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LINDA WILLDOCH NURALLES KORREKTMACHEN

WIE GAUNER ZU HELDEN WERDEN

Seit einer Woche arbeitet Linda nun in der Sprachschule und ist dabei, ihre Routine zu finden. Morgens um halb sieben steht sie auf, flucht etwas über diese Nation von Frühaufstehern, die zudem keine Siesta kennt – so hat sie sich das nicht vorgestellt in Südamerika –, trinkt ihren cafezinho und fährt mit ihrem Chef de carona (siehe Infokasten unten) von Grajaú nach Botafogo, wo die Sprachschule ihren Hauptsitz hat.

CARONA – DIE BRASILIANISCHE MITFAHRGELEGENHEIT

Eine Institution der brasilianischen Nächstenliebe: Du bist nicht mit dem Auto hier? Wir finden jemanden, der dich mitnimmt! Denn jede Brasilianerin kann nachvollziehen, wie mühsam die Fortbewegung im öffentlichen Nahverkehr ist, und auch das Zufußgehen kann bei über dreißig Grad zur Qual werden. Da Brasilien nun aber kein so reiches Land ist, dass jeder immer mit dem Auto unterwegs ist, kommt es häufig vor, dass man sich gegenseitig mitnimmt. Nicht so geregelt und anonym wie bei Uber oder blablacar, aber eben doch auch nicht ganz so unverbindlich, wie man in Deutschland zu Freunden sagt: Ich nehme dich ein Stück mit. Denn die carona ist eine soziale Institution. Wer in Ruhe mit jemandem sprechen will, gibt der Person eine carona. Im Auto kann man nicht unterbrochen werden, man ist unter sich und bei Verlegenheit unterhält man sich über das, was am Fenster vorbeizieht, oder macht das Radio an und spricht über Musik. Schweigeminuten hingegen gelten als schlimmstmögliches Szenario einer carona.

Ein paar typische Beispielsätze rund um die carona

 »Vim de carona.« – Ich wurde (im Auto) mitgenommen.

 »Quer uma carona?« – Willst du bei mir mitfahren?

 »Pode me dar uma carona?« – Kannst du mich (im Auto) mitnehmen?

 »Vou pegar uma carona.« – Ich fahre per Mitfahrgelegenheit.

Wenn Linda und Marcelo im morgendlichen Stau stehen, die Sonne schon anfängt zu brennen und das Treiben um sie herum das Gegenteil der Eintönigkeit ist, die sie auf dem grauen Weg zur Uni in Deutschland verspürt, dann schleicht sich so langsam die Vorfreude auf ihre Unterrichtsstunden ein. Sie hat inzwischen alle ihre Klassen kennengelernt und sogar ein paar Privatschüler. Und alle, aber auch ausnahmslos alle, sind ausgesprochen nett zu ihr, neugierig auf ihre Geschichten aus Deutschland, machen den Unterricht mit Freude mit und versuchen ihr das Leben leichter zu machen: Sie holen ihr ein Glas Wasser, suchen selbst nach Grammatikerklärungen im Internet, die sie allen ausdrucken, und wer Englisch kann, übersetzt, wenn Linda mal etwas nicht versteht.

So verläuft auch dieser Freitag zwischen Unterrichtsstunden, Plauschen mit den Schülern und Mittagessen mit den Kollegen. Nach ihrer letzten Stunde ruft Mariana, die Rezeptionistin, sie ins Zimmer des Chefs: »Linda, o Marcelo está querendo falar com você.« – Linda, Marcelo will mit dir sprechen.

Linda hofft, dass es um ihren Vertrag geht, denn bis jetzt hat sie noch immer keinen unterschrieben. Nachdem Marcelo keine Anstalten gemacht hat, ihr einen aufzusetzen, hat sie nachgefragt, und er hat versprochen, sich darum zu kümmern.

