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LINDA SPRINGTÜBER WELLEN

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WIE BRASILIEN ZU SILVESTERPLÖTZLICH ZU EINEM LAND DERREGELN WIRD

Linda hat jetzt schon fast drei Wochen in Brasilien hinter sich und genießt ihr bisher recht entspanntes Leben. Das Weihnachtsfest war überraschend alltäglich und unspektakulär. Und durch die sommerlichen Temperaturen kam sie so gar nicht in Weihnachtsstimmung. Sogar das befürchtete Heimweh blieb aus. Auf Weihnachten folgte eine eher zähe Zeit, aber jetzt endlich rückt Silvester näher. Sie hatte schon Befürchtungen, dass sie den Jahreswechsel zu Hause auf dem Sofa verbringen müsste, wie schon Heiligabend. Aber es kommt anders.

»Willst du nicht reveillon (Silvester) mit uns zusammen in Búzios verbringen? Wir haben da ein Ferienhaus, in das wir jedes Jahr fahren«, fragt Patrícia sie.

Nach einer kurzen Internetrecherche über Búzios willigt Linda ein. Brigitte Bardot hat sich in den Sechzigern im einstigen Fischerort Armação de Búzios im Osten Rios verliebt, hat Linda gelesen. Die Presse der halben Welt ist ihr dahin gefolgt, Búzios ist berühmt geworden und seitdem von Touristen überschwemmt.

Trotz der Menschenmenge, von der sie tatsächlich überall umgeben sind, findet Linda den Ort schön, er ist nicht so zugebaut wie Ipanema oder Copacabana. Zwei Tage hat sie in der Hängematte auf der Veranda des Ferienhauses gelegen, Schmuck eingekauft und sich gebräunt. Abends ist sie mit Patrícia, Marcelo, ihren Verwandten und Freunden Essen gegangen und hat sich durch alle Sorten Caipirinha probiert, die sie finden konnte: Maracuja, Mango, Guave, Erdbeere. In einer war anstatt des Zuckerrohrschnapses cachaça Wein. Wein mit Zucker und Limetten! Das dürfte sie ihren weinliebenden Eltern zu Hause gar nicht erzählen, das ist ja fast ein Verbrechen. Aber so schlimm hat es gar nicht geschmeckt, musste sie erstaunt feststellen. Die Restaurants in Búzios sind elegant, es wird seichter Bossa Nova gespielt, manchmal sogar live.

An dieses Leben könnte ich mich gewöhnen, denkt Linda. Als Bohemien in den Fischerdörfern in der Nähe Rios herumzuhängen, das hat doch was. Sie hat sich ein Büchlein über Bossa Nova gekauft und stellt sich in einem romantischen Anflug vor, wie die jungen Leute in den Sechzigern an diesen noch unberührten Stränden Gitarre spielten und dazu sangen.

VON BOSSA NOVA ZU MPB UND TROPICÁLIA

In den 50er-Jahren kam ein junger Mann aus Bahia nach Rio de Janeiro: João Gilberto. Er mischte sich unter eine Clique von Jugendlichen aus der Mittelschicht Copacabanas, die sich in den botecos (Straßencafés und -kneipen) und Wohnungen traf, um zusammen zu musizieren. Er präsentierte ihnen seinen neu entwickelten verzögerten Anschlag auf der Gitarre. Dazu gehört sein fast flüsternder Gesang, der sich elegant verzögert auf die Musik setzt und dabei alle Halbtöne mitnimmt, sodass es sich fast dissonant anhört. Die jungen Leute, darunter Roberto Menescal, Ronaldo Bôscoli, Nara Leão und Carlos Lyra, waren begeistert. Sie begannen auf Studentenpartys Lieder mit diesem »neuen Anschlag« (die wörtliche Übersetzung von Bossa Nova) zu spielen, woraufhin bei Studios und Plattenfirmen Interesse an dem neuen Stil geweckt wurde. Dem unbekannten João Gilberto gelang es, den schon etablierten Komponisten und Pianisten Antônio »Tom« Jobim und den berühmten Poeten und Sänger Vinícius de Moraes für Aufnahmen zu gewinnen. Ende der 50er-Jahre erschienen die ersten Bossa-Nova-Platten, größtenteils noch mit Orchesterbegleitung. Erst mit der Zeit setzte sich die Reduktion auf das virtuose Gitarrenspiel im Einklang mit den geflüsterten oder leise und ohne Vibrato gesungenen Texten durch – ein Stil von großer Intimität und Eleganz, der seinerseits wiederum den Jazz beeinflusste und ab den 80er-Jahren auch den internationalen Pop und Wave.

Wichtige Komponisten und Interpreten des Bossa Nova sind außer den bisher genannten: Baden Powell, João Donato, Elis Regina, Edu Lobo und Sérgio Mendes (der den Stil in den USA jazziger adaptiert und somit für das nordamerikanische Publikum zugänglicher gemacht hat). Bei Aufnahmen ist zu beachten, dass nicht jeder, der ein Lied singt, es auch geschrieben haben muss. In Brasilien ist das dann keine Coverversion, sondern eine Interpretation. Das wird als legitim und natürlich angesehen; das Urheberrecht wird nicht so ernst wie hierzulande genommen.

Bossa Nova hing ein bürgerliches Image an, zumal die Texte sich meist um Liebe drehten und nicht um die Probleme des Landes. 1964, als die Militärdiktatur an die Macht kam, war Nara Leão eine der Ersten, die daraus Konsequenzen zog, sich vom Bossa Nova distanzierte und volksnahe Protestlieder von Komponisten aus armen Verhältnissen aufnahm. Aus dieser Bewegung hin zum einfachen Volk entstand MPB (kurz für Música Popular Brasileira), unter deren Label versteckte politische Kritik möglich war. Die absolute Ikone des MPB ist Chico Buarque.

