Читать книгу Fettnäpfchenführer Brasilien - Nina Büttner - Страница 20
LINDA VERLIERTSICH IMDSCHUNGEL DERNAMENS GEBUNG
ОглавлениеWARUM ES SELBST BEI DER ARBEIT NIESÜSS GENUG SEIN KANN
Linda tritt in ein unscheinbares weißes Haus mit der typischen dunklen Verglasung gegen die Sonneneinstrahlung. Im Inneren herrscht die bekannte Klimaanlagenkühle, doch empfangen werden sie und Marcelo herzlich von einer gut gelaunten Rezeptionistin – Mariana. Kurz darauf macht Marcelo sie mit der Spanischlehrerin Lucia aus Uruguay bekannt.
»Wie heißen Sie mit Nachnamen?«, möchte sich Linda höflich vergewissern und blickt in das erstaunte Gesicht der Lehrerin.
Beim Rundgang durch die Räumlichkeiten treffen sie den Englischlehrer, dessen Namen Milton (ist das jetzt ein Vor- oder ein Nachname?) Linda sich auch noch zu merken versucht. Im mittleren Saal, einer Art klimatisiertem Pausenhof, stehen ein Wasser- und ein Kaffeespender.
Marcelo zapft Linda einen cafezinho, ein Käffchen, in eines der winzigen Trinkhütchen aus Plastik, und nachdem sie sich erfolglos nach Milch und Zucker umgeschaut hat, leert sie ihren Kaffee, so wie sie ihn bekommen hat, in einem Schluck. Anstatt der erwarteten Bitterkeit bringt ihr eine Ladung Zucker einen Hustenanfall und ihren Zähnen regelrecht eine Gänsehaut, also, wenn das möglich wäre.
CAFEZINHO ODER: WIE TOTE ZUM LEBEN ERWECKT WERDEN
Kaffee aus Brasilien ist ein Exportschlager. Auch im Land selbst gibt es eine ausgeprägte Kaffeekultur, auch wenn Brasilianerinnen bei Weitem nicht an die in Deutschland gekippten Literzahlen pro Person und Jahr herankommen. Das liegt auch daran, dass ein Fingerhut brasilianisch gebrühten Kaffees in Koffeingehalt und Wirkung etwa einem Becher deutschen Filterkaffees entspricht. Wegen der kleinen Portionen wird der Kaffee verniedlichend cafezinho, Käffchen, genannt. Selbst Espresso, wie er in Deutschland serviert wird, würden eingefleischte brasilianische Kaffeegenießer noch abschätzig als chafé bezeichnen, als einen Kaffee (café), der so dünn ist wie Tee (chá).
Brasilianer sind nicht nur in puncto Temperament, sondern auch in kulinarischen Angelegenheiten keine Anhänger von Bitterkeit: Kaffee muss süß sein. Und um das dickflüssige Gebräu süß zu bekommen, muss man schon mal die Hälfte der Kanne mit Zucker auffüllen. Kaffee statt durch Zucker mit Milch abzumildern, gilt als eher exotische Idee der milchfarbenen Europäer. Es sei denn, Sie setzen sich im Shoppingcenter in eines der Cafés, die in Sachen Angebot den spanischen und italienischen Stil imitieren und eine Espressomaschine besitzen.
Das Geheimnis der Stärke des populären brasilianischen Kaffees, wie er an jedem Imbiss serviert wird, liegt nicht so sehr in der Brauart: In einem auswaschbaren Stofffilter wird großzügig Espressopulver mit wenig Wasser übergossen – Espressokocher sind weitgehend unbekannt. Es ist vor allem die kräftige Bohne, die Tote zum Leben erweckt.
Wenn sie selbst im Supermarkt vor der Wahl stehen, greifen Sie zu einer der beiden Kultmarken: Café brasileiro oder für ganz Hartgesottene Pilão – o café forte do Brasil – der starke Kaffee aus Brasilien.
Während unsere hustende Kaffeetrinkerin noch dabei ist, sich zu fangen, kommt ein Herr mittleren Alters in den Saal, wird von Marcelo sehr höflich begrüßt und Linda als einer ihrer zukünftigen Schüler vorgestellt: »Das ist Diegão, du wirst deine Freude an ihm haben. Diegão, das ist Linda, deine neue Lehrerin.«
»Linda, schöne Name, schöne Lehrerin!«, freut sich Diegão in fast korrektem Deutsch. Immer mehr Menschen bevölkern den Saal – es sind Lindas Schüler, die überpünktlich zum Unterricht erscheinen. Da hatte sie sich auf Unpünktlichkeit eingestellt ... aber, denkt sie weiter, die Pünktlichkeit ist nachvollziehbar, schließlich bezahlen die Lernenden nicht wenig Geld für ihren Unterricht an dieser fast luxuriösen privaten Sprachschule. Viel Zeit zum Grübeln bleibt ihr nicht, denn nun übernimmt Diegão die Regie und stellt sie allen anderen eintreffenden Schülern vor.
