Читать книгу Fettnäpfchenführer Brasilien - Nina Büttner - Страница 14
LINDA SPRICHTEINE FASTVERGESSENESPRACHE
ОглавлениеWIE LEICHT MAN SICH IN SCHMIERGELDZAHLUNGEN VERWICKELT
Trotz ihrer Müdigkeit will Linda ihren Gastgebern weiter Gesellschaft leisten, auch um sich an die Zeitverschiebung anzupassen. Also bleibt sie in ihrem Sessel vor dem Fernseher hocken, Marcelo und Patrícia sitzen Arm in Arm auf dem Sofa und wirken ganz entspannt. Die Abendnachrichten laufen, und Linda versucht etwas zu verstehen. Doch dieses Portugiesisch klingt schon beim ersten Eindruck so völlig anders als das Portugiesisch, das Lindas Lehrerin in der Volkshochschule sprach. Als sie vor einigen Monaten zum ersten Mal den Unterricht besuchte, war sie erstaunt über den gedrungenen und nasalen Klang dieser Sprache, die sich so grundlegend vom ratternden Spanisch unterscheidet und ihr fast asiatisch vorkam. Die Moderatorin der Nachrichten dagegen spricht ein offenes, wenn auch ähnlich wie Lindas Lehrerin leicht nasales Portugiesisch. Es plätschert so dahin in einer angenehmen Melodie und erinnert Linda an einen Fluss in den Tropen, während sie beim Spanischen immer einen Reiter in der Wüste vor Augen hat, beim Portugiesisch ihrer Volkshochschullehrerin eine mittelalterliche chinesische Spelunke. Die kam aus Portugal. So sehr Linda sich über den schönen Klang des brasilianischen Portugiesisch freut, so verunsichert ist sie doch, weil sie kaum etwas versteht. Na ja, eigentlich versteht sie gar nichts.
Die Nachrichten dauern ganz schön lange, Linda hat schon drei Werbeunterbrechungen gezählt. Von den Werbeclips wird ihr fast schwindelig, so bunt, schnell und laut sind sie. In den meisten tanzen leicht bekleidete Frauen, und Männer trinken Bier. Jetzt redet wieder die Moderatorin, die nervös von einer Seite zur anderen geht, mal fährt die Kamera ganz nah an ihr Gesicht, mal sieht man ihren ganzen Körper und ihr etwas schräges Kostümchen. Sie deutet auf den riesigen Bildschirm im Studio, und eine Reportage beginnt, die wiederum eine junge Frau zeigt, der die Kamera in eine Schule folgt. Diese wird offensichtlich von den Schülerinnen bestreikt, das Wort greve fällt häufig. Als dann Schüler interviewt werden und Linda wieder nichts versteht, versucht sie ein erstes Gespräch auf Portugiesisch zu beginnen. Sie will sich erkundigen, ob man hier Schulgeld bezahlt, und fragt: »Vocês pagam propina na escola?«
Patrícia und Marcelo schauen sie einen Moment irritiert an, dann verneinen sie ihre Frage entschieden und wirken ein bisschen eingeschnappt. Patrícia sagt etwas, von dem Linda nur das Wort proibído – verboten versteht. Natürlich kann man Schulgeld kontrovers diskutieren, aber dass man gleich so entsetzt reagieren muss!
Linda schaut verunsichert wieder auf den Bildschirm. Es werden gerade Bilder von einem Fußballspiel gezeigt. Sie nimmt einen erneuten Anlauf im Konversationstraining: »O guarda-redes é muito bom«, will sie den Torwart als sehr gut bewerten.
Wieder schauen sich ihre Gastgeber perplex an. Diesmal müssen sie aber lachen. Marcelo fängt sich als Erster wieder: »Hattest du einen Portugiesischlehrer aus Portugal?«
Linda nickt.