Er empfängt sie freundlich: »Linda, senta aí« – Setz dich, Linda. »Wie läuft der Unterricht?«

»Gut, denke ich. Manchmal verstehe ich die Schüler allerdings nicht ganz genau. Und im Lehrbuch sind ein paar Fehler, und viele Grammatikregeln sind gar nicht erklärt ...«

»Ich glaube, du kommst gut zurecht, die Schüler mögen dich«, würgt sie Marcelo ab. »Du hast mich daran erinnert, dass du noch keinen Vertrag hast. Ich habe mich mal erkundigt«, dabei zieht er einen etwa fünf Zentimeter hohen Papierstapel aus einer Schublade, »das sind die Unterlagen, die ich ausfüllen müsste, um dich legal zu beschäftigen. Ich muss beweisen, dass kein brasilianischer Staatsbürger deinen Job übernehmen könnte. Wir dürfen erst Ausländer einstellen, wenn wir nachweisen können, dass sich hier niemand mit den entsprechenden Qualifikationen findet.«

»Aber das dürfte doch nicht so schwierig sein bei einem Job als Deutschlehrerin.«

»Es geht. Also schau mal, ich möchte dir etwas vorschlagen. A gente vai dar um jeito« – Wir lösen das. Marcelo schaut Linda ernst und irgendwie konspirativ an: »Du bist nur drei Monate hier. Wollen wir das für die Zeit nicht einfach unter uns regeln? Du bekommst jeden Monat deinen Lohn, musst keine Steuern zahlen, und wir zahlen dir sogar ein dreizehntes Monatsgehalt. Alles so, wie es die anderen Lehrer auch bekommen.«

Linda stutzt: »Wie bekomme ich denn dann das Geld?«

»Mariana wird dir an jedem Monatsende einen Umschlag geben. Immer pünktlich und alles korrekt. Sie führt ja Buch über deine Stunden.«

Linda schaut Marcelo ungläubig an. Sie denkt an Lohntüten und Arbeiter aus einer verlorenen Zeit, die sich nach einem Monat harter Grubenarbeit in der Eckkneipe die Kante geben. Und sie denkt an all die kursierenden Vorurteile über unehrliche Südamerikaner, über gewitzte Bauernfänger, die seriös daherkommen und naive Deutsche übers Ohr hauen.

»Ähm, ich weiß nicht ...«

Dann schwenkt sie um und erinnert sich daran, dass sie bei Marcelo wohnt und sich daher doch wohl immerhin darauf verlassen kann, dass er sie bezahlt – selbst wenn sie dann mit einem Briefumschlag voller Geld durch den Monat kommen muss und wahrscheinlich anfangen wird, wie ihre Urgroßmutter das Geld unterm Kopfkissen zu verstecken.

»Ja, na gut, wenn du meinst, das ist okay so für eure Buchhaltung ...« Marcelo atmet erleichtert aus.

»Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Solche Dinge regeln wir doch einfacher unter uns, was brauchen wir da all die Dokumente. Brasilien ist berühmt für seine Bürokratie, wusstest du das? Ja, ihr Deutschen habt die vielleicht erfunden, aber unsere Beamten haben sie perfektioniert.«

Beide lachen, Marcelo begleitet Linda hinaus und schärft Mariana in gedämpftem Tonfall ein, Linda am Ende des Monats immer einen Briefumschlag zu geben. Zu Linda gewandt fügt er hinzu: »Das bleibt unter uns, nicht wahr?«

Linda nickt und fühlt sich sehr abenteuerlustig, ja geradezu verwegen.

Was ist diesmal schiefgelaufen?

Marcelo hat die Luft angehalten, als Linda plötzlich so lange überlegte. Er weiß ja, dass Deutsche gerne Gesetze befolgen, aber so schwerfällig hatte er sich Linda nun doch wieder nicht vorgestellt. Schon den Smalltalk hat sie nicht beherrscht. Da fragt er aus Höflichkeit, wie der Unterricht so läuft, und sie will ihn gleich mit Problemen behelligen. Wenn er sie fragte, wie es ihr geht, würde sie womöglich anfangen, von den Verdauungsschwierigkeiten, die ihr das brasilianische Essen bereitet, zu berichten! Zu ehrlich für diese Welt, die Deutschen. Mit einer Brasilianerin hätte er gleich Witze über den Staat, die Regierung, über Beamte und dieses ganze miserable Land machen können, bei Linda dagegen musste Marcelo sein ganzes gestisches, mimisches und sprachliches Geschick auffahren, um sie zu überzeugen. Das Mädchen kennt einfach den jeitinho brasileiro nicht!