»Hier ist unsere neue Lehrerin Linda. Ja, sie heißt wirklich Linda und sie kommt direkt aus Deutschland zu uns! Linda, hier haben wir Ana Paula, eine große Geschäftsfrau.«
Er wartet, bis die beiden sich mit Küsschen begrüßt haben.
»Muito prazer« – Schön, dich kennenzulernen, sagt Ana Paula.
»Die beiden hier, die aussehen wie Deutsche, sind Italiener, die Brüder Mano und Edo.«
Linda begrüßt beide, ohne zu wissen, welcher nun welcher ist.
»Prazer em conhecê-la« – »prazer«, kommentieren die beiden die Vorstellung mit Varianten eines Satzes, der sich im Deutschen beträchtlich länger hinzieht: Es freut mich, Sie kennenzulernen.
VORSTELLUNG
Pausenlos wird man in Brasilien neuen Leuten vorgestellt. Das Ritual dazu ist nicht zu vernachlässigen. Ein typischer Dialog verläuft folgendermaßen:
»Quero te apresentar o Pedro« – Ich möchte dir Pedro vorstellen. Oder formeller: »Vou-lhe apresentar o Pedro.«
»Oi Pedro, prazer te conhecer. Tudo bom?« – Hallo Pedro, es freut mich, dich kennenzulernen. Wie geht es dir? Oder formeller: »Oi Pedro, prazer em conhecê-lo.«
»Prazer Linda, tudo bem. E você?« – Nett, dich kennenzulernen, Linda, mir geht es gut. Und dir? Oder einfach: »Prazer.«
»Und hier kommt die Schönste der Runde: Terezona, die Königin der Copacabana«, freut sich Diegão über eine sportliche, hoch gewachsene Frau mit langen schwarzen Haaren.
»Olha Linda, que lindo seu estilo, tão diferente« – Schau an Linda, was für einen schönen Stil du hast, so ganz anders, sagt Terezona eher zu den Umstehenden als zu Linda, die noch fast an Terezonas Wange hängt und gar nicht mehr versucht, alle Namen zu behalten.
Diegão ist schon beim Nächsten, der klein und schlaksig und mit mehreren Büchern unterm Arm hinter Terezona zum Vorschein kommt.
»Linda, das ist unser Philosoph João. Kleiner Mann, großer Denker.«
»Uma alemã de verdade, que legal« – Eine echte Deutsche, wie cool, begrüßt João Linda.
»Da kommen ja unseren Deutschen!«, eilt Diegão schon weiter zu drei Eintretenden, die aus einer Familie sein dürften, so ähnlich, wie sie sich sehen.
»Gertrude, unsere gute Deutsche aus Santa Catarina im Süden. Und ihre Töchter, die schönen Carolzinha und Renatinha.«
SPITZNAMEN: VERKLEINERUNG, VERGRÖSSERUNG
Kaum jemand entkommt dem apelido, dem Spitznamen. Besonders beliebt sind in Brasilien Verniedlichungen. Die Endung des Diminutivs, -inho /-inha, kennen wir von den Fußballstars: Ronaldinho heißt so viel wie Ronaldlein oder Ronaldchen. Bei besonders stattlichen Leuten wird die Vergrößerungsform verwendet, das -ão /-ona, das Diego verpasst bekommen hat. Ebenso Tereza, die eine mulherão ist, also eine Art Steigerung einer normalen Frau, und die daher Terezona genannt wird. Bei Frauen signalisiert die Vergrößerungsform eher eine hohe Attraktivität als kräftigen Körperbau.
Verniedlichungen sind in Brasilien so beliebt, dass sogar Adjektive verkleinert oder vergrößert werden können. In jedem Satz mindestens eine Sache zu verkleinern oder zu vergrößern, gehört zu den Freuden des Alltagsplausches. Nüchterne Geister und Verfechter der schnörkellosen Sprache lässt das zum Teil so erschöpft zurück wie der Zuckerschock durch einen cafezinho.
Gertrude schaut Linda ganz begeistert an: »Ela é linda, não é?« – Ist sie nicht schön?, fragt sie in die Runde. »Lehrerin, du bist sehr schön!«, wendet sie schon ihr erstes Deutsch an. Ihre Teenager-Töchter kichern etwas verlegen.
»Onde você está morando aqui no Rio?« – Wo wohnst du hier in Rio?, erkundigt sich Ana Paula.
»No Grajaú, lá na minha casa« – In Grajaú, bei mir zu Hause, antwortet Marcelo für Linda. Er lenkt die Gruppe langsam in einen der Klassenräume, sagt ein paar einführende Worte auf Portugiesisch, die Linda nicht versteht. Die Gruppe wird stiller und schließlich lässt Marcelo sie mit den Schülern allein. Herrje, was jetzt? Erst mal ein paar Fragen stellen, denkt sich Linda.