Patrícia wechselt das Thema: »Wir haben dir gar nichts angeboten! Möchtest du etwas? Ein Bier?«
»Tu tens água?« – Hast du Wasser?, macht Linda einen nächsten Anlauf auf Portugiesisch. Dabei zieht sie das s in tens zu einem sch, wie ihre Portugiesischlehrerin es ihr beigebracht hat. Diesmal schmunzelt das Ehepaar.
»Ja, komm ich zeige dir, wo bei uns das Wasser steht«, antwortet Patrícia und geht vor in die Küche.
PORTUGUÊS DO BRASIL
Seit Brasiliens Kolonialisierung haben sich das brasilianische und das europäische Portugiesisch so unterschiedlich entwickelt, dass sich die beiden Varianten stärker voneinander unterscheiden als das amerikanische vom britischen Englisch. In Brasilien haben vor allem der Einfluss des afrikanischen Yoruba und zumindest einige der 1.500 indigenen Sprachen auf brasilianischem Terrain für die Modifizierung der Sprache gesorgt. Mit den europäischen Einwanderern im 19. Jahrhundert kamen dann vornehmlich italienische Nuancen hinzu, und heute sind englische Wörter in aller Munde. Die brasilianische Variante des Portugiesischen ist weltweit mit Abstand die meist gesprochene.
Während sich die Schriftsprache beider Länder auf den ersten Blick nur unwesentlich unterscheidet, finden sich enorme Unterschiede in der gesprochenen Sprache. Neben einigen lexikalischen Eigenheiten (so z. B. das Wort bicha, das in Portugal die Schlange, in der man sich anstellt, bezeichnet; in Brasilien hingegen ist es eine abwertende Bezeichnung für einen Homosexuellen) dürfen Sie sich auf grammatikalische Vereinfachungen in Brasilien freuen:
Die zweite Konjugation fällt im Singular und im Plural weg:Beispiel: Beim Verb falar (sprechen) heißt es statt tu falas (du sprichst), lediglich você fala. Statt tu wird also você verwendet und das Verb wird wie die 3. Person Singular (ela fala – sie spricht) konjugiert. Selbst in den Regionen, in denen tu gebraucht wird, konjugiert man es vereinfacht wie mit você: tu fala. Analog dazu heißt es im Plural statt vós falais (ihr sprecht) vocês falam, was wie die 3. Person Plural (eles falam – sie sprechen) konjugiert wird.
Statt nós (wir) wird häufig der Ausdruck a gente (wörtlich: die Leute) verwendet, was die Vereinfachung mit sich bringt, dass dann das Verb statt in der 1. Person Plural wie in der 3. Person Singular konjugiert wird: Statt nós falamos (wir sprechen), lässt sich sagen: a gente fala.
Am auffälligsten sind die Unterschiede zwischen dem europäischen und brasilianischen Portugiesisch aber in der Aussprache:
Ein l am Ende des Wortes oder nach einem Vokal und vor einem Konsonanten wird wie u ausgesprochen. Brasil spricht sich »Brasiu« und die Bonbons der Marke Halls sprechen sich wie das deutsche Wort »Haus«.
Am Ende eines Wortes klingt das e wie ein i und das o wie ein u. Livre (frei) hört sich wie »livri« an und fogo (Feuer) wie »fogu«.
Ein -de oder -te am Wortende wird wie -dschi bzw. -tschi ausgesprochen. Beispiele: saudade (Sehnsucht) spricht sich also »saudadschi« und noite (Nacht) »noitschi«.
Wo zu viele Konsonanten auf einmal auftreten, werden zusätzliche Vokale gesprochen:
Am Wortende: Hiphop wird »Hipihopi« gesprochen.
Am Wortanfang: Vor den Namen des Hundes Snoopy wird ein i gehaucht, er wird also zu »Isnoopy«.
Zwischen Konsonanten: Das Wort advogado (Rechtsanwalt) wird manchmal »adevogado« ausgesprochen.
