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Sinfonie des Lebens
ОглавлениеWie schafft es das Herz eigentlich, mal langsam, mal schneller, aber immer in der richtigen Abfolge zu schlagen? Wir wären ja heillos überfordert, wenn wir das bewusst koordinieren müssten, und zwar tagtäglich und mindestens 70 Mal in der Minute.
Das Herz hat für diese Aufgabe einen kompetenten Dirigenten engagiert: den Sinusknoten. Dirigenten, die sagen, wo’s langgeht, gibt es ja nicht nur in Orchestern, sondern in vielen Lebensbereichen: Der Finger, der gegen den ersten Dominostein schnippt, löst eine gut choreografierte Kettenreaktion aus. Die Fankurve im Stadion löst die La-Ola-Welle aus, die dann durchs ganze Stadionrund schwappt. Und auch auf dem Spielfeld selbst löst der Dirigent oft mit einem Pass eine koordinierte Bewegung seiner Mitspieler aus, die im Idealfall bis zum Torerfolg führt. Wie auch immer man sich diesen Vorgang am besten verdeutlichen möchte – am Herzen läuft es ganz ähnlich ab. Aber bleiben wir doch beim Bild des Orchesters: Hier befindet sich der Dirigent im rechten Vorhof und besteht aus spezialisierten Herzmuskelzellen. Dieses Grüppchen gibt den Takt vor. Statt einen altmodischen Taktstock zu schwingen, arbeitet der Herz-Dirigent allerdings ganz modern: mit Strom. Spannung und Strom entstehen im Körper mithilfe von elektrisch geladenen Teilchen (Ionen), die durch Kanäle in Zellen hineinströmen oder wieder hinaus. Bewegte geladene Teilchen sind ja nichts anderes als Strom.
Beim Sinusknoten spielen die Natriumionen eine besondere Rolle: Zuerst fangen die Kanäle im Sinusknoten ganz langsam an, die Natriumteilchen hineinzulassen. Sobald eine bestimmte Spannung erreicht ist, geht es schnell: Die ganze Zelle ist aktiv, viele Ionen strömen plötzlich und lösen so die Muskelarbeit aus. Die Musik setzt mit einigen zarten Violinen ein: Zuerst erreicht das Signal des Sinusknotens die Vorhöfe, die sich zusammenziehen und das Blut in die Herzkammern drücken. Diese Phase zählt noch zur Diastole, zur Entspannungsphase, weil die großen Kammern ja gerade relaxt sind. Damit die Vorhöfe genug Zeit für ihren Teil des Jobs haben, ist hier ein Zwischenstopp eingebaut. Für einen kurzen Moment hört das gesamte Orchester gebannt den Streichern, also in unserem Beispiel eben den Vorhöfen zu.
Der sogenannte AV-Knoten verzögert die Stromweiterleitung an den Rest des Herzens. Erst nach dieser kurzen Verzögerung (während der die Vorhöfe das Füllen der Kammern in Ruhe abschließen können) breitet sich das Signal über die Herzkammern aus. Drei dicke Kabel leiten den Strom weiter: Eines läuft über die rechte Kammer, zwei über die linke. Jetzt hat das Signal des Dirigenten auch die hinteren Reihen des Orchesters, also die Kammern erreicht – und die kurze Sinfonie endet schließlich mit einem Paukenschlag: Die Kammern pressen das Blut in die Hauptschlagader.
In den neunziger Jahren haben Kardiologen des Rey Lab in Boston, Massachusetts, die Sinfonie des Herzens tatsächlich in Musikstücke übersetzt. »Heartsongs« nannten sie das Projekt – Herzlieder. Auch die waren für diesen Abschnitt Inspiration. Die Ärzte zeichneten etwa einen Tag lang die Herzströme von Menschen kontinuierlich mit tragbaren EKG-Geräten auf. Anschließend ließen sie einen Computer die Zeitabstände zwischen den rund 100 000 täglichen Herzschlägen messen. Damit nicht jede Einzelaktivität wie etwa das Überwinden einer Treppe die Musik beeinflusste, fassten sie jeweils 300 dieser Intervalle zu einem Wert zusammen. Die Werte legten sie, vereinfacht gesagt, ihrer Größe entsprechend auf ein Notenblatt. Einige der Kompositionen klingen abwechslungsreich und beschwingt, andere dagegen eintönig und fahl. Die variantenreichere Musik stammte von gesunden Herzen, die wenig variierende von erkrankten. Was als Spielerei – oder Kunst – erscheint, bekräftigt damit eine wissenschaftliche Erkenntnis: Dass das Herz je nach Anforderung mal schnell und mal langsam schlägt, ist vollkommen normal und gesund. Sorgen bereiten uns Ärzten vielmehr Herzen, denen diese natürliche Veränderlichkeit abhandengekommen ist. Ein Herz, das die ganze Zeit stur mit 80 auf der mittleren Spur entlangtuckert wie ein Rentner mit Hut, macht dem Arzt eher Sorgen als ein Herz vom Typ »dynamischer Fahrer«, der je nach Verkehrslage mal vorsichtig und bremsbereit ganz rechts fährt und mal mit 140 überholt.