.
Am nächsten Tag fing Georgina damit an, ihren Söhnen das Schwimmen beizubringen, erst Duncan, dann David.
Und sie bat Paul, mit ihr und den Kindern umzuziehen.
Fort aus L’Espoir. Weg vom Meer.