JEITINHO BRASILEIRO

Er ist der Mythos des Zusammenlebens in Brasilien, das ungeschriebene Gesetz, das stärker ist als alle geschriebenen. Es drückt eine äußerst distanzierte Haltung zur Obrigkeit aus: Die da oben sind eher da, um uns zu schröpfen, als um uns zu helfen. Eine Haltung, die sich vielleicht aus den Millionen von Sklavenleben entwickelt hat – denn auch wenn sie Tatkraft und Optimismus suggeriert, nach dem Motto »wir finden schon einen Weg«, ist sie doch die Einstellung geübter Verlierer und Lebenskünstler. Regierung und Verwaltung waren jahrhundertelang nicht den Sklaven und allgemein nicht der armen Bevölkerung verpflichtet, sondern Instrumente der herrschenden Klasse. Daraus hat sich das Misstrauen gegenüber der Obrigkeit entwickelt; man regelt Dinge lieber unter sich, als womöglich korrupten staatlichen Stellen Einfluss zu überlassen.

Wenn sich die Schwierigkeiten des Alltags vor einem auftürmen, wenn man vom Staat schikaniert wird oder kaum genug zum Überleben hat, dann muss man eben den jeitinho haben, der wörtlich übersetzt »Art- und Weischen« heißt. Man findet also eine Art und Weise, mit Dingen umzugehen und ans Ziel zu gelangen, die vom offiziellen Weg abweicht. Brasilianerinnen empfinden das nicht als illegal, nur weil es nicht legal ist. Nein, sie sind sogar stolz, wenn sie einen besonders kühnen oder selten begangenen Weg finden. Im engeren Sinne spricht man von jeitinho, wenn zwei oder mehr Personen sich zu Ungunsten des Staates untereinander einigen – da ist die Korruption nicht weit. Doch jeitinho ist so geläufig, dass man auch einfach in Situationen der Improvisation davon spricht: Heute Abend ist eine Party und wir haben weder genug Stühle noch eine Kühltruhe noch einen Catering-Service organisiert? A gente vai dar um jeito – wir regeln das schon.

Da sich Brasilianer der Fähigkeit rühmen, auch ohne Vorbereitung immer noch etwas zu zaubern, und dabei von Planung und Organisation nichts wissen wollen, ist der jeitinho vielen Menschen – auch mancher Brasilianerin – ein Graus. Ihnen gilt er als fortschrittshemmend. Wer nicht gegen die bestehenden Verhältnisse protestiert, kann nichts verändern, und wer nicht plant, kommt im Leben nicht weiter, so die Argumentation dieser eher europäisch und nordamerikanisch geschulten brasilianischen Denker. Diese neue Einstellung zum jeitinho spiegelt die Veränderungen wider, die in Brasilien gerade passieren: Seit etwa zwanzig Jahren können sich überhaupt erst Einsatz und Planung lohnen, die Inflation frisst nicht sofort alles auf, was man sich erarbeitet hat. Da wird es spannend, ob die gaunerhafte, verschwörerische Haltung aller Autorität gegenüber noch lange als nationale Tugend betrachtet werden wird.

Was können Sie besser machen?

Gegen den jeitinho brasileiro kommt keine dahergelaufene Ausländerin an – warum auch, er hat schon seine bequemen Seiten. Da können Sie ruhig entspannt reagieren; Sie als Außenstehender werden das System sowieso nicht ändern können. Und das Schöne am jeitinho ist schließlich, dass beide Seiten davon profitieren. Wenn Sie einmal mit brasilianischer Bürokratie in Kontakt gekommen sind, werden Sie wie Marcelo darauf bedacht sein, sie in nächster Zeit zu umgehen.

Wichtiger noch als das Annehmen des Angebots an sich, ist, wie Sie es annehmen. Berufliche Kontakte in Brasilien wirken auf uns, als wären sie sehr freundschaftlich – das müssen sie nicht unbedingt sein, aber man tut zumindest so. Smalltalk ist also unabdingbar, kein netter Zusatz, sondern Organisationsbasis und Versicherung des Zusammenhalts. Machen Sie ihre Kollegen nicht nervös durch auffälliges Schweigen. Plappern Sie lieber ein bisschen zu viel als zu wenig, sei es im Auto auf dem Beifahrersitz oder im Gespräch mit Ihrem Vorgesetzten, der Rezeptionistin oder Ihren Kollegen. Dabei ist nur Positives als Gesprächsthema erwünscht, es sei denn, sie regen sich über sehr ferne Dinge oder Obrigkeiten auf wie die Politiker in Brasília. Antworten Sie daher auf Fragen nach Ihrem Befinden oder ihren Erlebnissen wenn nicht mit Begeisterung, so doch mit einer positiven Grundhaltung und verlieren Sie sich nicht in allzu langen Negativ-Ausführungen.

Fettnäpfchenführer Brasilien

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