Wenn Sie verschiedene Regionen Brasiliens bereisen und sich intensiver mit dem Portugiesischen beschäftigen, werden Ihnen möglicherweise regionale Dialekte auffallen. Die Eigenarten fallen zwar dezenter aus als im Deutschen, auf sie zu achten ist aber dennoch wertvoll, wenn Sie die Menschen verstehen wollen. Beispielsweise ist dem Dialekt nordestino im Nordosten eine typische Satzmelodie eigen, auch werden die Wörter dort breiter gesprochen.
Das rund um das Landesinnere von São Paulo gesprochene caipira fällt durch den fast schon amerikanischen Klang des r auf. In Rio fallen hingegen die vielen Zischlaute auf: Faz (macht) spricht sich »faisch«.
Das s und z am Wortende werden also zu sch, womit das Portugiesisch in Rio de Janeiro gar nicht so weit von dem in Portugal gesprochenen entfernt ist. Diese Verwandtschaft in der Aussprache hat offensichtlich mit der Verlegung der portugiesischen Krone im Jahre 1808 in die damalige Hauptstadt Rio de Janeiro zu tun.
Linda folgt Patrícia in die Küche und sieht gleich den großen Wasserspender. Patrícia füllt ihr ein Glas an einem der zwei Hähne. Linda nimmt sofort einen großen Schluck, kann ihn aber nur unter Schmerzen schlucken, da er eiskalt ist. »Frio« – Kalt, kommentiert sie heiser.
»Du kommst doch aus Deutschland, dir muss es doch so heiß sein hier, da dachte ich, du magst kaltes Wasser«, erklärt sich Patrícia. Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer fällt ihr noch ein: »Ach ja, ihr trinkt ja auch warmes Bier.«
Linda hebt schon an zu protestieren, aber als sie sieht, dass das Thema für Patrícia damit abgehakt ist, setzt sie sich zurück in ihren Sessel, nippt an ihrem Schmelzwasser und verfolgt das bunte und aufgeregte Treiben auf dem Bildschirm.
Die Nachrichten werden immer wichtiger, je weiter die Sendung voranschreitet, hat Linda das Gefühl. Der schon vor jeder einzelnen Werbeunterbrechung angekündigte Beitrag über die erneute Inhaftierung des ehemaligen Präsidenten Michel Temer wegen Korruptionsvorwürfen beginnt erst jetzt. In Deutschland hatte Linda nur sehr diffus etwas von den politischen Turbulenzen in Brasilien mitbekommen: Es hatte ein Amtsenthebungsverfahren gegen eine Präsidentin gegeben wegen der Haushaltspolitik oder der Wirtschaftskrise oder so etwas, woraufhin dieser Temer ins Amt kam. Inzwischen ist seine kurze Präsidentschaft wieder Geschichte, und es wird offenbar auch gegen ihn ermittelt. So ganz kann Linda dem Beitrag nicht folgen. Als Nächstes scheint es in den brasilianischen Nachrichten um den Gouverneur von Rio de Janeiro und die Olympischen Spiele zu gehen. Linda sieht den Olympischen Park in Barra da Tijuca und den in Deodoro auf dem Bildschirm und eine Animation über Geldtransfers. Korruption scheint das Thema zu sein.
Marcelo schüttelt den Kopf. »Das war alles zu viel. Wirtschaftskrise, Inflation, WM, Olympische Spiele. Alle schauen auf Brasilien, und wir verzapfen so viel Mist.«
»Das war eine demütigende Zeit. Das 1:7 gegen euch Deutsche, unsere Erdölfirma Petrobrás mit ihrem Korruptionsskandal, dann fanden alle das Amtsenthebungsverfahren undemokratisch, unsere Ingenieure wurden als inkompetent abgestempelt, deus me livre« – Gott bewahre, stimmt Patrícia mit ein.
Linda fühlt sich noch nicht so sattelfest in ihrer Meinung und streut ein: »Aber die Großereignisse haben doch viel Infrastruktur mit sich gebracht, oder?«
Marcelo schnalzt skeptisch mit der Zunge.