»Bitte erzählen Sie von sich. Wie heißen Sie, was ist Ihr Beruf und warum lernen Sie Deutsch? Senhor ... äh ... Diego, wollen Sie anfangen?«
»Menina, ainda não sou senhor, graças a Deus« – Mädchen, noch bin ich Gott sei Dank kein Herr, empört sich Diegão. Die Gruppe lacht. Und Linda weiß nicht, was zum Teufel er damit meint. Sie kann doch einen gut und gerne zwanzig Jahre älteren Herrn nicht duzen!
»Also, ich heiße Diego. Die Leute sagen Diegão zu mir, weil ...«, er deutet auf seinen imposanten Bauch, der sein Hemd zur Tischkante hinwölbt, und allgemeines Gelächter bricht los. »Ich mache Architektur. Habe Frau und drei Kinder, sehr hübsch. Ich komme aus Paraná. Mein Opa ist auch deutsch. Deutsch ist schwierig, ich mag das. Nicht wie Englisch, amerikanisch. Ist eine interessante Sprache.«
Als Nächstes ist Ana Paula an der Reihe: »Ich heiße Ana Paula, habe fünfunddreißig Jahre. Bin verheiratet und wohne in Ipanema. Arbeite in Automobilindustrie, mag deutsche Autos. Gehe in viele Länder. Oft nach Deutschland, deswegen will lernen Deutsch.«
Alle schweigen in großer Achtung. Einer der italienischen Brüder macht weiter: »Ich heiße Manoel, habe vierzig Jahre. Ich bin verheiratet. Mein Beruf ist Ingenieur. Alle Maschinen kommen aus Deutschland. Viel Physik und Ingenieure in Deutschland.«
»Wollen Maschinen in Deutschland kaufen, nicht erst Import. Ah, ich heiße Edoardo. Komme aus Barra da Tijuca«, stellt sich auch der zweite Bruder vor.
Nun wirft Terezona ihre Haare nach hinten und beginnt: »Hallo, ich heiße Tereza. Ich komme aus kleine Stadt in Ceará. Ich arbeite viel mit Touristen. Viele Deutsche. Es gibt sehr schöne Männer in Deutschland.«
Darauf scheinen alle nur gewartet zu haben, plappern los, und João muss abwarten, bis die letzten Neckereien im Raum verhallen: »Ich heiße João. Studiere Philosophie an die UF. Habe zweiundzwanzig Jahre. Ich will lesen auf Deutsch Hegel, Kant und Nietzsche. Deutsch ist Sprache von Philosophie.«
»Guten Tag, heiße Gertrude. Habe siebenundvierzig Jahre und zwei Töchter. Meine Familie ist deutsch, in meiner Stadt die Alten sprechen Deutsch. Wir wollen die Tradition nicht vergessen.«
»Ich heiße Carolina. Habe vierzehn Jahre. Ich mache Kurs mit meiner Mutter und Schwester.«
»Ich heiße Renata, habe sechzehn Jahre. Ich will unsere Kultur verstehen und reisen nach Deutschland.«
»Danke!« Linda ist ganz beeindruckt von so vielen guten Gründen, Deutsch zu lernen.
»Jetzt du, Lehrerin«, fordert Diegão sie auf. »Warum du bist nach Brasilien gekommen?«
»Also gut. Ich heiße Linda Krätschmann, bin fünfundzwanzig Jahre alt, studiere Deutsch auf Lehramt. Ich mag deutsche Literatur. Nach Brasilien bin ich gekommen, weil ich das Klima mag, Strand und Meer und Fußball.«
»Du magst Fußball?«, fragt Mano.
»Was magst du an deutscher Literatur?«, unterbricht ihn João.
»Hm, Heinrich von Kleist, Franz Kafka, Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann ...« sammelt Linda ihre Lieblinge zusammen, zumindest die, die sich in der Öffentlichkeit sehen lassen können.
»Kennst du brasilianische Literatur?«, erkundigt sich Diegão. Da kommt Linda etwas ins Schwitzen.
»Paulo Coelho nur ...« Die Gruppe lacht wieder.
»O Brasil ficou famoso pelos corpos, não pelas mentes« – Brasilien ist für seine Körper berühmt, nicht für den Verstand, resümiert Ana Paula.
Langsam entwickelt sich eine Diskussion in Kleingruppen, die Schüler fallen sich gegenseitig ins Wort und vor allem ins Portugiesische. Linda steht etwas hilflos da und schaut zu. Als sich das Gespräch von alleine nicht legt, schlägt sie mit ihrem Stift leicht auf den Tisch und sagt laut und bestimmt: »So, Leute, es geht weiter. Schlagt mal eure Bücher auf Seite dreiunddreißig auf.«
Augenblicklich kehrt Stille ein, alle Augen richten sich fasziniert auf Linda. Diegão macht den Schlag auf den Tisch mit dem Stift nach und unterstützt: »É assim que se faz« – Richtig so, »Lehrerin Linda!«.