Eine andere musikalische Antwort auf das bürgerliche Image von Bossa Nova war Tropicália bzw. Tropicalismo. 1968 entstand diese brasilianische Hippie-Bewegung. Musik wie Auftreten der Musiker waren schrill und vom Rock ’n’ Roll beeinflusst. Die Bewegung wurde von Konservativen als »unbrasilianisch« kritisiert, und die Diktatur zwang viele Musiker ins Exil. Doch die in wenigen Jahren entstandenen Lieder von Os Mutantes, Gilberto Gil, Caetando Veloso, Tom Zé, Gal Costa, Jorge Ben, Jorge Mautner u. a. sind bis heute stilprägend, und einige der Künstler sind nach wie vor aktiv und erfolgreich.

Wie brasilianische Musik die ganze Welt erobert und verändert hat, erzählt der gelungene Dokumentarfilm Beyond Ipanema (2009, Regie: Guto Barra). Brasiliens Musiktradition spürt der finnische Regisseur Mika Kaurismäki in Moro no Brasil (I Live in Brazil, 2002) nach.

Für Silvester hat Linda sich extra schick gemacht, ihr langes, luftiges schwarzes Abendkleid angezogen und wartet nun gespannt darauf, was der Abend wohl bringen wird. Als auch der Rest der Familie aus den Bädern hervorkommt, muss Linda schlucken. Patrícia, Marcelo, deren Sohn Guilherme, dessen Frau Regina und auch Patrícias Eltern sind komplett in Weiß gekleidet! Die Verwunderung ist wohl auf beiden Seiten vorhanden, schauen doch alle so verstohlen auf Lindas schwarzes Kleid wie sie auf die uniform weiße Familie.

Dennoch zeigt Patrícia Bewunderung für Lindas Wahl: »Ai, que chique! Mas por que de preto?« – Oh, wie schick. Aber warum denn in Schwarz?

Linda zuckt nur mit den Schultern und denkt sich: Warum denn nicht?

Sogar im Fernsehen, wo eine Silvestergala ausgestrahlt wird, tragen alle weiße Kleider und Anzüge. Aus dem Redefluss des Moderators kann Linda ständig das Wort Brasil heraushören, ohne das Drumherum zu verstehen – die Familie scheint ihm Zustimmung zu zollen. Zur nächsten Werbeunterbrechung richtet sich Marcelo kerzengerade auf, hebt sein Bierglas in die Runde und verkündet überzeugt: »Ao melhor país do mundo!« – Auf das beste Land der Welt!

»Viva o Brasil!«, bestätigen die anderen lautstark und heben ihre Biergläser. Auch Linda macht mit, wenn auch etwas schüchtern. Sie kann die Begeisterung nur als bewusste Übertreibung deuten und sucht nach Anzeichen für Ironie. Marcelo stupst sie am Arm: »In fünf Jahren ist Brasilien das beste Land der Welt!«

Linda schaut ihn ungläubig an und wartet auf eine Erklärung.

»Das Problem in Brasilien ist nur die Korruption. Unsere Politiker sind alle korrupt. Das ist nicht so wie bei euch in Deutschland«, sagt er auf Englisch.

Linda ist einigermaßen erleichtert über die Anerkennung. Dann fährt Marcelo auf Portugiesisch fort, auf Linda einzureden. Die kann nur mit höchster Konzentration die Worte »Armut«, »Wirtschaft« und »Arbeit« heraushören.

Patrícias Vater schaltet sich ein: »In Brasilien gibt es keinen Krieg, kein Erdbeben und keinen Tsunami. Wir haben Wasser, Öl und Wald. Brasilien ist einfach wunderbar«.

Linda kann den Enthusiasmus des Dreiundsiebzigjährigen in dessen Augen sehen. In ihr drin brodelt es aber. Wie kann man bei einem derartigen Berg an Problemen so fanatisch sein? Was ist mit der Armut? In ihrer Irritation bringt sie nur ein »mas ...« (aber ...) heraus und wird auch gleich von den anderen unterbrochen und übertönt.

Irgendwann gibt sie auf. Sie spült die Argumente, die sie sich zurechtformuliert hat, mit dem letzten Schluck Bier hinunter.

Um halb zwölf machen sie sich alle zusammen auf an den Strand. Bewaffnet mit Sekt und Gläsern ist es wirklich ein schönes Gefühl, barfuß nachts über den Sand zu laufen. Wenn da nicht die tausend anderen Leute wären, die alle in die gleiche Richtung gehen. Um Mitternacht lassen sie die Korken knallen und umarmen und küssen sich. Linda fühlt sich als einziger Single in der Runde etwas fehl am Platz und trinkt ihr Glas Sekt dafür umso schneller. Gibt’s noch mehr? Regina, die Frau ihres Gastbruders, flüstert ihr zu: »Hey, Linda, welche Unterwäsche trägst du heute?« Dann kichert sie und ruft laut: »Vamos!«

Unterwäsche? Was für eine unverschämte Frage! Und vamos – wohin? Linda lässt Regina erst einmal vorlaufen und sieht ihr zu, wie sie anfängt, über Wellen zu springen. Was soll das denn? Ist sie jetzt zum Kleinkind mutiert? Patrícia deutet in Richtung Regina, und um keine Spielverderberin zu sein, schlendert Linda langsam hinterher und fängt lustlos an, über die Wellen zu hüpfen. Regina jauchzt ja geradezu, wie albern. Nach einer Weile kommen immer mehr Menschen und springen über Wellen, das ganze Meer ist voller hopsender Menschen, so scheint es Linda. Und dann, mit voller Wellenwucht, setzt der Spaß auch bei ihr endlich ein!

Fettnäpfchenführer Brasilien

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