13 JAHRE ARBEITERPARTEI
Die politische und ökonomische Situation Brasiliens wird derzeit mit Politthrillern und Serien wie House of Cards verglichen, so unglaublich sind die Intrigen. Nachdem die Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) vier Wahlsiege in Folge für sich verbuchte, schaffte es 2016 die konservative Opposition, durch ein Amtsenthebungsverfahren an die Macht zu kommen. Dass Dilma Rousseff aus der PT 2014 wiedergewählt wurde, obwohl durch das Investigationsprogramm Lava-Jato (Autowaschanlage) bereits herausgekommen war, dass ihre Partei in ein korruptes Geflecht mit der staatlich kontrollierten Erdölfirma Petrobrás verstrickt war, spricht hier Bände. Die konservative Opposition schafft es nicht, der Mehrheit der Brasilianer eine lohnenswerte Alternative aufzuzeigen. Wo der demokratische Weg scheiterte, begann das Bemühen um ein Amtsenthebungsverfahren aufgrund einer Formalität: Schummeleien im Haushaltsbericht, die schon von vielen Regierungen angewandt worden waren.
Die PT wird als erste wirkliche Partei angesehen, die aus einer gesellschaftlichen Bewegung hervorgegangen ist. Nämlich aus den gewerkschaftlichen Protesten gegen die Militärdiktatur seit den 1970er-Jahren und der Vertretung der Interessen der Armen – besonders aus dem Nordosten – seit dem Demokratisierungsprozess, der in der Mitte der 1980er-Jahre seinen Anfang nahm. Die konservativen Parteien wie PSDB und PMDB sind weniger ideologisch profiliert, sie setzen besonders auf Persönlichkeiten, die Unterstützung durch evangelikale Kirchen und ein Netz aus einflussreichen Unterstützern aus Industrie und Landwirtschaft. Davon sind die brasilianischen Wähler in den 90ern bitter enttäuscht worden.
Als es 2003 der Gewerkschafter Luis Inácio »Lula« da Silva schaffte, der erste Präsident aus der Arbeiterpartei zu werden, war der Jubel unter Brasiliens armer Bevölkerung groß. Das Großkapital zog sich entgegen vieler düsterer Szenarien nicht zurück, es kamen erste Sozialleistungen und sozialer Wohnungsbau. Der Mindestlohn stieg in Lulas zwei Amtszeiten um 65 Prozent, Millionen schafften den Sprung von der Armut in die untere Mittelschicht. Dilma Rousseff, seine Nachfolgerin, profitierte von seinen Erfolgen, gelangte wegen ihrer liberaleren Haltung allerdings auch in Misskredit bei den linken Bewegungen. Im Juni 2013 brach unter ihrer Präsidentschaft eine breite Protestwelle aus, die Brasilien zuletzt 1992, im Zuge des Amtsenthebungsverfahrens Fernando Collors, gesehen hatte. Die Kritik an den ständig steigenden Preisen für öffentlichen Nahverkehr wirkte wie ein Ventil, und schnell wurde die Unzufriedenheit über die hohen Ausgaben für WM und Olympische Spiele und die knappen Mittel für Gesundheit und Bildung laut sowie über Polizeigewalt und Korruption. Die Proteste schlugen wie ein Blitz ein und erreichten insgesamt eine hohe Zustimmung in der Bevölkerung. Ab Ende 2014 schlitterte Brasilien in eine schwere Rezession, begleitet von hoher Inflation und Arbeitslosigkeit, auch als Auswirkung einer weltweit getrübten wirtschaftlichen Stimmung. So war Dilmas Wiederwahl 2014 bereits knapp ausgefallen. Durch die Enthüllungen von Lava-Jato wurde klar, dass die Elite fast aller Parteien in Korruption verstrickt ist, und die Panama Papers schädigten vor allem die Konservativen, allen voran den Vorsitzenden des Abgeordnetenhauses Eduardo Cunha – also ausgerechnet den Mann, der an vorderster Front Dilma Rousseff mit dem Argument der Korruptionsbekämpfung absetzen wollte.